DOI : https://doi.org/10.57161/z2023-04-00
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 29, 04/2023
Im März 2023 hielt ich einen Workshop an einem Symposium zum Thema Digitale Lehrmittel. An Ethik hatte ich im Vorfeld nicht gedacht. Doch ich wurde eines Besseren belehrt. Ich weiss, dass Kriterien von neuen barrierefreien digitalen Lehr- und Lernmitteln ( Lanners, 2020 ) bei Lehrmittelverlagen zwar umstritten, aber zukunftweisend sind. Ich weiss auch, dass die Schweiz den Vertrag von Marrakesch über die Erleichterung des Zugangs zu veröffentlichten Werken für Menschen mit Seh- oder Lesebehinderungen im Jahr 2020 ratifiziert hat. Der Corona-Lockdown hat zudem die Notwendigkeit der Barrierefreiheit von digitalen Lehrmitteln gezeigt. So wollte ich in meinem Workshop die Vorteile des Universal Designs for Learning (UDL, vgl. dazu auch Meier-Popa & Salamin, 2020 ) für alle Schüler:innen hervorheben. Die ungefilterte und massive Kritik von den Teilnehmenden meines Workshops gegenüber der Barrierefreiheit von neuen digitalen Lehrmitteln ( Lanners et al., 2022 ) hat mich kalt erwischt: Musik könne für Schüler:innen mit einer Hörbeeinträchtigung nicht zugänglich gemacht werden. Lernende mit einer kognitiven Beeinträchtigung würden nie die Feinheiten von literarischen Werken verstehen können. Hier habe ich einmal leer geschluckt. Ansonsten schlagfertig fehlten mir die Worte, als das Argument in die Diskussion geworfen wurde, dass Schüler:innen mit einer kognitiven Beeinträchtigung trotz aller möglichen Vereinfachungen nie die komplexen Hintergründe des Zweiten Weltkriegs verstehen würden. Ich gehe zwar davon aus, dass diese Aussage nicht eugenisch gemeint war. Trotzdem zeugt diese, wenn auch unglückliche Formulierung einer Geschichtsdidaktikerin, von einer erschreckenden Unkenntnis des Nationalsozialismus.
Anfang Herbst 1939 hat Adolf Hitler im Rahmen der «geheimen Reichssache» der Euthanasie von Kindern und Erwachsenen (Aktion T4, «Vernichtung lebensunwerten Lebens») die Ärzteschaft beauftragt, unheilbar Kranken den «Gnadentod» zu gewähren ( Nuremberg Trials Project, 2020 ). Neben fünf anderen zentralisierten Tötungsanstalten wurden in Grafeneck , das knapp zweieinhalb Stunden Autofahrt von Zürich entfernt liegt, innerhalb eines Jahres beinahe 10 000 Menschen mit einer Beeinträchtigung umgebracht (Stöckle, 2020) [1] . Sie wurden aus Heimen der Umgebung in grauen Bussen mit milchigen Fenstern nach Grafeneck gefahren. Dort haben ihnen die Ärzte mitgeteilt, dass sie aus hygienischen Gründen zuerst duschen müssen. Im hermetischen Duschraum wurden sie mit Kohlenmonoxid erstickt. Die sterblichen Überreste wurden in eigens dafür errichteten Öfen verbrannt. Den Eltern wurde mitgeteilt, ihr Kind sei an einer schweren Krankheit verstorben und bereits bestattet worden. Es war der erste Massenmord der Nationalsozialisten.
Diese historische Entwicklung dürfen wir nie vergessen: Auch Menschen mit einer Beeinträchtigung haben ein Recht auf einen Zugang zur Bildung, unabhängig ob analog oder digital. Und Ethik ist heute wie gestern eine Frage der Menschenwürde.
Dr. Romain Lanners Direktor SZH/CSPS |
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Stöckle, T. (2020). Grafeneck 1940: «Euthanasie»-Verbrechen in Südwestdeutschland. Silberburg. ↑