DOI: https://doi.org/10.57161/z2025-06-00
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 31, 06/2025
Diesen Frühling las ich Agota Lavoyers Buch Jede_ Frau, das letztes Jahr erschienen ist. Die Autorin ist Expertin für sexualisierte Gewalt und zeigt in ihrer Publikation, auf welche Weise und wie tief sexualisierte Gewalt in unserer Gesellschaft verankert ist. Die Lektüre verlangte mir einiges ab. Zwischendurch musste ich immer wieder Pausen einlegen, um den Inhalt zu verdauen – und gerade deshalb war es eines der wichtigsten Bücher, das ich in den vergangenen Jahren gelesen habe. Lavoyer argumentiert, dass grundsätzlich alle Menschen in ihrem Leben von sexualisierter Gewalt betroffen sein können. Frauen und speziell Frauen mit Behinderungen sind jedoch einem erhöhten Risiko ausgesetzt, sexualisierte Gewalt zu erfahren: «Besonders stark betroffen sind Frauen im Allgemeinen und im Spezifischen trans Frauen, obdachlose Frauen, Sexarbeiterinnen, Frauen mit Behinderungen, dicke Frauen, Frauen mit Psychiatrieerfahrung sowie Schwarze Frauen und Frauen of Color, […] migrierte Frauen und geflüchtete Frauen.»[1]
Auch der Bundesrat hat im Bericht «Gewalt an Menschen mit Behinderungen in der Schweiz» aus dem Jahr 2023 festgehalten, dass das Risiko, Gewalt zu erfahren, laut internationalen Studien für Frauen und Mädchen mit Behinderungen erhöht ist. Um Menschen mit Behinderungen allgemein stärker vor Gewalt zu schützen, stellt der Bericht Massnahmen vor, die in der Zuständigkeit des Bundes liegen, und er formuliert Empfehlungen zuhanden der Kantone und der Zivilgesellschaft. Unter anderem sollen zukünftige Präventionskampagnen gegen Gewalt auch spezifisch Menschen mit Behinderungen berücksichtigen (vgl. Empfehlung 6). Zudem sollen Beratungs- und Schutzangebote für gewaltbetroffene Menschen mit Behinderungen zugänglicher gemacht werden (vgl. Empfehlung 8).
Der rechtliche Grundstein für entsprechende Massnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention ist in der Schweiz gelegt. Sie hat im Jahr 2014 die Behindertenrechtskonvention (BRK) ratifiziert. Diese sieht unter anderem vor, dass Menschen mit Behinderungen vor Gewalt geschützt werden (vgl. Artikel 16). Ausserdem ist die Schweiz im Jahr 2017 der Istanbul-Konvention beigetreten (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt). Damit hat sie sich dazu verpflichtet, Massnahmen zu ergreifen, um gegen geschlechtsspezifische und häusliche Gewalt vorzugehen und diese zu verhindern.
Gewaltprävention und Gewaltschutz sind nur ein Bereich des Themenschwerpunktes dieser Ausgabe. Die beteiligten Autor:innen nehmen ein breites Spektrum an Perspektiven auf das Thema «Prävention und Gesundheitsförderung» ein. Sie beschäftigen sich in ihren Beiträgen mit der körperlichen, sexuellen und mentalen Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.
Damaris Gut Wissenschaftliche Mitarbeiterin SZH/CSPS |
Lavoyer, A. (2024). Jede_ Frau. Über eine Gesellschaft, die sexualisierte Gewalt verharmlost und normalisiert. Yes Publishing, S. 7f. ↑