Entspannte Aufmerksamkeit, sichere Bindung und emotionale Konstanz
Zusammenfassung
Ein Kind gewinnt emotionale Stabilität, wenn es seine frühkindlichen sozio-emotionalen Entwicklungsaufgaben hinreichend meistert. Damit besitzt es auch eine gute Basis für den anstehenden Bildungsprozess. Der Erwerb einer sicheren Bindung und die Überwindung des Symbiose-Autonomie-Konflikts führen zur Entwicklung der emotionalen Konstanz. Diese wiederum befähigt das Kind zur gelösten Aufmerksamkeit, die es benötigt, um sich angstfrei mit Bildungsangeboten auseinanderzusetzen. Diesem Gedankengang folgend, wird zuerst Gerald Hüthers Konzept der gelösten Aufmerksamkeit, sodann die Bedeutung einer sicheren Bindung (Bowlby und Nachfolger) und schliesslich der Symbiose-Autonomie-Konflikt und seine Lösung (Mahler, Kaplan) erläutert.
Résumé
Un enfant gagne en stabilité émotionnelle lorsqu'il franchit de manière satisfaisante les étapes de développement socio-émotionnel de la petite enfance. Il dispose ainsi d'une bonne base pour le processus d’apprentissage à venir. L'acquisition d'un attachement sécure et le dépassement du conflit symbiose-autonomie conduisent au développement de la constance émotionnelle. Celle-ci permet à l'enfant de bénéficier d'une attention détachée, nécessaire pour aborder sans crainte les opportunités éducatives. En suivant ce raisonnement, le concept d'attention détachée de Gerald Hüther, puis l'importance d'un attachement sécure (Bowlby et ses successeurs) et enfin le conflit symbiose-autonomie et sa résolution (Mahler, Kaplan) seront exposés.
Keywords: frühes Lernen, sozial-emotionale Entwicklung, soziale Interaktion, Bindung / apprentissage précoce, développement socio-émotionnel, interaction sociale, attachement
DOI: https://doi.org/10.57161/z2025-04-01
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 31, 04/2025
Bildung bezeichnet den Prozess und das Resultat, sich reale und geistige Welt möglichst differenziert anzueignen und zu verarbeiten. Sie umfasst also den Erwerb von Wissen und Kompetenzen, die Formung von Einstellungen und Haltungen, die moralische Orientierung sowie die Fähigkeit zu differenziertem und kreativem Selbstausdruck. Im Idealfall führt sie zu einer zusammenhängenden Lebenssicht und einem stimmigen Lebensstil als Basis, um soziale Beziehungen und die gesamte Lebenswelt angemessen zu gestalten.
Bildung in diesem Sinne bedarf zunächst einmal einer offenen, aufnahmebereiten Haltung, mit der das Kind der Welt begegnet und sich mit ihr auseinandersetzt. Damit ein Kind sich bilden kann, muss es also in der Lage sein, sich dem Bildungsangebot zu öffnen, es aufzunehmen, sich anzueignen und an ihm seelisch und geistig zu wachsen. Denn der Mensch ist im Bildungsprozess stets aktiv und passiv, gestaltend und empfangend. Ob dieser Prozess der Einverleibung und Verdauung gelingt, hängt in erster Linie ab von einer altersadäquaten psychischen Strukturiertheit und der emotionalen Stabilität des Kindes. Denn Letztere bewirkt die entspannte beziehungsweise gelöste Aufmerksamkeit und somit die Offenheit gegenüber Bildungsmöglichkeiten.
Nach Gerald Hüther zeigt sich Aufnahmebereitschaft in gelöster Aufmerksamkeit (Gebauer & Hüther, 2002). Sie lässt sich beschreiben als ein Zustand, in dem das Kind entspannt und ruhig bei sich ist. Zugleich wendet es sich wach dem Geschehen in der Umwelt zu, ist also offen und empfangsbereit. Offenheit stellt sich ein, wenn keine Bedrohung Anlass bietet, die persönlichen Grenzen zu schliessen und zu bewachen, wenn Vertrauen und Angstfreiheit herrschen. Dann kann sich Neugier entfalten, welche die Offenheit wiederum verstärkt.
Angstfreiheit äussert sich als Entspannung, als Gelöstheit und emotionale Ruhe. Denn bei einem Menschen steigen das Erregungsniveau und die Anspannung, wenn er Angst hat. Um sich zu schützen, setzt er – in zumeist etwas abgemilderter Form – noch aus dem Tierreich stammende Verhaltensmuster ein: Er flieht, greift an, wehrt sich oder erstarrt, das heisst, er stellt sich gleichsam tot.
Angst ist also keine gute Lehrmeisterin: Entweder blockiert sie Lernprozesse, führt also gleichsam zur Erstarrung. Man kann sich die vorgegebenen Handlungsabläufe oder Gedächtnisinhalte einfach nicht merken, so sehr man sich auch bemüht. Oder man lernt das Geforderte, geht also in die Auseinandersetzung. Doch wird der Lerninhalt stets mit dem Gefühl der Angst assoziiert bleiben. Der Wunsch, das Wiederaufbrechen dieser Angst zu vermeiden, verhindert dann oft eine weitere Auseinandersetzung mit dem entsprechenden Lerninhalt (Flucht). Aussagen im späteren Leben wie: «Ich kann keine Mathematik. Schon als Kind konnte ich nicht rechnen», gründen häufig in Angst besetzten Lernerfahrungen.
Will man Kindern ihre natürliche Lernfreude erhalten, so ist es wichtig, für Angstfreiheit zu sorgen. Denn mit der schwindenden Angst löst sich die Spannung. Ruhe und Offenheit kehren zurück. Die Neugierde sorgt nun für die Wachheit, für den Impuls, sich mit der wahrgenommenen Umwelt auseinanderzusetzen. Reizvolle Angebote können die Neugier erhöhen, aber nur, wenn es gelingt, dem Kind zum gelösten Kontakt zu verhelfen. Die gelöste, freie Hinwendung des Bewusstseins nach aussen soll durch die entspannte, ruhige Zentriertheit ergänzt werden. Denn die aufgenommenen Inhalte sollen ja verinnerlicht, in die eigene Person eingegliedert werden. Dieser Prozess gelingt nur, wenn das Kind sich nicht im Aussen, in der Offenheit permanenter Aufnahme verliert, sondern zugleich auch bei sich bleibt. Es ruht in sich, konzentriert sich und gewährt damit der Integration seiner Wahrnehmungen und Erfahrungen Raum und Zeit.
Ein bildlicher Vergleich mag das Gemeinte verdeutlichen: Um ein Haus zu bauen (als Bild für die eigene Persönlichkeit), müssen Bausteine, Balken und alle anderen notwendigen Rohstoffe herbeigeschafft werden (das entspricht der Offenheit gegenüber den angebotenen Inhalten). Doch dürfen sich die Aktivitäten des Architekten nicht im Besorgen von möglichst grossen Mengen möglichst vielfältiger, kostspieliger und aussergewöhnlicher Materialien erschöpfen. Er muss sich auch damit beschäftigen, wie das Gesamtbild am Ende aussehen soll, welche Materialien dafür sinnvollerweise wie eingesetzt werden und wie der Zusammenbau vonstattengehen soll. Er muss gleichsam zu sich kommen beziehungsweise bei sich sein. Nur wenn er seine Aktivitäten in beide Richtungen lenkt, entsteht ein gelungenes Haus.
Nun ereignet sich Bildung nicht als solch rational geplanter und überwachter, zielgerichteter Vorgang. Dennoch erfolgt Lernen als rhythmischer Prozess in der polaren Spannung von aussen und innen, von Aufnahme und Verarbeitung, von empfänglicher Tätigkeit und aktiver Ruhe. Dies ist der Rhythmus, den das Gehirn braucht, um seine Leistungsfähigkeit bestmöglich zu entfalten. Die entspannte Aktivität nach aussen und nach innen erst führt dazu, dass Wahrnehmungsinhalte gespeichert, vielschichtig verarbeitet und vernetzt werden. Nur so ereignet sich eine ausgewogene und untereinander zusammenhängende Ausdifferenzierung von Denken, Fühlen, moralischer Bewertung, Willen und kreativer Handlungskompetenz (Gebauer & Hüther, 2022).
Angstfreie Offenheit, Neugier und entspannte, ruhige Konzentration bilden also die psychische Ausgangs- oder vielmehr Eingangsbedingungen für gelingendes Lernen und damit für Bildung, und zwar in jedem Lebensalter. Menschen, die kindliche Bildungsvorgänge unterstützen wollen, sollten folglich zuerst ihr Augenmerk auf die psychische Verfassung des Kindes richten und herausfinden, wie sie ihm zur gewünschten emotionalen Balance verhelfen können.
Folgendes Beispiel aus dem Kindergarten soll das Gemeinte verdeutlichen. Auf dem Tisch liegen viele bunte Papierbögen und glitzernde Glückssymbole, mit denen die Kinder eine Geburtstagspostkarte gestalten können. Die fünfjährige Anna bastelt ihre Karte konzentriert und planvoll. Sie lässt sich nicht von der Fülle der angebotenen Materialien verführen, sondern wählt sorgfältig einige Symbole und klebt sie gezielt auf den Karton. Man spürt, dass sie eine Vorstellung besitzt und umsetzt – ganz anders die gleichaltrige Claudia. Claudia folgt ihrem Drang, möglichst viele Glitzersymbole zu erhaschen, und klebt sie wahllos übereinander. Sie wirkt gierig, innerlich angespannt und getrieben, nicht angemessen aufgabenorientiert. Ihre Urteilsfähigkeit («Was sieht wirklich schön aus?») wird von ihrem triebhaften Alles-haben-Wollen getrübt. Ihr Drang wird verständlich, wenn man ihren schwierigen familiären Hintergrund betrachtet. Bei ihr zu Hause herrscht ein unruhig-angespanntes Familienklima. Claudia erfährt wenig herzliche Zuwendung und hat wohl deshalb ständig das Gefühl, zu kurz zu kommen, obwohl sie mit Spielsachen geradezu überschüttet wird. Doch der materielle Reichtum stillt ihren emotionalen Hunger nicht. Mit dem gierigen Verhalten drückt Claudia genau diese Mangelerfahrung aus, die auch verhindert, dass sie die notwendige Balance findet zwischen aussen und innen, zwischen Aufnahme und gestaltender Verarbeitung.
Vielfältige Bedingungen tragen dazu bei, dass sich ein kleines Kind mit gelöster, konzentrierter Aufnahmebereitschaft der Welt zuwenden kann. Die wichtigste von ihnen ist das Urvertrauen, von Erik H. Eriksson im Jahr 1973 beschrieben, beziehungsweise die von John Bowlby (1975, 1976) erforschte sichere Bindung an eine Bezugsperson. Sie ermöglicht dem Kind, seine Autonomie im Rahmen der sozialen Gebundenheit zu entfalten.
Was ist unter sicherer Bindung zu verstehen? Ein sicher gebundenes Kind weiss aus tief gegründeter Erfahrung, dass es in jedweder Notsituation – immer, wenn es sich bedroht fühlt, Angst hat oder einen Mangel empfindet – Schutz, Verständnis und Hilfe bei seiner Bezugsperson findet. Deshalb sucht es in solchen Situationen ihre trost- und hilfreiche Nähe auf, wogegen es sich sonst aktiv und autonom der Welt zuwendet. Die Bindung an die Bezugsperson(-en) bildet sich im ersten Lebensjahr, stabilisiert und differenziert sich jedoch während der gesamten Kindheit. Welche Qualität die Bindung gewinnt, hängt von den frühen Beziehungserfahrungen ab, die der Säugling macht. Bezugspersonen, die seine unterschiedlichen Ausdrucksweisen aufmerksam wahrnehmen, zutreffend deuten und schnell und angemessen darauf reagieren, ermöglichen ihm, sich sicher zu binden (Bowlby 1975, 1976).
Woran erkennt man ein sicher gebundenes Kind (Senckel, 2003)? Im Kindergartenalter zeigen sicher gebundene Kinder ein adäquates Sozialverhalten und sie lösen Konflikte selbstständig. Beim Spielen entwickeln sie Fantasie und Ausdauer, sie zeigen positive Affekte und sind erfindungsreich und tolerant. Wenn sie verloren haben, strengen sie sich in der nächsten Runde mehr an. Unlösbare Aufgaben versuchen sie zunächst selbst zu bewältigen. Gelingt ihnen das nicht, holen sie sich Hilfe. Zwiespältige Situationen interpretieren sie tendenziell realistisch. Sicher gebundene Kinder besitzen eine hohe emotionale Stabilität. Diese erlaubt es ihnen zugleich, altersangemessene Formen der Autonomie und des Sozialverhaltens zu entwickeln, ihre kognitiven und kreativen Potentiale zu entfalten und ihre Kompetenzen optimal einzusetzen. Die sichere Bindung erweist sich als beste Grundlage für eine gesunde, harmonische Persönlichkeitsentfaltung und Weltbewältigung, mithin auch für den angestrebten Bildungsprozess (Senckel, 2003).
Fehlt dem Kind die Erfahrung der mütterlichen Feinfühligkeit, so gelingt es ihm nicht, sich sicher zu binden. Wird es in einem Bedürfnis, das es sich nicht selbst erfüllen kann, zu häufig zurückgewiesen, so wird es sich wahrscheinlich unsicher-vermeidend binden. Ein inkonsistenter Kommunikationsstil der wichtigsten Bezugsperson führt oftmals zu einer unsicher-ambivalenten Bindung, besonders wenn das Kind ein ‹schwieriges Temperament› aufweist. Kommen zum inkonsistenten Kommunikationsstil noch traumatisierende Beziehungserfahrungen, etwa Vernachlässigung oder Gewalt, so ist ein chaotisch-desorganisierter Bindungsstil zu erwarten (Senckel, 2003). Unsicher-vermeidend gebundene Kinder verhalten sich bei Konflikten aggressiv oder ängstlich, gehen ihnen aus dem Weg oder holen die Erzieher:innen zu Hilfe. Bei Überforderung im Spiel geben sie schneller verärgert auf, mehrdeutige Situationen interpretieren sie eher aggressiv. Unsicher-ambivalent gebundene Kinder ähneln in ihren Reaktionen den unsicher-vermeidend gebundenen. Den unsicher und desorganisiert gebundenen Kindern mangelt es mehr oder minder an diesem grundlegenden Vertrauen zu sich selbst und in soziale Beziehungen. Deshalb scheint ihre soziale Wahrnehmung getrübt und ihnen fehlen konstruktive Bewältigungsmechanismen. Wenn ihnen ein Vorhaben nicht auf Anhieb befriedigend gelingt und zum erwünschten Ergebnis führt, zeigen sie meist wenig Frustrationstoleranz. Sie reagieren entweder impulsiv und aggressiv oder ziehen sich enttäuscht und ängstlich zurück. In beiden Fällen verharren sie in vertrauten Verhaltensmustern, die ihnen Sicherheit gewähren. Sie verweigern sich unbekannten Herausforderungen. Ihrer vielleicht kurz aufflammenden Neugier fehlt das Durchhaltevermögen. Das kurzfristige Interesse erlahmt schnell, was sich verhängnisvoll auf ihre Konzentrationsfähigkeit und Lernmotivation – ihren Wunsch, Zusammenhänge zu verstehen, zu behalten und zu erinnern – auswirkt. Damit fehlen jedoch dem kindlichen Gehirn die notwendigen Anregungen, um sich optimal zu entwickeln. Die Basis für den zukünftigen Bildungsprozess bleibt schmal. Solche Kinder sind also oftmals in ihrer Lernbereitschaft beeinträchtigt und insgesamt gefährdet, psychische Störungen zu entwickeln (ebd.).
Eine sichere Bindung und das dadurch erworbene Urvertrauen hingegen erleichtern dem Kind nicht nur den Weg in eine reiche Erfahrungswelt, sondern auch die Integration seiner Erlebnisse und damit zugleich die Ausdifferenzierung einer seinem Alter entsprechenden psychischen Struktur. Die psychische Struktur eines Kindes kennzeichnet seine emotionale Reife und erweist sich damit ebenfalls als bedeutsame Voraussetzung für den gelingenden Bildungsprozess.
Mit drei Jahren sollte das Kind ein gesundes Urvertrauen und ein altersangemessenes Selbstwertgefühl aufgebaut und vor allen Dingen die grösste Verzweiflung des Symbiose-Autonomie-Konfliktes überwunden haben (Mahler et al., 1980). Der Symbiose-Autonomie-Konflikt bricht im Kind mit etwa eineinhalb Jahren auf. In diesem Alter hat es durch seine wachsenden Fähigkeiten (Laufen, Sprechen, Erforschen der Umwelt, Ausprobieren der Funktionen vieler Dinge) und Erfolge einen zunehmenden Stolz auf seine Selbstständigkeit ausgebildet. Lob und Stolz der Erwachsenen haben es zudem in seinem Grossartigkeitsgefühl unterstützt und damit sein Selbstwertgefühl sowie den gesunden Drang nach Selbstbestimmung gefördert. Doch erfährt das Kind ebenfalls Verbote sowie die Grenzen des eigenen Könnens. Diese machen ihm seine relative Ohnmacht und Abhängigkeit ebenso bewusst wie sie ihm die Tatsache vor Augen führen, dass sein Wille mit dem der Erwachsenen häufig nicht übereinstimmt, dass es also emotional von ihnen unterschieden, getrennt ist. Diese Erfahrung löst in ihm Wut aus über die unvollkommene Welt. Es hat Angst, seine Autonomie zu verlieren, wenn es sich anpasst, oder verlassen zu werden, wenn es auf seinem Willen beharrt. Beides empfindet es als unerträglich. Verzweifelt reagiert es mit Wutausbrüchen, Trotzanfällen, denn noch kann es nur in Entweder-oder-Kategorien denken und empfinden (Mahler et al., 1980; Kaplan, 1983).
Damit das bald dreijährige Kind erleben kann, dass die Welt und Beziehungen nicht nach einem starren, ausschliessenden Prinzip des Gegensatzes funktionieren, braucht es eine ausgewogene Erziehungshaltung. Die Bezugspersonen sollten Regeln, um Gefahren zu vermeiden, konsequent durchsetzen. Im sonstigen Alltag ist es wichtig, dass sie im Konfliktfall ihre Reaktionen anpassen an die kindliche Verfassung (z. B. Müdigkeit, Abschiedsschmerz, gerade erlebte Enttäuschung) oder an die Besonderheiten der Situation (Reizüberflutung, Ausflug, Geburtstag). Je nach Situation kann es sinnvoll sein, eine Alternative anzubieten, dem kindlichen Wunsch nachzugeben oder seine Erfüllung zu einem späteren Zeitpunkt zu versprechen. Es kann aber auch sinnvoll sein, den Konflikt mit dem Kind gemeinsam durchzustehen. In diesem Fall ist es unerlässlich, dass die Bezugsperson bereit zur Versöhnung ist, sobald sich das Kind beruhigt hat und Nähe wieder zulässt. Insgesamt muss das Kind eine klare Grundhaltung erleben, die es emotional nachvollziehen kann und die nicht von der Lust und Laune der Bezugsperson geprägt ist. So wird es allmählich begreifen, dass zu stabilen Beziehungen ein Kompromiss gehört, bei dem jeder etwas nachgibt und sich Positionen wandeln können. Das Kind erlebt, dass es teilweise autonom sein darf und dafür geliebt wird, dass es sich aber auch teilweise einfügen muss in vorgegebene Bedingungen und daran nicht zerbricht. Ausserdem erfährt es, dass sich die ebenfalls ersehnte harmonische Gemeinschaft einstellen kann, wenn es seinen Widerstand aufgibt. Es spürt ferner, dass die gegensätzlichsten und widersprüchlichsten Gefühle zu ihm gehören und gehören dürfen, und dass dasselbe auch für alle anderen Menschen gilt. Es merkt, dass so wichtige Beziehungen wie zu den Eltern nicht durch unterschiedliche Wünsche, aggressive Gefühle und das Ringen um Selbstbehauptung zerbrechen, sondern dass Konflikte überwindbar sind. Allerdings erlebt es auch, dass manche Grenzüberschreitungen nicht geduldet werden und zeitweilig das Wohlwollen der Bezugsperson gefährden (Kaplan, 1983).
Das Zusammenspiel dieser Erfahrungen verhilft dem Kind zu einem Vertrauen, welches ihm allmählich ermöglicht, sich anzupassen, wenn es gefordert wird. Es lernt, Freiräume zur kreativen Selbstentfaltung zu nutzen. Es hat damit die drängendste Notwendigkeit zu trotzen überwunden und die Grundlagen der emotionalen Konstanz erworben. Das heisst, Gefühle wie Wut, Angst, Trauer und Freude überfordern es nicht mehr, sondern bewegen sich in einem emotional verkraftbaren Rahmen. Zugleich gewinnt sein Selbstwertgefühl einen realistischeren Boden: Das Kind meint nicht mehr, alles zu können, sondern lernt ansatzweise, seine Fähigkeiten sachgerecht einzuschätzen. Seine sozialen Fähigkeiten wachsen. Es beginnt, den Menschen, die ihm wichtig sind, etwas zuliebe zu tun und dabei eigene Interessen hintanzustellen. Es ahnt, dass man seine eigenen Gefühle auch steuern kann. Seine Frustrationstoleranz nimmt zu und seine Verlassenheitsangst lässt nach. Die sichere Bindung hat sich durch die Bewährung im Symbiose-Autonomie-Konflikt weiterhin gefestigt, sodass das Kind nun zu einem weiteren Schritt der Loslösung bereit ist. Andere Menschen, insbesondere Kinder, wecken sein Interesse. Das Kind ist reif, sich auf neue Bezugspersonen einzulassen, sich nach deren Vorgaben in eine Gemeinschaft einzufügen und sich einen erweiterten Horizont spielerisch zu erschliessen. Es ist bildungsoffen (Kaplan, 1983).
Pädagogische Fachkräfte können als ergänzende Bezugspersonen Kindern helfen, bildungsoffen zu werden, wenn sie ihre besondere Aufmerksamkeit auf die kindlichen Beziehungsbedürfnisse richten. Das bedeutet konkret:
Dr. phil. Barbara Senckel Freiberufliche Dozentin |
Bowlby, J. (1975). Bindung: Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung. Kindler.
Bowlby, J. (1976). Trennung: Psychische Schäden als Folge der Trennung von Mutter und Kind. Kindler.
Erikson, E. H. (1973). Identität und Lebenszyklus. Suhrkamp.
Gebauer, K. & Hüther, G. (2002). Kinder brauchen Wurzeln. Neue Perspektiven für eine gelingende Entwicklung. Walter.
Kaplan, L. (1983). Die zweite Geburt. Die ersten Lebensjahre des Kindes. Piper.
Mahler, M., Pine, F. & Bergman, A. (1980). Die psychische Geburt des Menschen. Symbiose und Individuation. Fischer.
Senckel, B. (2003). Entwicklungspsychologische Aspekte bei Menschen mit geistiger Behinderung. In D. Irblich & W. Stahl (Hrsg.), Menschen mit geistiger Behinderung (S. 71–147). Hogrefe.