Masche für Masche – Wie Bindungen und Beziehungen wachsen

Silvia Schnyder

DOI: https://doi.org/10.57161/z2025-04-00

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 31, 04/2025

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Die Harvard Study of Adult Development untersucht seit 1938 das Glück und Wohlbefinden von etwa 2000 Menschen über 80 Jahre hinweg. Ziel der Untersuchung ist es, herauszufinden, welche Faktoren das Glücksempfinden beeinflussen. Obwohl äussere Umstände wie die sozioökonomische Situation oder der Gesundheitszustand eine Rolle spielen, identifizieren die Forscher:innen robuste soziale Beziehungen und das Gefühl von Verbindung als entscheidende Glücksfaktoren. In ihrem Buch «The Good Life» betonen die Studienleiter Robert Waldinger und Marc Schulz, dass gute Beziehungen die Schlüssel zu Gesundheit, Glück und einem langen Leben sind. Materielle Dinge und beruflicher Erfolg sind hingegen weniger bedeutsam.

Bindung und Beziehung – zwei Begriffe, die eng miteinander verwoben, aber dennoch nicht gleichbedeutend sind. Während die Bindung vor allem die emotionale Sicherheit beschreibt, die ein Kind in der Beziehung zu einer engen Bezugsperson erfährt, ist der Begriff der Beziehung umfassender. Er beinhaltet verschiedenste Formen zwischenmenschlicher Verbindungen – von freundschaftlichen bis zu familiären – und kann sowohl positive als auch belastende Komponenten in sich tragen.

Gerade in den ersten Lebensjahren ist eine sichere Bindung für Kinder essenziell. Sie bietet ihnen Schutz in unsicheren Momenten, hilft dabei, Ängste zu bewältigen und Emotionen zu regulieren. Gleichzeitig schafft sie die Grundlage für soziale Kompetenzen und Freude an gemeinsamer Erfahrung. Entsteht diese Bindung, ist sie geprägt durch das Bedürfnis des Kindes nach Nähe und Sicherheit sowie durch das fürsorgliche, emotional zugewandte Verhalten der Eltern.

Im heilpädagogischen Bereich gerät dieses natürliche Wechselspiel zwischen kindlichen Bedürfnissen und elterlicher Fürsorge jedoch oft unter Druck. Aufseiten der Kinder mit Entwicklungsverzögerungen oder Behinderungen erschweren eine eingeschränkte Wahrnehmung, geringe Mobilität und verminderte Kommunikationsfähigkeit den Aufbau einer stabilen, entwicklungsförderlichen Beziehung. Gleichzeitig sind Eltern in besonderem Masse gefordert – durch den zusätzlichen Zeit- und Pflegeaufwand, durch Sorgen um ihr Kind und durch die emotionale Last, die damit einhergeht. Häufig empfinden Eltern ambivalente Gefühle: Angst, dem Kind nicht gerecht zu werden, Erschöpfung oder sogar Ärger, gefolgt von Schuldgefühlen. Diese Emotionen beeinflussen die Eltern-Kind-Beziehung nachhaltig, hemmen intuitive Reaktionen und erschweren eine feinfühlige Interaktion. So kann das Zusammenspiel zwischen Eltern und Kind ins Wanken geraten – gerade in Momenten, in denen es besonders wichtig wäre.

In der frühen Bildung geht es deshalb nicht nur um die Bereitstellung stimulierender Umgebungen, sondern vor allem um Beziehungsarbeit. Fachpersonen der Heilpädagogischen Früherziehung spielen hierbei eine zentrale Rolle: Sie unterstützen Eltern darin, ihre eigenen Ressourcen zu entdecken, stärken ihre Interaktionskompetenz und begleiten sie einfühlsam durch den oft schwierigen Alltag. Ziel ist es, die Eltern-Kind-Beziehung zu stabilisieren – denn sie ist der Schlüssel für die emotionale und soziale Entwicklung des Kindes.

Silvia Schnyder

Wissenschaftliche Mitarbeiterin

SZH/CSPS

silvia.schnyder@szh.ch