Zusammenfassung
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden in der Schweiz Säuglinge nicht selten aus sozialen und rechtlichen Gründen in Heimen untergebracht. Diese Kinder erhielten zwar eine gute körperliche Pflege, litten jedoch aufgrund mangelnder Zuwendung und Anregung unter psychosozialer Deprivation und zeigten diverse Entwicklungsverzögerungen. Auch 60 Jahre später können Auswirkungen dieser Bedingungen auf die Gesundheit, die kognitiven Fähigkeiten und sogar auf die Lebenserwartung nachgewiesen werden. Solche Befunde betonen, wie bedeutend vertraute und verfügbare Bezugspersonen sowie ein anregendes Umfeld in der frühen Kindheit für ein gesundes, glückliches und langes Leben sind.
Résumé
Durant la première moitié du 20e siècle, il n'était pas rare en Suisse que des nourrissons soient placés dans des institutions pour des raisons sociales et juridiques. Ces enfants recevaient certes de bons soins physiques, mais souffraient de privation psychosociale et présentaient divers retards de développement en raison du manque d'attention et de stimulation. Soixante ans plus tard, les effets de ces pratiques sur la santé, les capacités cognitives et même l'espérance de vie peuvent encore être démontrés. Ces résultats soulignent l'importance d'avoir des personnes de confiance et disponibles ainsi qu'un environnement stimulant dans la petite enfance pour une vie saine, heureuse et longue.
Keywords: Fremdunterbringung eines Kindes, Heim, Betreuung, Frühes Lernen, soziale Interaktion, sozial-emotionale Entwicklung, Bindung / placement d'enfant, foyer, prise en charge, apprentissage précoce, interaction sociale, développement socio-émotionnel, attachement
DOI: https://doi.org/10.57161/z2025-04-07
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 31, 04/2025
In der Schweiz war es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchaus üblich, Kleinkinder in Heimen unterzubringen (Ryffel, 2013). Die häufigsten Gründe für eine solche Platzierung lagen entweder im Ledigenstatus oder in der Minderjährigkeit der Mutter oder im Status der Eltern als Gastarbeiter:innen (Meierhofer & Keller, 1974). Behörden und die Gesellschaft betrachteten junge, unverheiratete Mütter, die ein Kind zur Welt brachten, als «liederlich». Deshalb mussten die Mütter die Erziehungsaufgabe unmittelbar nach der Geburt an den Staat übergeben (Lengwiler & Praz, 2018). Gastarbeiter:innen unterlagen strengen aufenthaltsrechtlichen Vorgaben. Sie erhielten eine Aufenthaltsbewilligung nur bei nachgewiesener Vollzeittätigkeit, was viele von ihnen zwang, ihre Kinder in einem Heim betreuen zu lassen (D’Amato, 2012; Joris, 2012).
Bis in die späten 1960er-Jahre wurde ein Säugling als einfaches, reflexgesteuertes Wesen betrachtet (Meierhofer, 1958). Man war davon überzeugt, dass ein Kind streng erzogen werden müsse, um ein funktionierendes Mitglied der Gesellschaft zu werden (Gebhardt, 2009). Disziplin, Ordnung und wenig Körperkontakt waren zentrale Prinzipien der Hygiene-Bewegung des 19. Jahrhunderts, die wesentlich dazu beitrug, die Säuglingssterblichkeit zu senken. Betreuungspersonen in Heimen und das Pflegepersonal in Kinderspitälern setzten die daraus abgeleiteten Hygieneregeln besonders strikt um (Jenni, 2022). Dies führte dazu, dass diese Kinder isoliert wurden. Betreuungspersonen beschränkten den Kontakt auf das absolut Notwendige und fütterten die Kinder nach strikten Zeitplänen. Die Betreuungspraxis war geprägt von starren Routinen, die kaum auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder eingingen. Zudem herrschte die Ansicht, dass es den Säuglingen nicht schade, wenn fremde und häufig wechselnde Betreuungspersonen sie versorgten. Obwohl die körperliche und medizinische Versorgung in den Heimen gewährleistet war, führten diese Umstände zu chronischer psychosozialer Deprivation: Die Kinder erhielten weder die erforderliche zwischenmenschliche Zuwendung noch eine angemessene Stimulation oder Förderung (Meierhofer & Hüttenmoser, 1975).
Dr. Marie Meierhofer (1909–1998) war eine bedeutende Schweizer Kinderärztin und Kinderpsychiaterin. Zwischen 1948 und 1952 war sie als Stadtärztin von Zürich tätig. Im Jahr 1957 gründete sie das Institut für Psychohygiene im Kindesalter, das seit dem Jahr 1978 als Marie Meierhofer Institut für das Kind bekannt ist.
Ab dem Jahr 1958 führte Meierhofer eine populationsbasierte Studie durch. Über einen Zeitraum von 16 Monaten wurde der Entwicklungs- und Gesundheitszustand aller 431 Kinder untersucht, die in den zwölf Säuglingsheimen der Stadt Zürich untergebracht waren. Zum Zeitpunkt der Erhebung waren die Kinder zwischen wenigen Monaten und drei Jahren alt. Dabei dokumentierte Meierhofer Gesundheitsdaten wie Gewicht, Ess- und Schlafverhalten der Kinder. Zur Bewertung des Entwicklungsstandes setzte sie standardisierte Tests ein, wie zum Beispiel den Brunet-Lézine-Entwicklungstest (Brunet & Lézine, 1951). Darüber hinaus erfasste sie Daten zu den Lebensbedingungen, Routinen und Praktiken in den Heimen sowie Informationen über die familiären Hintergründe der Kinder. Diese Daten verglich sie mit den Ergebnissen der Zürcher Longitudinalstudien (ZLS), die seit dem Jahr 1954 am Universitäts-Kinderspital Zürich durchgeführt werden (Wehrle et al., 2021). Die ZLS umfassen drei Kohortenstudien mit über 1000 Kindern, die in Familien aufwuchsen. Untersucht werden deren Wachstum, Gesundheit und Entwicklung von der Geburt bis ins junge Erwachsenenalter. Ziel der ZLS ist es, verschiedene Aspekte der kindlichen Entwicklung detailliert zu beschreiben und individuelle Entwicklungsverläufe besser zu verstehen.
Meierhofers frühe Studienergebnisse bestätigten: Die Kinder in den Säuglingsheimen waren körperlich gut versorgt (Ernährung, Hygiene, medizinische Betreuung), verbrachten jedoch den Grossteil des Tages in ihren Bettchen und hatten durchschnittlich weniger als eine Stunde Interaktionszeit mit einer erwachsenen Person. Meierhofer konnte insbesondere zeigen, dass die Kinder als Konsequenz dieser ungünstigen Lebensbedingungen Entwicklungsverzögerungen in allen Bereichen aufwiesen: der körperlichen, grob- und feinmotorischen, sprachlichen und sozialen Entwicklung. Neue Auswertungen der Daten von Meierhofer mit modernen statistischen Methoden zeigen ausserdem, dass die negativen Auswirkungen umso grösser waren, je länger die Heimplatzierung dauerte. Zudem entwickelten sich Kinder mit regelmässigem Kontakt mit den Eltern besser als Kinder mit unregelmässigem oder gar keinem Familienkontakt (Sand et al., 2024a).
Im Rahmen der Studie «Lebensgeschichten» des Nationalen Forschungsprogrammes 76 «Fürsorge und Zwang» wurden alle Personen, die an Meierhofers Untersuchung sowie an den ZLS teilgenommen hatten, zwischen 2019 und 2022 erneut gesucht. Von diesen 431 Personen wurden insgesamt 349 gefunden und 267 kontaktiert. 82 Personen konnten aus verschiedenen Gründen nicht kontaktiert werden: Einige Studienteilnehmende beispielsweise waren bereits verstorben oder es wurde eine frühe Adoption vermutet, die durch die Kontaktaufnahme nicht aufgedeckt werden sollte. An der Nachuntersuchung nahmen schliesslich 132 Personen teil. Die Studienteilnehmenden waren bei dieser Erhebung etwa 60 Jahre alt. Ziel dieser Untersuchung war es, das Leben der ehemaligen Heimkinder zu dokumentieren und 60 Jahre später mit den Erfahrungen derjenigen Kinder zu vergleichen, die in Familien aufwuchsen und Teil der ZLS am Kinderspital sind.
Die Nachuntersuchung setzte sich aus Fragebögen, Interviews und neuropsychologischen Tests zusammen. Sie erhob umfassende Daten zu Gesundheit, sozio-ökonomischen Faktoren, kognitiven Fähigkeiten und Lebensverläufen. Ergänzend dazu wurden biografisch-narrative Interviews geführt, um einen vertieften Einblick in die individuellen Lebensgeschichten zu erhalten.
Die Studie konnte Folgendes zeigen: Personen, die in den 1950er-Jahren in einem Säuglingsheim platziert waren und unter psychosozialer Deprivation litten, hatten durchschnittlich geringere kognitive Fähigkeiten, schlechtere sozio-ökonomische Indikatoren (Ausbildung und Einkommen) sowie eine stärker belastete physische und psychische Gesundheit als die Vergleichsgruppe aus den ZLS. Die ehemaligen Heimkinder hatten im Verlauf ihres Lebens auch eine etwa anderthalb- bis zweifach erhöhte Sterblichkeit, was statistisch vergleichbar ist mit den Auswirkungen von Rauchen.
In den Interviews zeigte sich, dass sich die Lebenswege der Teilnehmer:innen in vielerlei Hinsicht unterschiedlich entwickelten: Viele der ehemaligen Heimkinder berichteten, dass sie noch immer unter den Erlebnissen von damals leiden. Sie schilderten Herausforderungen in sozialen Beziehungen, teilweise bedingt durch Misstrauen und emotionale Distanz. Manche erzählten von Schwierigkeiten, als Eltern Wärme und Zuneigung ihren Kindern gegenüber zu empfinden. Andere wiederum beschrieben sich im Erwachsenenalter als glückliche Menschen, denen es gelungen war, ihre eigenen Vorstellungen von einem erfüllten Leben zu verwirklichen.
Die ersten Lebensjahre sind von entscheidender Bedeutung für die langfristige Gesundheit und Entwicklung von Kindern. Insbesondere enge soziale Beziehungen, vorhandene Selbstkompetenzen und die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit erwiesen sich in der Studie als zentral für die fortlaufende Bewältigung von Herausforderungen und als wichtige Resilienzfaktoren. Eine vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierte Folgestudie untersucht aktuell die Auswirkungen der Platzierungen auf die nächste Generation.
Auch wenn sich die Bedingungen in den Heimen in der Schweiz seit der Untersuchung von Marie Meierhofer grundlegend verändert haben, bleibt eine wichtige Erkenntnis aus ihrer Forschung bestehen: Eine wesentliche Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung von Kindern ist die Präsenz verlässlicher, vertrauter und verfügbarer Bezugspersonen, die den Kindern ein liebevolles, unterstützendes und anregendes Umfeld bieten und dies in jedem Kontext, in dem sich junge Kinder befinden.
PD Dr. habil. Patricia Lannen Institutionsleitung Marie Meierhofer Institut für das Kind | Prof. Dr. Fabio Sticca Professor für Diagnostik und Förderung sozio-emotionaler und psychomotorischer Entwicklung Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Marie Meierhofer Institut für das Kind | Dr. phil. Hannah Sand Advanced Lecturer Institut für Sprache und Kommunikation Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Marie Meierhofer Institut für das Kind | Prof. Dr. med. Oskar Jenni Co-Abteilungsleiter Entwicklungspädiatrie Ausserordentlicher Professor für Entwicklungspädiatrie, Universität Zürich Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin Universitäts-Kinderspital Zürich |
Brunet, O. & Lézine, I. (1951). Le développement psychologique de la première enfance. Presses Universitaires de France.
D’Amato, G. (2012). Die durchleuchtete, unsichtbare Arbeitskraft. Die italienische Einwanderung in die Schweiz in den 50er Jahren. In T. Pfunder (Hrsg.), Schöner leben, mehr haben. Die 50er Jahre in der Schweiz im Geiste des Konsums (S. 237–252). Limmat.
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Wehrle, F. M., Caflisch, J., Eichelberger, D. A., Haller, G., Latal, B., Largo, R. H., Kakebeeke, T. H. & Jenni, O. G. (2021). The Importance of Childhood for Adult Health and Development – Study Protocol of the Zurich Longitudinal Studies. Frontiers in Human Neuroscience, 14 (612453), 1–23. https://doi.org/10.3389/fnhum.2020.612453