Der Low Arousal-Ansatz im multiprofessionellen Team im Schulalltag
Zusammenfassung
Der pädagogische Low Arousal-Ansatz geht von einem deeskalierenden und wertschätzenden Umgang mit herausforderndem Verhalten aus. Mit seiner spezifischen Grundhaltung, seinen Prinzipien und Methoden wird Schüler:innen anstatt mit Bestrafung und Schimpfen ein Ausweg aus eskalierenden Situationen angeboten. Zudem wird nach einem angemessenen Stress- und Erregungszustand der Schüler:innen gestrebt, um Partizipation und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Schüler:innen beziehungsweise im Team zu ermöglichen.
Résumé
L'approche pédagogique Low-Arousal (l’approche du faible niveau d’excitation) prône la désescalade et le respect lors de difficultés de comportement. Grâce à son attitude, ses principes et ses méthodes spécifiques, cette approche offre aux élèves, lors de situations d'escalade, une autre issue que les punitions et la réprimande. En outre, l’approche faible excitation vise à maintenir un état de stress et d'excitation mesuré chez les élèves afin de permettre la participation et une collaboration en toute confiance avec les pairs ou au sein de l'équipe.
Keywords: Verhaltensauffälligkeit, Stress, Kommunikation, Kooperation, Prävention / trouble du comportement, stress, communication, coopération, prévention
DOI: https://doi.org/10.57161/z2025-03-02
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 31, 03/2025
Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen Menschen sind anspruchsvoll und generieren deshalb immer wieder Herausforderungen. Besonders dann, wenn wir mit Menschen zusammenarbeiten, die die Welt anders erleben, sich anders ausdrücken und in den Interaktionen mit anderen oft andere Bedürfnisse haben als die uns bekannten. Wir können uns machtlos fühlen, wenn ein Schüler seinen Kopf gegen die Wand schlägt oder sich ganz in sich selbst zurückzieht. Wir sind verängstigt, wenn uns eine Schülerin anschreit und anspuckt, oder vielleicht wütend, wenn dieselbe Schülerin andere Kinder kneift oder um sich schlägt. Im pädagogischen Low Arousal-Ansatz verstehen wir herausforderndes Verhalten einerseits als ein Verhalten, das Ausdruck von unbefriedigten Bedürfnissen und Wünschen des Menschen sein kann. Andererseits ist es auch ein Verhalten, «das den Menschen um die betreffende Person Probleme bereitet» (Elvén, 2015, S. 17). Dies bedeutet, dass wir als Fachpersonen sowohl ein Teil des Problems als auch ein Teil der Lösung sind (McDonnell, 2019).
Der Low Arousal-Ansatz platziert sich in einer längeren Tradition von nicht-konfrontativen Ansätzen. Er bietet mit seiner humanistischen Grundhaltung (Menschen tun ihre Sache gut, wenn sie können) und seinen Prinzipien und Methoden eine Landkarte an. Dies hilft uns, die Schüler:innen und uns selbst zu verstehen, sodass wir wertschätzend und deeskalierend mit herausforderndem Verhalten und schwierigen Situationen umgehen können (Elvén & Sjølund, 2022; Greene, 2011). Das Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung steht dabei im Vordergrund. In der Beziehungsgestaltung liegt der Fokus auf Empathie und Respekt, um eine konstruktive Entwicklung und vertrauensvolle Zusammenarbeit zu unterstützen (Feilbach, 2016).
Arousal – Erregungszustand – ist ein Begriff aus der Neurowissenschaft. Er beschreibt einen lebenswichtigen Prozess neuronaler Aktivierung, der Handeln und Überleben ermöglicht. So sind beispielsweise unsere Pulsfrequenz, die Schweissproduktion, das Niveau von verschiedenen Hormonen wie auch unsere Muskelanspannung Zeichen dafür, wie tief oder wie hoch unser Erregungszustand ist. Ein angemessenes Erregungsniveau fördert Aufmerksamkeit und Fokussierung auf äussere und innere Stimuli und Reize. Bei einem zu hohen Erregungszustand steigt das Stressniveau – man reagiert stärker, schneller und heftiger auf Reize, was sich in Kampf, Flucht und Erstarren ausdrücken kann. Zu hohe oder zu niedrige Erregungszustände können daher herausforderndes Verhalten hervorrufen, während ein optimales Niveau das Lernen unterstützt (Yerkes & Dodson, 1908). Forschungsresultate weisen darauf hin, dass der Erregungszustand von Menschen mit Beeinträchtigungen oft grundsätzlich erhöht ist und dass sie somit öfter in Situationen kommen, die für sie oder ihre Umgebung herausfordernd sind (McDonnell, 2019). Im Low Arousal-Ansatz ist es darum eine wichtige Aufgabe der Fachperson, einer Steigerung des Erregungsniveaus vorzubeugen.
Der Fall basiert auf realen Ereignissen in einer Regelschule. Er dient dazu, Perspektiven aufzuzeigen, die wir in der Arbeit mit dem Low Arousal-Ansatz für zentral halten.
Lukas geht in die Mittelstufe in einer altersdurchmischten Regelschule (1.–3. und 4.–6. Klasse). Anfangs des Kindergartens wurde er im Autismus-Spektrum diagnostiziert. Auf den Wechsel in die Schule hin wurde der Schulpsychologische Dienst herbeigezogen und für den Schulbeginn weitere Unterstützung durch eine Schulische Heilpädagogin und eine Assistenz empfohlen. Anfangs der dritten Klasse erhöhte sich das Stresslevel von Lukas stark, wohl aufgrund des bevorstehenden Klassenwechsels in die 4. Klasse. Er konnte nicht mehr am schon angepassten Unterricht teilnehmen und reagierte mit herausfordernden Verhaltensweisen.
Beispiel: Morgenkreis I
Es ist Montagmorgen. Der Klassenlehrer, Herr Wagner, versammelt die Schüler:innen im Morgenkreis. Lukas setzt sich auf seinen Platz und fragt nach einer halben Minute: «Was machen wir nachher?» Herr Wagner antwortet: «Jetzt erzählen wir zuerst, was wir am Wochenende gemacht haben.» «Und danach?», fragt Lukas. «Danach setzt ihr euch an eure Plätze.» Lukas drückt den Radiergummi, den er in der Hand hat, immer wieder fest. Dann unterbricht er Herrn Wagner wieder: «Wann sind wir fertig?» Herr Wagner ist nun schon etwas genervt und seufzt laut. Dieses Verhalten zeigt Lukas jedes Mal im Morgenkreis. Bald wird er mit all seinen Fragen die anderen Schüler:innen stören und die ganze Klasse wird unruhig werden. Darum bietet Herr Wagner Lukas eine neue Strategie an: «Setz dich doch an deinen Platz, Lukas, und spiel mit deinen Legosteinen.» Lukas schüttelt seinen Kopf. Er will am gleichen Ort wie die anderen sein. Er rutscht unruhig auf seinem Stuhl herum. Versehentlich berührt er Silvia, die neben ihm sitzt. Sie sagt wütend: «Lukas, hör auf. Herr Wagner, Lukas zupft mich immer am Pulli.» «Lukas, geh an deinen Platz», sagt Herr Wagner nun laut und deutlich. Lukas zuckt zusammen und schaut verwirrt in die Runde. Warum soll er an seinen Platz gehen, wenn sie noch gar nicht mit dem Morgenkreis fertig sind? Das ist so verwirrend – und jetzt reden auch alle viel lauter als normal. Was hat er falsch gemacht? Lukas’ Erregungszustand ist nun hoch. Er steht impulsiv auf und sein Stuhl kippt um. Das laute Geräusch erschreckt ihn noch mehr. Ihm entweicht ein hoher Ton und er wirft den Radiergummi weg. Der Radiergummi trifft einen anderen Schüler ins Gesicht. Dieser beschimpft Lukas laut. Lukas hält sich die Ohren zu und wirft gleichzeitig mit ganz vielen Schimpfwörtern um sich. Herr Wagner und die Assistenz, Frau Rieter, sehen sich erschöpft an und denken: «Und es ist erst Montagmorgen.»
Wahrscheinlich erleben die beiden Lehrpersonen Lukas als herausfordernden Schüler. Diese Perspektive ist real und braucht Aufmerksamkeit. Sie sollte jedoch nie allein dastehen. Wir nehmen immer auch die Perspektive des Schülers ein und denken: Er tut seine Sache gut, wenn er kann. Dieses Verständnis steht im Gegensatz dazu, das Verhalten als absichtliche Provokation, Unwille oder schlechtes Verhalten zu interpretieren und damit die Verantwortung für die Änderung des Verhaltens auf den Schüler zu übertragen. Darum gehen wir vom Prinzip der Verantwortungsübernahme aus: Wer Verantwortung übernimmt, kann etwas bewirken. Als Fachpersonen betrachten wir nicht nur die sichtbare Spitze des Eisberges, sondern tauchen mit Fragen und Neugierde auch unter die Wasseroberfläche. Wir erstellen Hypothesen über das sichtbare Verhalten: Wie erlebt der Schüler die Welt? Und was könnten die auslösenden Faktoren, der Zweck und die Herausforderungen sein (Fröhlich et al., 2019)? Neuropsychologisches Wissen hilft dabei, zu untersuchen, ob der Schüler die Voraussetzungen und Fähigkeiten hat, um die gestellten Anforderungen erfüllen zu können (Greene, 2011). Denn zu hohe Anforderungen an nicht ausgebildete Fähigkeiten – eine oft unsichtbare Tatsache – tragen laufend zu einem erhöhten Stress- und Erregungszustand des Schülers bei.
In unserem Fallbeispiel verstehen wir das Herumrutschen von Lukas und seine wiederholten Fragen als Strategien dafür, die Situation zu lösen. Dieses Prinzip der Selbstkontrolle geht davon aus, dass wir alle unser Bestes tun, um nicht die Beherrschung oder die Kontrolle zu verlieren. Denn niemand will einen von Angst und Panik bestimmten Erregungszustand erleben (Elvén & Sjølund, 2022). Herausforderndes Verhalten können wir darum auch als Strategie zum Erhalt der Selbstkontrolle verstehen. Verhaltensweisen wie etwas kaputt machen, sich verweigern, toben und sich selbst verletzen sind nie eine bevorzugte Wahl der Schüler:innen. Trotzdem dienen sie ihnen manchmal als Strategie, um ein Gefühl der Kontrolle zu erlangen. Andere Strategien, die für Schüler:innen wirksam sein mögen, die wir aber meist negativ bewerten, sind: Mitwirkung verweigern – auch körperlich –, sich entfernen und weglaufen, drohen, schreien, andere angreifen, schlagen, selbstverletzen und sozialer Rückzug. Dass wir diese Strategien meist negativ bewerten, hängt damit zusammen, dass viele Strategien frustrierend, unangenehm und belastend sind für die Fach- und Betreuungspersonen und die anderen Schüler:innen. Wenn wir in einer Konfliktsituation diese Strategien bekämpfen, zum Beispiel mit restriktiven Praktiken und Massnahmen, führt dies oft zu (mehr) herausforderndem Verhalten und grösserer Eskalation.
Beispiel: Morgenkreis II
Lukas wird begleitet von einem multiprofessionellen Team bestehend aus Ergotherapeutin, Kinderpsychiaterin, Kinderärztin, Autismusberatung, Schulteam (Klassenlehrperson, Schulische Heilpädagogin, Schulleitung) und Eltern. In der gemeinsamen monatlichen Besprechung erarbeitet das Schulteam mithilfe des Stressmodells ein Stressprofil.[1] Dabei wird deutlich, unter wieviel Stress Lukas täglich steht, um die an ihn gestellten Anforderungen zuhause wie auch in der Schule zu erfüllen. Das Team stellt die Hypothese auf, dass Lukas mehr individuelle Unterstützung und Vorhersehbarkeit braucht, um mit Übergängen und Neuem umgehen zu können. Da die Situation im Morgenkreis jeden Tag eine Herausforderung ist, wird sie analysiert. Es wird entschieden, die Struktur und Abläufe des Morgenkreises besser zu visualisieren, mit dem Ziel, Lukas bei seiner Teilnahme besser zu unterstützen. Er erhält eine Schnur mit einer Anzahl Klämmerchen, die der Anzahl Punkte entsprechen, die im Morgenkreis besprochen werden. Die Idee ist, dass Lukas nach jedem fertigen Punkt ein Klämmerchen entfernt und somit den Ablauf verfolgen kann, bis der Morgenkreis beendet ist.
Dem Schulteam wird zudem klar, dass Lukas sich zurückziehen können muss, wenn sein Erregungszustand zu hoch ist. Die Schulische Heilpädagogin erfasst darum mithilfe des Modells der Affektregulation, welche Zeichen der Erregung Lukas zeigt, welche Strategien er selbst benützt, um wieder Ruhe zu erlangen und welche Strategien und Angebote die Lehrpersonen Lukas anbieten können, damit er wieder mehr Ruhe und Selbstkontrolle finden kann. Das Ziel ist, dass Lukas auf Dauer selbst Rückzugsstrategien anwenden kann, um mit seinem Erregungszustand bestmöglich umzugehen. Konkret wird Frau Koppel, die Schulische Heilpädagogin, zusammen mit Lukas einen Pausenort einrichten und an Strategien arbeiten, die er benützen kann. In Zusammenarbeit mit den Eltern werden diese herauskristallisiert: Lego bauen, Lesen, im Hängetuch schaukeln, Hörbuch hören, Trampolin springen.
Beispiel: Französischunterricht
In der monatlichen Sitzung im Schulteam wird besprochen, dass Lukas in der Schule lernt und Fortschritte macht. Durch den Einbezug einer Autismusberatung und mithilfe der Schulischen Heilpädagogin hat sich auch die Familie als System stabilisiert. Frau Geiger, die Lukas Französisch unterrichtet, bringt mit errötetem Kopf und leiser Stimme ein, dass sich Lukas immer noch nicht auf den Französischunterricht einlassen kann. Für sie sind diese Lektionen sehr herausfordernd. Lukas antworte nie auf ihre Fragen und mache nicht mit. Im Gegenteil, wenn sie ihn anspräche, wende er ihr einfach seinen Rücken zu und ignoriere sie. Je mehr sie auf ihn zugehe, umso mehr ziehe er sich zurück. Manchmal setze er sich dann unter das Pult und klopfe mit der Hand auf den Boden. Wenn sie ihn dann versuche zu bremsen, drohe er ihr und schaue sie so böse an, dass sie Angst bekomme und ihn darum in Ruhe lasse. Sie fühle sich dann von den anderen Schüler:innen ausgelacht. Ihr sei dies so peinlich und sie fühle sich sehr unzulänglich. Vor allem wüssten nun die anderen Lehrpersonen, wie sie Lukas helfen können, sodass er an deren Unterricht teilnehmen und partizipieren könne. Es geht ein hörbares Seufzen durch den Raum. Nach kurzer Zeit tauscht sich das Schulteam darüber aus, dass auch andere dieses Gefühl kennen, wenn auch nicht jetzt, sondern von früher.
Herausforderndes Verhalten in Unterrichtssituationen kann bei den Erwachsenen Gefühle von Angst, Ohnmacht, Wut und Selbstvorwürfe auslösen. Diese zu erkennen und dann kollegial auszutauschen, wie dies im Team von Lukas stattfindet, ist wichtig, um den eigenen Erregungszustand und das professionelle Handeln anpassen zu können. Denn bei einem zu hohen Erregungszustand tritt das reflektierte pädagogische Denken und Handeln bei Fach- und Betreuungspersonen in den Hintergrund: Unter Druck aktiviert sich unser Nervensystem, sodass wir es vorziehen, die inhaltliche Komplexität des Problems zu reduzieren: Wir finden lieber die eine, klare Erklärung und Ursache für unser Unbehagen (Goleman, 1995). Auch neigen wir Menschen in Konfliktsituationen dazu, «den Schuldigen» zu finden – andere oder uns selbst – und haben die Tendenz, moralisierend oder separierend zu reagieren (Hamilton, 2013). Somit tragen wir – oft unbewusst – in schwierigen Situationen zu mehr Gefühlsansteckung anstatt Ruhe bei. Das Prinzip der Gefühlsansteckung beschreibt, dass wir alle die Fähigkeit haben, die Emotionen anderer wahrzunehmen und deshalb von ihnen angesteckt werden können (Tomkins,1962 & 1963 zit. nach Elvén, 2015). Menschen mit kognitiven und/oder neuropsychiatrischen Herausforderungen fällt es jedoch oft schwer, ihre eigenen Gefühle von denen anderer zu unterscheiden. Sie können auf die Emotionen anderer so reagieren, als wären es die eigenen. Je mehr die Französischlehrerin, Frau Geiger, auf Lukas zugeht, umso bedrängter fühlt er sich und sein Erregungszustand steigt. Herausforderndes Verhalten kann manchmal dadurch ausgelöst werden, dass sich Ärger, Kummer oder Stress der Fachperson durch ihren Atem und ihre Körperspannung wie ein starkes Funksignal auf die andere Person überträgt und deren Erregungszustand ansteigen lässt. Andererseits können sich auch ruhiges Atmen und entspannte Muskeln übertragen und somit der anderen Person dabei helfen, mehr Ruhe zu erfahren. Im Low Arousal-Ansatz ist deshalb «mit Ruhe anstecken» eine wichtige Methode, um in herausfordernden Situationen den ersten Schritt zur Deeskalation zu machen (McDonnell, 2019).
Um mit diesem Ansatz zu arbeiten, braucht es ein wertschätzendes Menschenbild und eine gemeinsame, professionelle Haltung im Team (Leitlinien HEVE, 2023). Dazu braucht das Team einen wiederkehrenden Raum für Reflexion (Gröflin Corneliussen & Jensen, 2021), um
Beispiel: Reduzierter Stundenplan
Um das neue Schuljahr zu planen, setzen sich die Eltern und das Schulteam im Frühling zusammen. Sie versuchen, die Lebenswelt von Lukas in die Energieplanung einzubeziehen. So sollen Ergotherapie und autismusspezifische Therapie nicht zusätzlich zu den Schulstunden stattfinden, sondern durch eine Stundenreduktion in den Stundenplan eingebunden werden. Es wird besprochen, welche Stunden Lukas sehr viel Energie kosten und ob sie auf das folgende Schuljahr verschoben werden können. Was kann in die Ergotherapie eingebaut werden, damit Lukas trotzdem Lernfortschritte machen kann? Die Wahl fällt auf Werken/Handarbeit und Turnen, was Lukas zurzeit zu viel Energie kostet. Mit den Therapeut:innen wird geprüft, ob Lektionen in dieser Zeit möglich sind und mit den Eltern, ob sie diesen zusätzlichen Betreuungsaufwand während den eigentlichen Blockzeiten übernehmen können.
Ein deeskalierender und wertschätzender Umgang mit herausforderndem Verhalten erfordert, dass wir zusammen Verantwortung übernehmen: Die Zusammenarbeit mit anderen Fachpersonen, den Eltern und anderen Institutionen ist notwendig, um neue und kreative Lösungen zu finden. Oft geht es hierbei nicht darum, die Person zu ändern. Das können wir nur tun, wenn die Person selbst will und kann. Erst dann kann Entwicklung und Lernen (z. B. von eigenen Strategien) stattfinden. Dies bedingt, dass wir unseren eigenen Erregungszustand, unsere Anforderungen, die Alltags- und Unterrichtsstrukturen und unsere Vorstellungen analysieren und angleichen.
Abschliessend möchten wir gerne der Kritik entgegenhalten, dass der Ansatz eine laissez-faire-Pädagogik sei. Dieses Bild entsteht unseres Erachtens dann, wenn wir nur mit Methoden der Deeskalation und des Ablenkens arbeiten. So wird zwar der momentane Erregungszustand reduziert, jedoch ohne zu evaluieren und die nötigen Veränderungen bei uns und der Umgebung vorzunehmen. Auch kann der Eindruck entstehen, dass gemäss Low Arousal-Ansatz alle immer ganz «ruhig» sein sollten und es keine herausfordernden Situationen mehr geben sollte. Aber bei Entwicklungs- und Lernprozessen geht es manchmal laut zu und her und der Erregungszustand steigt. In der pädagogischen Arbeit mit dem Low Arousal-Ansatz geht es nicht nur darum, Konflikte zu vermeiden. Es geht auch darum, herausfordernde Situationen vorzubeugen, das Stressniveau zu reduzieren sowie die Umgebung so anzupassen, dass wir Bedingungen schaffen, die Partizipation und vertrauensvolle Zusammenarbeit ermöglichen.
Auf struktureller Leitungsebene braucht dieser Ansatz gesprochene Ressourcen für alle Beteiligten, um Situationen regelmässig und in geplanten Zeitgefässen zu analysieren und darin gemeinsam neue Handlungsideen zu kreieren. So können die Akteur:innen im multiprofessionellen Team immer wieder zu einer wertschätzenden und respektvollen Grundhaltung und methodischem Handeln zurückkehren und zusammen mit den Schüler:innen neue Möglichkeiten zum Lernen und Partizipieren schaffen.
Dr. Jolande Gröflin Corneliussen Klinische Psychologin und Supervisorin Kopenhagen, DK | Sandra Kamm Jehli Sonderpädagogin Region Rheintal |
Elvén, B. H. (2015). Herausforderndes Verhalten vermeiden. Menschen mit Autismus und psychischen oder geistigen Einschränkungen positives Verhalten ermöglichen. DGVT.
Elvén, B. H. & Sjølund, A. (2022). Handeln, Auswerten, Verändern – Vom unaufgeregte Umgang mit Menschen mit einer Autismus-Diagnose und einer an Autonomie orientierten Pädagogik. DGVT.
Feilbach, T. (2016). Prävention und Deeskalation im Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. https://www.autea.de/fileadmin/media/autea/03_PDF/DGSGB_Beitrag-Praevention_und_Deeskalation_Feilbach.pdf
Fröhlich, N., Castañeda, C. & Waigand, M. (2019). (K)eine Alternative haben zu herausforderndem Verhalten?! Ein Praxisbuch mit Begleitposter für Eltern, pädagogische Fachkräfte, Therapeuten und Interessierte. UK Couch.
Goleman, D. (1995). Emotional Intelligence. Bloomsbury Publishing.
Greene, R. W. (2011). Das explosive Kind. Edition Spuren.
Gröflin Corneliussen, J. & Jensen T. (2021). At tage ansvar er noget vi gør sammen. Tidskrift for Socialpædagogik, 24 (1), 15–27.
Hamilton, D. M. (2013). Everything is workable. A zen approach to conflict resolution. Shambhala Publications.
Leitlinien HEVE (2023). Agogischer Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen. https://www.fhnw.ch/plattformen/heve/leitlinien
McDonnell, A. (2019). The Reflective Journey – a practitioner's guide to the Low Arousal approach. Studio 3.
Yerkes, R. M. & Dodson, J. D. (1908). The Relation of Strength of Stimulus to Rapidity of Habit-Formation. Journal of Comparative Neurology and Psychology, 18, 459–482.
Das Stressmodell kann uns dabei helfen, unsere Anforderungen an die Schüler:innen anzupassen und mit den Schwierigkeiten vorbeugend und kompensierend zu arbeiten (Elvén & Sjølund, 2022). ↑