Wollen wir wirklich zurück zur Schule der guten alten Zeit?

Romain Lanners

DOI: https://doi.org/10.57161/z2025-03-00

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 31, 03/2025

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Die Publikationen unseres Verlages zum Thema «Verhalten» haben die höchsten Zahlen an Downloads. Dieser Fakt widerspiegelt die Aktualität und Bedeutung von herausfordernden Situationen, die für alle Beteiligten einen hohen Leidensdruck erzeugen.

Der adäquate Umgang mit herausfordernden Situationen ist nicht einfach und begleitet unsere Bildungseinrichtungen seit zwei Jahrhunderten. Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten Erziehungsheime oder Rettungsanstalten, wie sie damals hiessen, zum Beispiel die Stiftung Bächtelen bei Bern (1840) für «sittlich entartete Knaben». Nach der Einführung der obligatorischen Schule vor 150 Jahren wurden schnell Spezialklassen geschaffen für Lernende, die den Unterricht störten, wie 1888 in Basel oder 1890 in St. Gallen. Der Druck war so gross, dass das Bundesamt für Statistik im Jahr 1897 eine der ersten Bildungsstatistiken[1] der Zählung der «Schwachsinnigen Kindern im schulpflichtigen Alter mit Einschluss der körperlich gebrechlichen und sittlich verwahrlosten» widmete.

Heute gibt es keine nationale Statistik zu herausfordernden Situationen mehr. Eine neue nationale Erhebung der Entwicklungsbereiche, in denen ein besonderer Bildungsbedarf vorliegt, ist in Ausarbeitung. Hier wird die sozial-emotionale Entwicklung als Entwicklungsbereich aufgeführt. Es gibt jedoch kantonale Statistiken, die die Kategorie «Verhalten» seit Jahren erfassen. Im Jahr 2023 waren im Kanton Waadt 388 Lernende der obligatorischen Schule dieser Kategorie zugeordnet. Dies entspricht einem Anteil von 0,4 Prozent. Die zurzeit sehr emotional geführte Diskussion zur Wiedereinführung von Sonderklassen für diese Lernenden lässt jedoch vermuten, dass der Anteil viel grösser ist.

Aus der Analyse von Bildungsverläufen wissen wir, dass Reintegrationen aus Sonder(-schul-)klassen selten sind. Der Entscheid einer Separation ist darum de facto definitiv und hat für die betroffenen Lernenden langfristig Auswirkungen auf die schulische und berufliche Karriere. Und dies, obwohl in den meisten Fällen herausfordernde Verhaltensweisen zeitlich begrenzt sind. Diese Segregation verschärft zudem den aktuellen Fachkräftemangel.

Wegen der Auslagerung der Bildung dieser Lernenden (nach dem Motto «aus den Augen aus dem Sinn») konnte die Volksschule keine internen Kompetenzen aufbauen, um herausfordernden Situationen präventiv entgegenzuwirken oder solche frühzeitig zu beruhigen. Weil die Tragfähigkeit fehlt, spitzen sich die Situationen oft so zu, dass ein Übertritt in eine Sonder(-schul-)klasse als einzige Alternative bleibt. Im Rahmen von Projekten könnten sich die Schulen weiterentwickeln und Kompetenzen vor Ort aufbauen (vgl. bspw. proEdu).

Manche politischen Parteien wünschen sich eine Schule aus der guten alten Zeit, was immer dies auch heissen mag. Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten vielfältig verändert und ich bezweifle, dass so eine Schule diesem Wandel gerecht wird.

Dr. phil. Romain Lanners

Direktor

SZH/CSPS

romain.lanners@szh.ch

  1. Statistisches Bureau des eidg. Departements des Innern (1897). Die Zählung der schwachsinnigen Kinder im schulpflichtigen Alter mit Einschluss der körperlich gebrechlichen und sittlich verwahrlosten. EDI, Kommissionsverlag (Schmid & Franke).