DOI: https://doi.org/10.57161/z2025-02-10
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 31, 02/2025
Die Selbstvertretung nimmt ihren Lauf bereits bei unserer menschlichen Entwicklung als Säugling. Wir suchen Wege, der Umwelt unsere Ur-Bedürfnisse zu vermitteln und üben so Selbstvertretung aus. Ihre Vielfalt können wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht ermessen, ihre effektive Wirkung erkennen wir jedoch intuitiv. Auf diese Weise nimmt die Selbstvertretung einen beständigen Platz ein. Sie formt und prägt unsere persönliche Weiterentwicklung.
Blicken wir in die Vergangenheit verschiedener Bevölkerungsschichten und Gesellschaften, so stellen wir fest, dass die Selbstvertretung den Stein ins Rollen brachte und dies auch noch heute tut: so zum Beispiel Frauen allerorts auf der Welt, die früher wie auch im Hier und Jetzt lautstark für ihre verwehrten Grundrechte einstanden und einstehen. Menschen unterschiedlicher Kulturen, Hautfarbe, sexueller Orientierung oder unterschiedlichen Geschlechts setzen sich zurecht vehement gegen Staatsstruktur und Gesellschaft zur Wehr, um ihre Rechte einzufordern, weil sie Diskriminierung ausgesetzt sind. Die Selbstvertretung bleibt nie ohne Folgen: positiv wie negativ – nicht für die betroffenen Selbstvertreter:innen, nicht für den Staat, nicht für die Gesellschaft und auch nicht für die Menschen mit Behinderungen.
Die Selbstvertretung kann unglaubliche Energie freisetzen und positive Entwicklungen vorantreiben, die spürbare reale und nachhaltige Veränderungen auslösen können. Nachhaltigkeit ist von Bedeutung, denn die Veränderung soll nicht von kurzer Dauer sein und anschliessend in der Versenkung verschwinden. Die Nachhaltigkeit soll ein beständiger Ansporn zur Verbesserung des Erreichten sein. Der Weg zu neuen inklusiven Realitäten, die alle Menschen einer Gesellschaft teilhaben und mitgestalten lassen, rückt die Selbstvertretenden ins Licht. Vom Grundsatz «nichts über uns ohne uns» bin ich zutiefst überzeugt. Das Aussprechen von Alltagsrealitäten durch direkt Betroffene und ihre eigene Einflussnahme öffnet Türen zu zielgerichteten Anpassungen mit gesellschaftlichen und strukturellen Auswirkungen. Die Selbstvertretung kann anders gelebte Rechte und Privilegien bewirken, die zu gegenseitigen Begegnungen auf Augenhöhe und mehr Lebensqualität führen.
Löst eine Gesellschaft ihre Verantwortung vollumfänglich ein, indem sie gesellschaftlichen Minderheiten auf unterschiedlichen Ebenen Raum zur Selbstvertretung eröffnet? Meine Antwort: Hiermit wird das Fundament gelegt – die gesellschaftliche Verantwortung geht weiter und endet nicht mit der gewährten Selbstvertretung.
Nachhaltige Erfolge kann die Selbstvertretung von Minderheiten auf dem Weg zur Inklusion für die Betroffenen und die Gesellschaft dann erzielen, wenn sie auf fruchtbaren Nährboden trifft. Das heisst: Sowohl Betroffene als auch Nicht-Betroffene erarbeiten den Weg zum Ziel gemeinsam und stehen gemeinsam in der Pflicht, mit Wissen, ausgearbeiteten Lösungen und Taten die Verantwortung wahrzunehmen und die Veränderungen herbeizuführen. Diese Veränderungen werden beispielsweise durch die politische Teilhabe und die Wahl von Menschen mit Behinderungen in Parlamenten auf allen Ebenen wirksam ausgebaut. Ich bin bereit, ein Teil dieser Veränderungen zu sein und wünsche mir, dass wir es langfristig alle sind.
Simone Feuerstein |