Zusammenfassung
Der Artikel stellt den Ansatz der inklusiven Sprachbildung vor. Diese unterscheidet sich von herkömmlicher sonderpädagogischer Förderung, da der Fokus nicht auf spezifischen Beeinträchtigungen und Benachteiligungen oder therapeutischer und individueller Förderung liegt. Stattdessen werden Unterrichtsorganisation und Lehrmethoden fachübergreifend gestaltet. Mit einem sprachbewussten Unterricht können Schüler:innen mit unterschiedlichen Problemen und Herausforderungen im sprachlichen Bereich in ihrem Sprach- und Lernerwerb profitieren. Zur Veranschaulichung wird ein Best-Practice-Beispiel kurz beleuchtet, auch wenn es zu einem sprachbewussten Unterricht in der Schweiz bereits viele Projekte gibt.
Résumé
Cet article présente l'approche de l'éducation linguistique inclusive. Celle-ci se distingue de la pédagogie spécialisée traditionnelle car elle ne se concentre pas sur des handicaps et des désavantages spécifiques ou sur un soutien thérapeutique et individuel. Au lieu de cela, l'organisation des cours et les méthodes d'enseignement sont conçues de manière interdisciplinaire. Les élèves ayant des besoins et des difficultés linguistiques différents peuvent profiter d’un enseignement sensible aux langues autant dans leur acquisition du langage que dans leurs apprentissages en général. Un exemple de bonne pratique est brièvement présenté à titre d'illustration, même s'il existe déjà de nombreux projets d'enseignement sensible aux langues en Suisse.
Keywords: Inklusion, Heterogenität, besonderer Bildungsbedarf, Sprachentwicklung, inklusive Sprachbildung, Unterstützte Kommunikation / inclusion, hétérogénéité, besoins éducatifs particuliers, développement du langage, éducation linguistique inclusive, communication alternative et améliorée
DOI: https://doi.org/10.57161/z2025-02-02
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 31, 02/2025
Bei der Unterstützung sprachlicher Fähigkeiten von Schüler:innen geht es in der aktuellen Diskussion vor allem um eine durchgängige und fächerübergreifende Sprachbildung in der Volksschule. Häufig steht die Frage im Mittelpunkt, wie Schüler:innen mit Migrationshintergrund oder aus bildungsfernen Familien beim Erwerb der sogenannten Bildungssprache unterstützt werden können. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf dem Schriftspracherwerb beziehungsweise den schriftsprachlichen Kompetenzen. Exemplarisch dafür steht das QUIMS-Programm (Qualität in Multikulturellen Schulen) des Zentrums Lesen PH FHNW und der PH Zürich an Modellschulen der Stadt Zürich (weitere Infos: VSA-ZH, o. J.).
Mit Blick auf eine inklusive Schule sind mit dieser Schwerpunktsetzung zwei Problembereiche verbunden: Erstens gibt es kaum Konzepte mit einer ganzheitlichen Ausrichtung, die sowohl das soziale Umfeld als auch die Mündlichkeit in den Blick nehmen. Die wenigen, die es gibt, finden sich vor allem in der Vor- und Unterstufe (Gogolin, 2014). Zweitens lässt sich feststellen, dass Schüler:innen mit Sprachentwicklungsstörungen (SES) und besonderem Bildungsbedarf (z. B. in den Bereichen Kognition oder Verhalten) selten berücksichtigt werden. Zwar treffen Sprachbildung und Inklusion als Schlagworte in der Fachdiskussion immer wieder aufeinander. Aber das Verhältnis und die Handlungspraxis zwischen diesen beiden Bereichen sind nur ansatzweise geklärt und miteinander verbunden (Rödel & Simon, 2019b). Zudem herrscht auch in der Sonderpädagogik beziehungsweise der Sprachheilpädagogik in Deutschland oft die Einstellung vor, dass inklusiver Unterricht personell und konzeptionell an seine Grenzen stösst, wenn die sprachliche Handlungsfähigkeit so stark beeinträchtigt ist, dass eine Teilhabe am Unterricht nicht oder nur teilweise möglich ist. Solche Beeinträchtigungen des sprachlichen Handelns würden «exklusive (nicht exkludierende) individualisierte Maßnahmen der Unterstützung» notwendig machen» (Mußmann, 2020, S. 23).
Zentrale These einer inklusiv verstandenen Sprachbildung ist jedoch, dass sprachliche Teilhabe nicht mit einer isolierten und individualisierten Förderung oder Therapie zu erreichen ist. So zeigten bereits die Begleitforschungen zur «Durchgängigen Sprachbildung» (Gogolin & Klinger, 2011), dass isolierte Zusatzangebote der Sprachförderung und Sprachtherapie zwar kurzfristig förderlich sind. Sie wirken sich jedoch nicht nachhaltig und längerfristig auf die Entwicklung sprachlicher und kognitiver Fähigkeiten aus. Vielmehr scheint eine qualitativ hochstehende Unterstützung im inklusiven Unterricht mit bedarfsgerechten Zusatzangeboten besser und überdauernder zu wirken (Gogolin, 2014).
Zum ersten Mal wurden Inklusion und Sprachbildung im Rahmen der «Qualitätsoffensive Lehrerbildung» in Deutschland zusammengebracht und diskutiert (Rödel & Simon, 2019a). Hierzu wurden unter dem Konzept «Inklusive Sprachbildung» verschiedene Bereiche transdisziplinär miteinander verbunden (vgl. Abb. 1). Die Bereiche Fachwissenschaft (Linguistik, Spracherwerb), Sprachbildung, Sprachheilpädagogik, Sprachtherapie (bzw. Logopädie) sowie Unterstützte Kommunikation können als Kernfelder bezeichnet werden. Auch die Fachdidaktik trägt zu einem sprach- und heterogenitätssensiblen Unterricht und damit zur Sprachförderung bei. Den Rahmen bilden die Inklusions- und Schulpädagogik, da diese für die Schulentwicklung unerlässlich sind (Rödel & Simon, 2019b).
Wichtige fachwissenschaftliche Grundlagen für eine inklusive Sprachbildung sind zum einen Spracherwerbstheorien und zum anderen die sogenannten Sprachregister aus der Linguistik.
Zentrale Prinzipien der aktuellen Spracherwerbstheorien (u. a. Tomasello, 2011) sind die enge Verbindung von Sprach- und kognitiver Entwicklung sowie der Fokus auf Handlungen und Interaktionen. Lernen und Entwicklung sind somit soziale Prozesse, in denen die Beteiligten über Interaktionen Wissen und Bedeutung gemeinsam aushandeln. Bezugspersonen (Eltern, Lehrpersonen) übernehmen in diesem Prozess die Aufgabe, Rahmenbedingungen bereitzustellen und gegebenenfalls anzupassen, um die sprachliche und kognitive Entwicklung zu unterstützen. Ein bewährtes Konzept hierfür ist das Scaffolding, bei dem in der «Zone der nächsten Entwicklung» eine passgenaue Unterstützung den Lernfortschritt aufbaut. Grundmotto oder Grundprinzip ist dabei immer: Sprache lernt man nur durch Sprechen beziehungsweise das gemeinsame und kooperative Handeln (Ling, 2021).
Der Spracherwerb erfolgt dabei – egal ob Erst-, Zweit- oder Fremdsprache – über drei Phasen (Bleyhl, 2009):
Für eine effektive Unterstützung dieser Phasen ist eine kontinuierliche, nicht künstlich reduzierte Auseinandersetzung mit Sprache essenziell. Denn erst ab einem aktiven Wortschatz von etwa 400 bis 500 Wörtern und feststehenden Redewendungen bilden wir eigenständige syntaktische Strukturen. Ein sprachförderlicher Unterricht sollte daher Wortschatz, Grammatik und Aussprache methodisch-didaktisch unterstützen, ohne diese zu reduzieren. So wirkt sich beispielsweise eine isolierte Wortschatzförderung (Vokabellernen) ohne grammatischen Kontext eher kontraproduktiv aus (Bleyhl, 2009).
Unter Sprachregister versteht man in der Linguistik eine bestimmte Form der Sprachverwendung. Damit ist die Art und Weise gemeint, wie Informationen und Inhalte dargestellt werden. Es gibt drei Sprachregister, die miteinander in Beziehung stehen: Alltags-, Bildungs- und Fachsprache. Die Sprachregister unterscheiden sich durch die sogenannten sprachlichen Mittel, insbesondere in der Grammatik und im Wortschatz. Dies wird beispielsweise im Bereich Mathematik am Beispiel des Additionsbegriffs deutlich: Alltagssprachlich wären Wendungen wie «dazunehmen» oder «dazuzählen», bildungssprachlich wären der Begriff «Plus» (Rechnen) und fachsprachlich die Begriffe «Addition» und «addieren». Dem bildungssprachlichen Register kommt eine besondere Bedeutung zu, denn dieses hat in der Schule eine doppelte Funktion: Die Bildungssprache ist zum einen das Medium, um Wissensinhalte zu vermitteln. Zum anderen ist sie das Medium, das die Schüler:innen sich aneignen müssen (Gogolin & Lange, 2011).
Wie die Beziehung zwischen den drei Sprachregistern definiert wird, beeinflusst den jeweiligen sprachbildenden Unterricht (vgl. Abb. 2). Geht man zum Beispiel von einem hierarchischen Modell aus, würde man sagen: «Erst müssen die Kinder sich auf Deutsch verständigen können, bevor sie Bildungssprache lernen» oder «Das Problem mit Textaufgaben im Mathematikunterricht ist, dass die Schülerinnen und Schüler oft die alltäglichen Begriffe nicht verstehen» (Lange, 2012, S. 127). Gehen Lehrpersonen hingegen von einem Schnittmengen-Modell oder einem Abwechseln der Sprachregister (Kreislaufmodell) aus, werden diese im Unterricht anders gesehen und eingebunden. Das Kreislaufmodell zeigt sich zum Beispiel an folgender Aussage: «Ich binde die lebensweltlichen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler ein, um fachliche Themen zu vermitteln» (ebd.). Im Schnittmengen-Modell wird es aufgrund der Vermischungen der Sprachregister ganz konkret: «Was genau meinst du mit xy?» oder «Solche Ausdrücke haben hier nichts zu suchen. Die gehören in die Pause» (ebd., S. 128).
Für eine inklusive Sprachbildung sind insbesondere das Schnittmengen- und das Kreislaufmodell zentral. Ziel ist es, allen Schüler:innen unabhängig von ihrer sozialen oder sprachlichen Herkunft oder einem vorliegenden besonderen Bildungsbedarf den Zugang zur Bildungssprache zu ermöglichen. Dazu gehört die bisher meist implizite Vermittlung von Bildungssprache durch eine bewusste Thematisierung des Übergangs von der Alltagssprache («Sprache der Nähe») zur Bildungssprache («Sprache der Distanz») zu ersetzen. Dafür sind fächerübergreifende und transdisziplinäre Zusammenarbeit und die Berücksichtigung der individuellen sprachlichen Voraussetzungen erforderlich (Lange, 2012). Diese Ziele können mit den folgenden Prinzipien und Qualitätsmerkmalen erreicht werden.
In der Schweiz gibt es zahlreiche Beispiele für die Implementierung zentraler Qualitätsmerkmale der inklusiven Sprachbildung. Hier sind die bereits erwähnten QUIMS-Schulen in Zürich zu nennen. Zahlreiche innovative Projekte berücksichtigen zudem digitale Mittel: Lesestifte (z. B. www.soundolino.ch) werden zur Wortschatz- und Sprachförderung eingesetzt. Hierzu gibt es vielversprechende Erfahrungsberichte und auch Kinder mit besonderem Bildungsbedarf (Sprachentwicklungsstörung, kognitive Beeinträchtigung etc.) werden in den Blick genommen.
Auch für die Unterstützte Kommunikation in inklusiven beziehungsweise heterogenen Settings und Deutsch als Zweitsprache (DaZ) beschreibt eine Reportage in der Zeitschrift Bildung Schweiz den Einsatz von UK-Mitteln und -Methoden: Sowohl die Logopädin als auch die Klassenlehrperson betonen, dass der Einsatz von Piktogrammen und Gebärden den Kindern hilft, den Wortschatz aufzubauen, mehr zu verstehen und sich besser auszudrücken. Gerade die Kinder einer Eingangsklasse hätten vor dem Einsatz von UK grosse Mühe gehabt. So erinnert sich die Klassenlehrerin: «Sie wussten zum Teil nicht, was vorher und nachher, morgen und heute bedeuteten» (Ali, 2022, S. 40).
Der Einsatz von Piktogrammen geht über einen Aufbau und eine Sicherung des Wortschatzes hinaus. Denn Piktogramme wie Metacom© können für Visualisierungen der Unterrichtsphasen oder zur Verhaltensmodifikation eingesetzt werden. Auch Sätze können mit den Piktogrammen gelegt und verglichen werden, um sprachliche Strukturen zu visualisieren. Anders ausgedrückt bekommt Sprache mit Gebärden und Piktogrammen eine visuelle Form. Diese dient der schnellen Verständigung und Verständnissicherung; unabhängig davon, ob es sich um Kinder mit besonderem Bildungsbedarf im Bereich Kognition oder Verhalten, mit Spracherwerbsschwierigkeiten oder Mehrsprachigkeit handelt.
UK ist aber mehr als der oben beschriebene Einsatz von Gebärden und Piktogrammen. Denn der Einsatz von UK-Mitteln wird gerahmt und fundiert von Konzepten wie multimodale Kommunikation, Partnerstrategien und Kern- und Randvokabular. Nonverbale Elemente der Kommunikation (Gesten, Gebärden, Mimik, also multimodale Kommunikation) und das Warten auf eine Äusserung (Partnerstrategie) unterstützen das Sprachhandeln. Beim Kern- und Randvokabular liegt im Gegensatz zu herkömmlichen Ansätzen der Sprachförderung der Fokus auf dem alltagssprachlichen Register. Zum Kernvokabular gehören situationsunabhängige Wörter wie nochmal, das/da, und Hilfsverben (wollen, haben) sowie allgemeine Zeitbegriffe wie jetzt, nachher/später, morgen und gestern. Wenn Kinder dieses Kernvokabular nicht beherrschen, ist ein alltägliches Sprachhandeln kaum möglich (Ling, 2021).
Im Forschungsprojekt «Kernvokabular trifft DaZ (KvDaZ)» (2016–2020) der Universität zu Köln wurden die kurz skizzierten Konzepte Kern- und Randvokabular, Partnerstrategien und Piktogramme miteinander verbunden. Die Projektevaluation zeigte auf, dass die Kombination dieser drei Konzepte Lücken in der DaZ-Didaktik schliessen konnte. Denn viele DaZ-Materialien setzen bereits vorhandenen Wortschatz, alltagssprachliche Kompetenzen und Lesefähigkeit voraus. Das ist eine Herausforderung, insbesondere für nicht- oder anders alphabetisierte Kinder mit Fluchterfahrung oder ohne Kenntnisse der deutschen Alltagssprache (Dietz, 2020). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das KvDaZ-Konzept allen Kindern und insbesondere denjenigen mit Problemen im Sprach- und Schriftspracherwerb im inklusiven Unterricht ermöglicht, aktiv zu lernen, statt nur zu beobachten.
Karen Ling Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Institut für Sprache und Kommunikation |
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