DOI: https://doi.org/10.57161/z2025-02-00
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 31, 02/2025
Entwicklung und Lernen finden in der Auseinandersetzung mit der Umwelt statt. Die Basis dafür bilden Handlungen und soziale Interaktionen. Im Film «L’enfant sauvage» von François Truffaut lernte der «Wolfsjunge» nach etwa zehn Jahren Leben allein im Wald, aufrecht zu gehen, «zivilisiert» zu essen, Emotionen zu zeigen und ein wenig zu lesen. Richtig zu sprechen, lernte er jedoch nicht, trotz langjährigen Bemühungen seines Erziehers. Im Jahr 1828 verstarb der junge Mann im Alter von 40 Jahren. Seine letzten 20 Jahre verbrachte er in einem Nebengebäude der Gehörlosenanstalt in Paris und machte in dieser Zeit keinerlei Fortschritte mehr.
Das schwierige Erlernen und Lehren der Sprache zeigt dieser Kinofilm aus dem Jahr 1969 anschaulich. Diese authentische Geschichte ereignete sich Anfang des 19. Jahrhunderts in Frankreich. Welche (Bildungs-)Chancen hätte der «Wolfsjunge» im heutigen Bildungssystem?
Die Sprachentwicklung ist ein komplexer Prozess, in welchem kognitive, emotionale und soziale Faktoren wirken. Die Förderung der kommunikativen Fähigkeiten durch das Umfeld spielt dabei eine zentrale Rolle. Die Sprachwissenschaft geht davon aus, dass die kritische Phase des Spracherwerbs von der Geburt bis in die Pubertät reicht. In diesem Zeitraum ist das Gehirn besonders empfänglich für den Spracherwerb. Das Alter des «Wolfsjungen» war demzufolge ungünstig für das Erlernen der französischen Sprache.
Die menschliche Sprache, verstanden als komplexes und multimodales System für die Kommunikation, umfasst nicht nur Schriftzeichen und Worte, sondern auch visuelle, auditive und körperliche Dimensionen. Heutzutage könnte unser «Wolfsjunge» mit Unterstützter Kommunikation nach dem Konzept «Zone der nächsten Entwicklung» gefördert werden.
Die Beiträge der aktuellen Ausgabe beleuchten viele Gesichter der Sprachförderung in der Gegenwart. Der Ansatz der inklusiven Sprachbildung, das theoriebasierte integrative Modell oder das SPRINT-Konzept unterstützen Kinder mit sprachlichen Schwierigkeiten. Die Leichte Sprache kann dabei vielfältig eingesetzt werden, wie ein anderer Artikel zeigt. Weitere Beiträge betonen die Effektivität von Teamteaching und die Bedeutung der Kooperation zwischen Eltern, Lehrkräften und Fachkräften für die Sprachförderung. Die inklusionsorientierte sprachbezogene Fachberatung gehört dabei zu den Handlungsfeldern der Sonderpädagogik. Weiter wird beleuchtet, dass bei Late Talkern in erster Linie Elterntrainings als Mittel zur Frühintervention empfohlen werden. Zudem werden die barrierefreien Bücher von Buchknacker vorgestellt, die bei Kindern und Jugendlichen mit einer Lesebeeinträchtigung den Spass beim Lesen fördern.
Ich wünsche eine anregende Lektüre!
Dr. phil. Olga Meier-Popa Wissenschaftliche Mitarbeiterin SZH/CSPS |