Zusammenfassung
Die private Behindertenhilfe in der Schweiz steht vor einem Dilemma: Während die Nachfrage nach Beratung und Unterstützung stetig steigt, stagnieren die Bundesbeiträge seit Jahren beziehungsweise gehen sie unter Berücksichtigung der Teuerung sogar zurück. Die Folgen sind bereits deutlich spürbar – erste Organisationen müssen ihre Angebote einschränken. Pro Infirmis, die grösste Fachorganisation im Behindertenbereich, musste erstmals in ihrer hundertjährigen Geschichte die Sozialberatung reduzieren. Auch andere Organisationen wie Procap oder SZBLIND stossen an ihre Grenzen. Eine Analyse der aktuellen Situation zeigt: Das System braucht dringend eine Anpassung.
Résumé
L'aide privée aux personnes en situation de handicap en Suisse se trouve confrontée à un dilemme : tandis que la demande de conseils et de soutien ne cesse d'augmenter, les subventions fédérales stagnent depuis plusieurs années, voire diminuent si l'on prend en compte l'inflation. Les conséquences se font déjà nettement sentir et certaines organisations doivent réduire leurs offres. Pro Infirmis, la plus grande organisation spécialisée dans le domaine du handicap, a été contrainte de réduire son offre de conseil social pour la première fois en 100 ans d’histoire. D'autres organisations, comme Procap, atteignent également leurs limites. Une analyse de la situation actuelle le montre : le système nécessite une adaptation urgente.
Keywords: Behinderung, Selbstbestimmung, Behindertenrechte, Beratung, Finanzierung / handicap, autodétermination, droits des personnes handicapées, orientation, financement
DOI: https://doi.org/10.57161/z2025-01-07
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 31, 01/2025
Vier von fünf Menschen mit Behinderungen fühlen sich in der Schweiz in mindestens einem Lebensbereich stark eingeschränkt. Der erste Inklusionsindex 2023 bestätigt, was Menschen mit Behinderungen täglich erleben: Ob bei der Arbeit, in der Bildung oder im öffentlichen Leben – die Hürden sind allgegenwärtig. Seit dem Jahr 2014 verpflichtet die Behindertenrechtskonvention (BRK) die Schweiz, diese Barrieren abzubauen und Menschen mit Behinderungen die volle gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Verschiedene Organisationen der privaten Behindertenhilfe leisten dafür unverzichtbare Arbeit. Gestützt auf Artikel 74 des Invalidenversicherungsgesetzes (IVG) erhalten sie vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) Finanzhilfen für ihre Dienstleistungen. Doch genau hier gibt es eine besorgniserregende Entwicklung: Während die Nachfrage nach Unterstützung stetig steigt, stagnieren die Bundesbeiträge seit Jahren. Dieses Missverhältnis zwischen Bedarf und Finanzierung hat schwerwiegende Konsequenzen, da immer mehr Organisationen gezwungen sind, ihre Dienstleistungen einzuschränken.
Besonders ausgeprägt zeigt sich diese Problematik bei Pro Infirmis, der grössten Fachorganisation im Behindertenbereich. Die Organisation musste zum ersten Mal in ihrer hundertjährigen Geschichte ihre Sozialberatung abbauen – ausgerechnet in dem Bereich, der für viele Menschen mit Behinderungen und deren Angehörige die erste und oftmals wichtigste Anlaufstelle ist. Und dies, obwohl die Zahl der Klient:innen in den vergangenen zehn Jahren um ein Drittel gestiegen ist. Währenddessen stagnierten die Beiträge des BSV beziehungsweise sie gingen unter Berücksichtigung der Teuerung sogar real zurück.
Um niemanden im Stich zu lassen, hat Pro Infirmis über Jahre deutlich mehr Menschen mit Behinderungen beraten, als es die Vereinbarung mit dem Bund vorsieht. Das war zunächst möglich, weil viele Kantone zusätzliche finanzielle Mittel beisteuerten und Pro Infirmis die verbleibende Lücke durch Spendeneinnahmen und Reserven schliessen konnte. Doch diese Strategie führte zu einem strukturellen Betriebsdefizit und schwindenden Reserven, bis Massnahmen unumgänglich wurden. Insgesamt mussten schweizweit 12 000 Stunden Sozialberatung reduziert werden, was knapp vier Prozent entspricht.
Die Reduktion von Dienstleistungen zeigt sich auch bei anderen Organisationen. Zum Beispiel bei Procap, einer Organisation, die auf die Unterstützung im komplexen System der Sozialversicherungen spezialisiert ist. Procap verzeichnete 2023 bei der Sozialversicherungsberatung eine Überschreitung der finanzierten Leistungen um 20 Prozent, bei der Rechtsberatung sogar um 37 Prozent. Die Folge in der Zentralschweiz: ein vorübergehender Aufnahmestopp und die Beschränkung der Dienstleistungen auf Familien mit Kindern. «Das ist frustrierend und kontraproduktiv, weil wir ja dafür da sind, den Menschen zu helfen, zu ihrem Recht zu kommen», sagt Michael Ledergerber, Geschäftsleiter Procap Zentralschweiz.
Auch bei insieme Schweiz, der Dachorganisation der Elternvereine für Menschen mit einer geistigen Behinderung, spitzt sich die Situation zu. Die 47 kantonalen und regionalen Unterorganisationen spüren bei ihren Angeboten die wachsende Nachfrage und den steigenden Professionalisierungsdruck. «Aus unserer Sicht sind die gleichbleibenden Beiträge im Zusammenhang mit der steigenden Nachfrage strukturell problematisch», bestätigt Benjamin Schaller, Verantwortlicher Finanzhilfen bei insieme.
Beim Schweizerischen Zentralverein für das Blindenwesen SZBLIND führte der deutliche Anstieg der Nachfrage bereits zu konkreten Einschränkungen. In der Westschweiz musste die Organisation im Herbst 2024 beschliessen, in den kommenden Monaten keine neuen Klient:innen anzunehmen. Zudem prüft sie eine strikte Konzentration auf spezialisierte Leistungen, wobei die allgemeine Betreuung den ersten Anlaufstellen überlassen werden soll. Muriel Blommaert, Leiterin Fachstelle Hörsehbehinderung und Taubblindheit von SZBLIND, warnt: «Diese Vorgehensweise wird das grundlegende Problem jedoch nicht lösen. Wir verschieben das Problem lediglich, und es ist klar, dass für die Zukunft eine ausreichende Finanzierung fehlt.»
Die Gründe für die steigende Nachfrage sind vielschichtig. Sie spiegeln tiefgreifende gesellschaftliche und auch geopolitische Entwicklungen wider. Das kontinuierliche Bevölkerungswachstum in der Schweiz sorgt für einen natürlichen Anstieg der Anfragen. Gleichzeitig belasten steigende Lebenskosten und wirtschaftliche Unsicherheiten Menschen mit Behinderungen besonders stark. Diese zusätzlichen Belastungen können leicht zu einer persönlichen Krise führen, die professionelle Unterstützung notwendig macht. Auch die fortschreitende Digitalisierung schafft neue Barrieren: Virtuelle Behördenschalter und digitale Formulare sind für viele Menschen mit Behinderungen ein zusätzliches Hindernis. Daraus resultiert wiederum Bedarf an Unterstützung.
Markant verschärft hat sich die Situation seit der Corona-Pandemie, vor allem bei jungen Menschen: Bei der Sozialberatung von Pro Infirmis ist die Nachfrage von Klient:innen zwischen 13 und 25 Jahren seit 2020 um 37 Prozent gestiegen. Bei jungen Menschen mit psychischen Behinderungen hat sich die Nachfrage sogar verdoppelt. Diese dramatische Zunahme bestätigt auch die Stiftung Pro Mente Sana, die sich für die psychische Gesundheit in der Schweiz einsetzt. Seit 2019 verzeichnet die Organisation jährlich einen Anstieg von rund 15 Prozent bei der Nachfrage nach Beratungen. «Corona hat diese Entwicklung noch verstärkt», sagt Muriel Langenberger, Geschäftsleiterin von Pro Mente Sana. Besonders problematisch: Die Finanzhilfen der öffentlichen Hand orientieren sich an der Anzahl der Menschen, die eine Invalidenrente erhalten. Gerade junge Menschen mit psychischen Problemen beziehen aber oft keine IV-Rente. «Wir leisten in diesen Fällen Präventionsarbeit», erklärt Langenberger. «Mit frühzeitigen Interventionen kann viel Schaden verhindert werden – sowohl für die Betroffenen als auch für die Gesellschaft, weil so später weniger Gesundheitskosten anfallen.»
Steigende Nachfrage, steigende Kosten, aber stagnierende Mittel: Die Umsetzung von Artikel 74 des Invalidenversicherungsgesetzes wird der gesellschaftlichen Realität nicht mehr gerecht. Die Leidtragenden sind in erster Linie die Menschen mit Behinderungen, die entweder auf dringend benötigte Dienstleistungen verzichten oder mit längeren Wartezeiten leben müssen. Die Dringlichkeit der Situation wurde auch von der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK) erkannt: In ihrem Bericht von 2023 kritisierte das oberste Finanzaufsichtsorgan des Bundes die zu starre und rückläufige Mittelvergabe durch das BSV.
Die Weiterentwicklung des Artikels 74 IVG ist damit nicht nur eine finanzpolitische, sondern vor allem eine gesellschaftspolitische Aufgabe: Es geht um die grundsätzliche Frage, wie wir als Gesellschaft Teilhabe und Chancengleichheit ermöglichen. Nach dem kritischen Bericht der EFK ist nun der Bundesrat in der Pflicht, die notwendigen Schritte einzuleiten. Nur mit einer bedarfsgerechten Finanzierung können die Behindertenorganisationen ihren Beitrag zu einer inklusiven und selbstbestimmten Gesellschaft für alle leisten.
Roman Rey Pro Infirmis |