Ein Bericht zum Hauptreferat von Caroline Hess-Klein am 13. Schweizer Kongress für Heilpädagogik
Zusammenfassung
Vor zehn Jahren ist die Schweiz der Behindertenrechtskonvention (BRK) beigetreten. Damals hielt der Bundesrat fest, die entsprechenden Anforderungen wären bereits weitgehend erfüllt. Insbesondere auch im Bereich Bildung vertrat er den Standpunkt, mehr als die geltenden Garantien des Schweizer Rechts würden nicht verlangt. In seiner bisherigen Rechtsprechung schliesst sich das Bundesgericht dieser Auffassung an, ohne auf die BRK näher einzugehen. Im Jahr 2022 überprüfte der zuständige UNO-Ausschuss zum ersten Mal den Stand der BRK-Umsetzung in der Schweiz. Insbesondere im Bildungsbereich ist die Kritik schwerwiegend. Wozu verpflichtet das Recht auf Bildung in der BRK und wo steht die Schweiz?
Résumé
Il y a dix ans, la Suisse adhérait à la Convention relative aux droits des personnes handicapées (CDPH). À l'époque, le Conseil fédéral avait déclaré que les exigences correspondantes étaient déjà largement remplies. Dans le domaine de l'éducation en particulier, il avait estimé qu'il n'était pas nécessaire d'aller au-delà des garanties offertes par le droit suisse. Dans sa jurisprudence, le Tribunal fédéral s'est rallié à ce point de vue, sans se pencher plus avant sur la CDPH. En 2022, le comité compétent de l'ONU a examiné pour la première fois l'état de la mise en œuvre de la CDPH en Suisse. Ses critiques sont particulièrement sévères dans le domaine de l'éducation. Quelle est l'obligation du droit à l'éducation dans la CDPH et où se situe la Suisse ?
Keywords: Behindertenrechte, Konvention, UNO, Recht auf Bildung, inklusiver Unterricht, Partizipation / droits des personnes handicapées, convention, ONU, droit à l'éducation, enseignement inclusif, participation
DOI: https://doi.org/10.57161/z2024-09-03
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 30, 09/2024
We conclude that, in the field of public education, the doctrine of «separate but equal» has no place. Separate educational facilities are inherently unequal (Brown v. Board of Education, 347 U.S. 483 (1954)).
Gleichstellung kann durch getrennte Bildungseinrichtungen nicht erreicht werden. So lautet das obenstehende Urteil des Amerikanischen Supreme Court bezüglich der separaten Schulung von Kindern aufgrund ihrer Rasse. Die Schweiz kannte eine ähnliche Separierung. Hier war es bis in die 1960er-Jahre üblich (Trendbericht der SKBF), Mädchen und Jungen separat zu beschulen oder in den Leistungen und bei Übertritten in höhere Schulniveaus unterschiedlich zu bewerten. Auch die aktuellen Entwicklungen bezüglich der geforderten Wiedereinführung von Kleinklassen in einzelnen Kantonen gehen in dieselbe Richtung. Und dies, obwohl die Schweiz vor zehn Jahren der Behindertenrechtskonvention (BRK) der Vereinten Nationen beigetreten ist.
Mit der Ratifizierung der BRK hat sich die Schweiz zu einem inklusiven Bildungssystem verpflichtet. Die Konvention gewährleistet, dass Menschen mit Behinderungen die gleichen Rechte wie alle anderen Menschen haben und sie betont insbesondere das Recht auf Bildung ohne Diskriminierung. Gemäss Artikel 24 sind die Vertragsstaaten zu einem inklusiven Bildungssystem auf allen Ebenen verpflichtet, welches lebenslanges Lernen garantiert. Inklusion bedeutet in diesem Kontext, dass Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit haben sollen, gemeinsam mit anderen Kindern und Erwachsenen in regulären Schulen zu lernen. Die BRK versteht den Begriff «Behinderung» dynamisch, wobei Behinderung durch Wechselwirkungen entsteht: Wechselwirkungen zwischen Menschen mit ihren individuellen Merkmalen und den Barrieren, denen sie in ihrer Umwelt begegnen. Das heisst: «Behinderung» ist eine konstruierte Situation. Das wiederum bedeutet, dass die Situation veränderbar ist. In diesem Kontext sind Massnahmen essenziell, die Menschen mit Behinderungen unterstützen und fördern sowie ihre individuelle Autonomie gewährleisten.
Beim Beitritt der Schweiz zur BRK stellte der Bundesrat Folgendes fest: Die bestehenden nationalen Gesetze und Vorschriften stimmen bereits weitgehend mit den Anforderungen der Konvention überein. Insbesondere im Bereich der Bildung vertrat die Regierung die Ansicht, dass keine zusätzlichen Massnahmen erforderlich seien, um den Anforderungen der BRK gerecht zu werden. Diese Einschätzung beruhte auf der Annahme, dass das Schweizer Bildungssystem bereits genügend Garantien bietet für den Zugang von Menschen mit Behinderungen zu einer inklusiven Bildung. Neben der BRK gibt es in der Schweiz die folgenden Rechtsgrundlagen:
Hinzu kommt das jeweilige kantonale Schulrecht. Darüber hinaus sind einige Kantone der Interkantonalen Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik (Sonderpädagogik-Konkordat) beigetreten. Diese legt gemeinsame Rahmenbedingungen der Sonderpädagogik fest.
Das Bundesgericht hat sich in seiner bisherigen Rechtsprechung der Position des Bundesrates, dass es keine zusätzlichen Massnahmen brauche, weitgehend angeschlossen. Dabei hat es selten explizit auf die BRK und deren Verpflichtungen im Bildungsbereich Bezug genommen. Stattdessen wurde meist argumentiert, dass die bestehenden nationalen Gesetze ausreichen, um die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu schützen und zu fördern.
Betrachtet man unterschiedliche Urteile des Bundesgerichts, welche die rechtliche Praxis der Schweiz zur Umsetzung der BRK abbilden, so ist besonders ein Entscheid aus dem Jahr 2015 (BGE 141 I 9) relevant: Im Kanton Aargau haben Eltern eines Kindes im Autismus-Spektrum eine Beschwerde erhoben gegen einen Entscheid des kantonalen Departements bis zum Bundesgericht. Das Kind hätte in der Regelschule eine Vollzeitbetreuung durch Assistenz benötigt. Das zuständige Departement genehmigte allerdings nur die gemäss kantonalem Recht maximal vorgesehenen 18 Wochenstunden. Die darüber hinausgehenden Stunden hätten die Eltern selbst finanzieren sollen. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gestützt auf Artikel 19 (BV) gut mit dem Argument, dass der Grundschulunterricht unentgeltlich ist. Eine Assistenz ist somit vom Kanton zu finanzieren, falls sie für die Grundschulung des Kindes erforderlich ist.
Das Urteil 2C_227/2023 aus dem Kanton St. Gallen zeigt aber, dass das Bundesgericht keine absolute Verpflichtung zur Integration sieht. Insbesondere bei Kindern mit einer kognitiven Beeinträchtigung ist die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichts sehr restriktiv. Ein Kind mit Trisomie 21 hatte im Kindergarten 12 bis 14 Wochenstunden Assistenz und weitere Unterstützung erhalten. Die Schulgemeinde verfügte danach eine Sonderschulung, wogegen die Eltern bis vor Bundesgericht zogen. Die Beschwerde wurde schliesslich vom Bundesgericht abgewiesen. Es begründete die Entscheidung damit, dass die Möglichkeit, in der separativen Sonderschule aktiv am Unterricht teilzunehmen und somit positive Erfahrungen zu sammeln, besser mit dem Wohl des Kindes vereinbar sei. Diese Entscheidung widerspricht gemäss Bundesgericht nicht dem Vorrang der integrativen Schulung, da sie auf sachlichen Gründen basiert und keine Diskriminierung darstellt. Die BRK sei entsprechend nicht verletzt, so das Bundesgericht.
Um die Umsetzung der BRK zu gewährleisten, gibt es einen spezialisierten Ausschuss der UNO, den BRK-Ausschuss. Ihm stehen diverse Instrumente zur Verfügung: die Concluding observations (Abschliessende Bemerkungen zum Initialstaatenbericht der Schweiz), die General Comments (z. B. zu Art. 24), die Einzelfallentscheide und die Untersuchungen bei schweren oder systematischen Verletzungen der BRK (Art. 6 Fakultativprotokoll BRK). Die Schweiz hat das Fakultativprotokoll noch nicht unterzeichnet, weshalb dieses vierte Instrument nicht zur Verfügung steht.
Im Jahr 2022 hat der BRK-Ausschuss erstmals die Umsetzung der BRK in der Schweiz überprüft. Dieser Prozess, der als Staatenberichtsverfahren bekannt ist, ermöglicht es dem Ausschuss, die Fortschritte der Vertragsstaaten bei der Umsetzung der Konvention zu bewerten und Empfehlungen abzugeben. Die Ergebnisse dieser Überprüfung (Abschliessende Bemerkungen zum Initialstaatenbericht der Schweiz) fielen im Bildungsbereich äusserst kritisch aus. Der BRK-Ausschuss stellte fest, dass es in der Schweiz erhebliche Mängel gibt bei der Umsetzung des Rechts auf inklusive Bildung (Paragraph 47). Ein zentraler Punkt ist die hohe Anzahl von Kindern in separierenden Bildungseinrichtungen wie Sonderschulen oder speziellen Klassen. Diese Kinder sind somit vom regulären Bildungssystem ausgeschlossen. Der Ausschuss betonte, dass dies nicht den Anforderungen der BRK entspricht. Die BRK verlangt eine umfassende Inklusion aller Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen, einschliesslich der Bildung. Um diesen Umstand zu ändern, empfiehlt der Ausschuss Folgendes (Paragraph 48): Die Schweiz sollte ein verfassungsmässiges Recht auf inklusive Bildung einführen, eine nationale Strategie aufbauen und den Transfer der Ressourcen von den Sonderschulen zu den inklusiven Schulen umsetzen. Dazu braucht es Aktionen und politisches Engagement. Und es braucht den Willen, das System zu ändern.
Die kritischen Anmerkungen des BRK-Ausschusses werfen Fragen auf: Warum zum Beispiel weist die Schweiz in der Umsetzung der BRK, insbesondere im Bereich der Bildung, einen vergleichsweise geringen Umsetzungsgrad auf? Ein wesentlicher Grund ist die föderalistische Struktur der Schweiz. Da die Verantwortung für das Bildungssystem hauptsächlich bei den Kantonen liegt, existieren erhebliche Unterschiede in der Art und Weise, wie Inklusion gehandhabt wird. Während einige Kantone fortschrittliche Modelle der inklusiven Bildung entwickelt haben, sind andere noch stark auf Sonderschulen angewiesen.
Ein weiterer Faktor ist die Einstellung grosser Teile der Gesellschaft und von Entscheidungsträgern gegenüber dem Konzept der Inklusion. Oftmals wird die Meinung vertreten, dass in Sonderschulen besser auf die Bedürfnisse von Kindern mit Behinderungen eingegangen werden kann als in der Regelschule. Diese Sichtweise vernachlässigt jedoch die grundlegende Forderung der BRK, dass Inklusion mehr ist als nur der Zugang zu Bildung. Inklusion meint die volle und gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Dazu muss ein Wandel auf der Ebene des Systems und nicht auf individueller Ebene stattfinden. Eine andere Haltung lässt auch die letzten Erkenntnisse aus der Wissenschaft der Sonderpädagogik vollkommen unbeachtet.
Das in der BRK verankerte Recht auf Bildung ist von umfassender Natur. Es geht weit über den blossen Zugang zu einer Bildungseinrichtung hinaus. Es impliziert das Recht auf inklusive Bildung. Eine inklusive Bildung bindet alle Menschen in die Gemeinschaft ein – unabhängig von ihren Fähigkeiten. Sie bedeutet eine Anpassung der pädagogischen Konzepte und Methoden von Schule und Unterricht, um den diversen Bedürfnissen aller Lernenden gerecht zu werden. Diesbezüglich sind angemessene Unterstützungssysteme und Ressourcen erforderlich, um Menschen mit Behinderungen eine effektive und gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen. Eine optimierte Zusammenarbeit der beiden Systeme Sonderschule und Regelschule ist notwendig.
Der Bericht des BRK-Ausschusses aus dem Jahr 2022 verdeutlicht, dass es signifikante Defizite gibt bei der Umsetzung des Rechts auf inklusive Bildung. Die Schweiz muss ihre Anstrengungen intensivieren, um zu gewährleisten, dass alle Menschen mit Behinderungen in einem inklusiven Bildungssystem lernen können. Dafür braucht es einen grundlegenden Wandel in der Einstellung gegenüber der Inklusion sowie eine intensivierte Kooperation zwischen Bund und Kantonen. Eine fundierte Ausbildung mit Fokus auf multiprofessionelle Kooperationen und genügend Unterstützung für Lehrpersonen sind nötig, damit diese in der Lage sind, alle Schüler:innen, unabhängig von deren Fähigkeiten, erfolgreich zu unterrichten.
Die Schweiz ist verpflichtet, das Recht auf inklusive Bildung gemäss der BRK vollständig umzusetzen. Dies ist nicht nur eine rechtliche Verpflichtung, sondern auch eine moralische. Das Recht auf Bildung ist ein grundlegendes Menschenrecht, dessen Umsetzung in der Schweiz bisher nicht gewährleistet ist. Die Schweiz muss sicherstellen, dass dieses Recht für alle gilt.
Dr. phil. Barbara Egloff SZH/CSPS |