DOI: https://doi.org/10.57161/z2024-08-06
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 30, 08/2024
Hindernisfreies Bauen – oder behindertengerechtes Bauen, wie es früher hiess – wurde in der Schweizer Architekturszene lange Zeit wie ein unerwünschtes Stiefkind behandelt. Ab Mitte der 1980er-Jahre gab es zwar hin und wieder Medienartikel, die über die Notwendigkeit dieser Bauweise berichteten. Manchmal reagierten einzelne Architekt:innen auch auf diese Anliegen. Am liebsten war es ihnen aber, wenn sich andere darum kümmerten und sie selbst nichts damit zu tun hatten. Allgemein herrschte die Meinung, dass die Massnahmen zugunsten von Menschen mit Behinderungen entweder die Kosten erhöhten oder die gestalterische Freiheit einschränkten. Erst die baugesetzlichen Bestimmungen führten zu einem Umdenken.
Besonders viel Widerstand leisteten die Architekt:innen bei der Planung von Schulbauten. Obwohl Kinder mit Behinderungen ab 1989 gemäss der UN-Kinderrechtskonvention vor einer Diskriminierung geschützt werden mussten, waren Schulhäuser ohne bauliche Hindernisse in dieser Zeit noch eine Seltenheit. Stufenlose Zugänge, genügend grosse Liftanlagen, entsprechende Rollstuhl-WCs oder Orientierungshilfen für Menschen mit einer Sehbehinderung fehlten fast überall. Erst Ende des 20. Jahrhunderts liess sich langsam eine Veränderung bei neuen Schulhäusern feststellen. So entstanden im Zusammenhang mit der Basler Schulreform Mitte der 1990er-Jahre zahlreiche Neubauten von verschiedenen Architekturbüros. Von Beginn an hatte sich das Baudepartement bereit erklärt, das hindernisfreie Bauen miteinzubeziehen. Eine Auswertung ergab, dass die Architekt:innen die Vorgaben mehrheitlich umgesetzt hatten. Die meisten Schulhäuser waren mit dem Rollstuhl zugänglich. Die Lösungswege waren jedoch sehr unterschiedlich und nicht immer hindernisfrei: In einem Fall wurde ein Treppenlift eingebaut, was alles andere als ideal war. In zwei anderen Fällen wurde ein stufenloser Nebeneingang vorgesehen. Dieser war nur durch einen speziellen Schlüssel benutzbar, was die Zugänglichkeit erheblich einschränkte. In sechs von zehn Gebäuden half ein grösserer Lift, auf die verschiedenen Etagen zu kommen. Auch dort war immer ein Schlüssel erforderlich. Dasselbe galt für die Rollstuhl-WCs, die meist einen separaten Raum beanspruchten.
Das Vogesen-Schulhaus ist ein gutes Beispiel, wie damals mit diesen Anliegen umgegangen wurde. Es wurde im Jahr 1996 fertiggestellt. Das Schulhaus hat zwar einen grösseren Lift, aber dieser ist nur durch einen Nebeneingang über den Pausenhof erreichbar. Da in diesem Bereich keine Lehrräume vorhanden sind und der Nebeneingang sowie der Lift immer abgeschlossen sind, kann das Gebäude nicht autonom von Ausstehenden besucht werden. Momentan ist der Lift defekt – Menschen im Rollstuhl haben also keinen Zugang. Grundsätzlich gilt es aber, das Normale für alle benutzbar zu machen und auf Speziallösungen möglichst zu verzichten. Die Architekt:innen des Vogesen-Schulhauses hätten daher den Haupteingang hindernisfrei gestalten sollen. Doch davon sahen sie ab, es gibt heute nur eine lange Treppe. Das Schulhaus kann daher nicht als hindernisfrei bezeichnet werden.
Durch das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG), das im Jahr 2004 in Kraft trat, ist der Bau solcher Schulhäuser nicht mehr möglich. Das BehiG verlangt, dass Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen verringert oder beseitigt werden. Eine «Benachteiligung» liegt laut BehiG dann vor, «wenn Behinderte rechtlich oder tatsächlich anders als nicht Behinderte behandelt und dabei ohne sachliche Rechtfertigung schlechter gestellt werden als diese, oder wenn eine unterschiedliche Behandlung fehlt, die zur tatsächlichen Gleichstellung Behinderter und nicht Behinderter notwendig ist» (Art. 2, Abs. 2). Weiter sieht das BehiG eine Benachteiligung als gegeben an, «wenn der Zugang für Behinderte aus baulichen Gründen nicht oder nur unter erschwerenden Bedingungen möglich ist» (Art. 2, Abs. 3). Damit ist klar: Das Vogesen-Schulhaus und viele andere Schulhausneubauten aus den 1990er-Jahren erhielten heute keine Baubewilligung mehr.
Neubauten hindernisfrei zu gestalten, ist das eine, aber noch viel schwieriger ist die Situation bei älteren Schulbauten. Die meisten von ihnen sind alles andere als hindernisfrei. Es braucht in der Regel eine entsprechende Nachrüstung, was meist nicht einfach zu bewerkstelligen ist. Besonders schwierig ist der Einbau eines Liftes. Zum einen braucht es dafür die entsprechenden finanziellen Mittel, die in vielen Gemeinden und Städten fehlen. Zum anderen sind Eigentümer:innen oft mit Auflagen der Denkmalpflege konfrontiert. Nicht selten wird der Eingriff nur dann bewilligt, wenn die bestehende Substanz und das optische Bild möglichst erhalten bleiben. Dies kann einen grösseren Planungsaufwand und zusätzliche bauliche Massnahmen mit sich ziehen, die ebenfalls kostenintensiv sind.
Dabei wird oft vergessen, dass von einem Lift zahlreiche Personen profitieren – nicht nur Menschen mit Mobilitätsbehinderungen. Einen Vorteil haben an erster Stelle die Reinigungsfachkräfte, die oft schwere Putzmaschinen anschaffen, um die Schulräume effizient reinigen zu können. Es profitieren auch der Hausdienst und die Schulleitung, die schweres Material wie Stühle, Tische, Geräte usw. von einem Stockwerk ins andere transportieren müssen. Ein Lift nützt aber auch Eltern und Grosseltern, die vielleicht schlecht zu Fuss sind und Veranstaltungen in den Klassen besuchen oder Gespräche mit der Lehrerschaft führen wollen. Ein Lift ist eine wichtige und nachhaltige Investition und sollte in jedem Schulhaus zum normalen Standard gehören.
Eric Bertels eric.bertels@bluewin.ch | Nach Abschluss einer dreijährigen Lehre als Innenausbauzeichner arbeitete Eric Bertels einige Jahre in verschiedenen Architekturbüros. Im Jahr 1986 nahm er zufällig an einem Sommerlager mit Kindern mit Behinderung teil. Infolgedessen begann er sich für diese Thematik zu interessieren, und die hindernisfreie Bauweise wurde zu seinem zukünftigen Arbeitsgebiet. Zuerst entwickelte er für die Schweizer Fachstelle Hindernisfreie Architektur in Zürich verschiedene Grundlagen zu dieser Thematik (u. a. zu Wohnbauten, Schulen, Hotels). Anfangs der 1990er-Jahre wurde er von Pro Infirmis Basel-Stadt mit dem Aufbau einer kantonalen Fachstelle beauftragt, die er während 22 Jahren leitete. Zu seinen Hauptaufgaben gehörten die Beratung von Architekten und Bauherrschaften, die Begleitung der relevanten Baugesuche, die Fortbildung von Fachleuten sowie spezifische Öffentlichkeitsarbeit. Mehr als 25 Jahre lang war er für verschiedene Organisationen in diesem Bereich tätig. Daneben hat er sich aber auch engagiert für einen behindertengerechten öffentlichen Verkehr, für die Integration von Kindern mit Behinderung in die Regelschule und für geeignete Arbeitsplätze für Personen mit einer Lernbehinderung in der Hotellerie (Mitgründer von DAS BREITE HOTEL, Basel). Als langjähriger Befürworter der Behindertengleichstellung hat er sich zum Ziel gesetzt, dass die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen besser bekannt und durchgesetzt wird. Er hat in den letzten Jahren verschiedene Bücher über Menschen mit Behinderungen herausgegeben, unter anderem «100 Jahre Behindertenpolitik Schweiz». |