Schweiz, wir haben ein Problem – Benachteiligung in der
Bildung

Ursachen und Lösungsansätze einer dringlichen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderung

Jürg Schoch

Zusammenfassung
In der Schweiz ist Bildungsgerechtigkeit eine rechtlich und gesellschaftlich deklarierte Intention, jedoch keine Realität. Bildungsverläufe werden nicht nur durch die erbrachte Leistung, sondern auch durch die soziale Herkunft bestimmt. Von Bildungsbenachteiligung besonders betroffen sind Kinder und Jugendliche aus sozioökonomisch benachteiligten Familien mit Migrationshintergrund. Wie steht es aktuell um die Chancengerechtigkeit? Wo liegen die Ursachen für Bildungsbenachteiligung und was könnte zu deren Verbesserung beitragen? Der Beitrag geht diesen Fragen nach, insbesondere am Beispiel von Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien.

Résumé
En Suisse, l'équité dans l'éducation est une intention déclarée sur le plan juridique et social, mais pas une réalité. Les parcours de formation ne sont pas seulement déterminés par les performances réalisées, mais aussi par l'origine sociale. Les enfants et les jeunes issus de familles défavorisées sur le plan socio-économique issues de l'immigration sont particulièrement touchés par les désavantages en matière de formation. Qu'en est-il actuellement de cette équité des chances ? Quelles sont les causes du désavantage éducatif et que pourrait-on faire pour remédier à cette situation ? L'article se penche sur ces questions, en particulier sur l'exemple des enfants et des jeunes issus de familles socialement défavorisées.

Keywords: Bildungsbenachteiligung, Bildungsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit in der Bildung, Chancengleichheit, schulische Selektion, soziale Selektivität / désavantages en matière d'éducation, équité dans l'éducation, égalité des chances, équité, sélection scolaire, sélectivité sociale

DOI: https://doi.org/10.57161/z2024-07-01

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 30, 07/2024

Creative Common BY

Einleitung

Die Bundesverfassung garantiert «möglichst grosse Chancengleichheit unter den Bürgerinnen und Bürgern» (Art. 2, Abs. 3). Sie verbietet jegliche Diskriminierung (Art. 8, Abs. 2). Gemäss Artikel 41, Absatz 1. littera f sollen Bund und Kantone sich dafür einsetzen, dass «Kinder und Jugendliche [...] sich nach ihren Fähigkeiten bilden, aus- und weiterbilden können».

Die EDK (Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren) forderte bereits im Jahr 1972 die Kantone auf, «die geeigneten Massnahmen zu treffen, um jede Diskriminierung von Gastarbeiterkindern in der Schule zu vermeiden und diesen womöglich dieselben Aufstiegschancen zu eröffnen wie den Schweizer Kindern» (EDK, 1995a, S. 11). Im Jahr 1995 veröffentlichte die EDK den Bericht «Perspektiven für die Sekundarstufe I» (EDK, 1995b) mit entsprechenden Empfehlungen. Im Jahr 2015 erschien ein EDK-Bericht zu Equity (Haenni Hoti, 2015). Sechs Jahre später forderte der Bundesrat (2021) in seiner «Strategie nachhaltige Entwicklung 2030» den «chancengerechten Zugang zu Bildung» auch dank «optimalen Übergängen» (S. 38).

Klar ist auch, dass fast ausschliesslich bestimmte soziale Gruppen von systematischer Bildungsbenachteiligung betroffen sind: Kinder und Jugendliche aus sozioökonomisch benachteiligten Familien, mehrsprachige Kinder und Jugendliche (oft mit Migrationsgeschichte), Kinder und Jugendliche mit Behinderungen und je nach Fach und Bildungsgang jeweils Mädchen oder Jungen (Kamm et al., 2023).

Der Handlungsbedarf ist theoretisch erkannt. Der Schweizerische Wissenschaftsrat SWR adressiert das Thema unter anderem unter dem Begriff der sozialen Selektivität des Bildungssystems (SWR, 2018). Bildungsverläufe werden nicht nur durch die erbrachte Leistung, sondern auch durch die soziale Herkunft bestimmt. Viele Jugendliche aus den betroffenen Gruppen können ihre kognitiven, volitiven und auch praktischen Fähigkeiten nicht entfalten. Sie können ihr Potenzial zu wenig ausschöpfen. Aktuelle Schätzungen kommen jährlich auf rund 14 000 junge Menschen, die davon betroffen sind. Das hat Folgen für den Fachkräftemangel und führt zu einem gesamtschweizerischen jährlichen Wertschöpfungsverlust in Milliardenhöhe (Oliver Wyman & Allianz Chance+, 2023).

Herkunft zensiert

Betrachtet man die Fremdsprachigkeit, so zeigt sich: Von erstsprachigen Jugendlichen sind 77,8 Prozent in Klassen mit erweiterten Ansprüchen. Sie haben einen direkten Zugang zu Maturitäts- und Fachmittelschulen. Bei fremdsprachigen Jugendlichen sind es 56,5 Prozent (Schweizerische Eidgenossenschaft, 2024).

Bezüglich Jugendlichen mit und ohne Migrationsgeschichte zeigen die Zahlen zu erfolgreichen Abschlüssen auf Sekundarstufe II (inkl. Berufsbildung) folgendes (BFS, 2022): 66 Prozent der in der Schweiz geborenen Schweizer:innen haben mit 25 Jahren eine berufliche Grundbildung und 27,6 Prozent eine Allgemeinbildung abgeschlossen (Abschlüsse insgesamt: 93,6 %). In der Schweiz geborene Ausländer:innen verfügen zu 69,8 Prozent über einen Berufsabschluss und zu 15,8 Prozent über eine abgeschlossene höhere Allgemeinbildung (Abschlüsse insgesamt: 85,6 %). Im Ausland geborene Ausländer:innen erwerben zu 54,5 Prozent einen Berufsabschluss beziehungsweise zu 25,3 Prozent eine höhere Allgemeinbildung (Abschlüsse insgesamt: 79,8 %).

Was den sozioökonomischen Status der Familien der Jugendlichen betrifft, belegt der Bildungsbericht aus dem Jahr 2018, dass an den Schweizer Gymnasien rund ein Viertel aller Schüler:innen «Minderleister» sind (SKBF, 2018, S. 159). Das heisst, sie erbringen in unabhängigen Tests dürftige Leistungen, sind aber trotzdem am Gymnasium, weil sie privilegierte Eltern haben. Damit besetzen sie die Plätze von gleich leistungsfähigen Jugendlichen aus niedrigeren sozialen Schichten.

Auch bei den Studienchancen besteht eine ausgeprägte Selektivität nach sozialer Herkunft (SWR, 2018, S. 47):

Während rund 11 Prozent der Kinder von Eltern mit niedrigem Bildungsniveau ein Universitätsstudium begonnen haben, so war dies für rund 37 Prozent der Akademikerkinder der Fall. Akademikerkinder dieses Jahrgangs haben folglich eine rund 5 Mal höhere Chance, in eine akademische Ausbildung, und eine rund 2,6 Mal höhere Chance, an die FH zu gelangen.

Der Schul- und Ausbildungserfolg wird also wesentlich beeinflusst vom sozialen Status, von der Sprache, vom Bildungsniveau und vom Migrationshintergrund der Eltern. Die soziale Herkunft beispielsweise erklärt gemäss neuesten Zahlen rund 20 Prozent der Leistungsdifferenzen in der Lesekompetenz von 15-Jährigen (Delavy et al., 2024)[1].

Wo liegen die Ursachen für Bildungsbenachteiligung?

Nach Maag Merki (2022) entsteht Bildungsbenachteiligung auf vier Ebenen beziehungsweise in der Interaktion derselben. Auf der individuellen Ebene spielen primäre und sekundäre Herkunftseffekte eine wichtige Rolle. Die Voraussetzungen der Kinder sind verschieden und je nach kultureller Herkunft und sozioökonomischem Status der Familie werden sie von den Eltern schon in der Vorschulzeit gefördert – oder eben nicht. Dazu kommen Entscheidungen der Familie, die selbst bei Begabung und guten schulischen Leistungen des Kindes oder Jugendlichen einer Risikoabwägung entlang gefällt werden: eine Fachmittelschule absolvieren mit der Gefahr des Scheiterns oder doch lieber eine Berufslehre wählen mit sicherem Einkommen ab dem ersten Monat?

Unterricht und Schule beziehungsweise Schuleinheit bilden die zweite Ebene. Wird der Unterricht den Bedürfnissen von benachteiligten Kindern angepasst? Wie weit unterschätzen Lehrpersonen das Potenzial von fremdsprachigen Kindern? Werden Noten eher gemäss der Leistung oder entlang der Herkunft des Kindes erteilt? Einschlägige Untersuchungen zeigen, dass Lehrpersonen dazu tendieren, die Leistungen von Kindern aus benachteiligten Familien schlechter zu bewerten als gleiche Leistungen von Kindern aus privilegierten Familien (Kronig, 2007; Helbig & Morar, 2017).

Das Bildungsangebot einer Region als dritte Ebene kann die Bildungs- und Ausbildungswege von Jugendlichen entscheidend beeinflussen. Ist beispielsweise die nächste erreichbare Berufsmittelschule weit entfernt, werden sich sogar 16-jährige Lernende gut überlegen, ob sie diesen Aufwand auf sich nehmen wollen. Maag Merki (2022) weist darauf hin, dass gerade die Angebotsstruktur im Bereich der Allgemeinbildung und der höheren Berufsbildung stark von regionalen Wertsetzungen bestimmt wird. Herrscht in einer Region die Meinung vor, eine «normale» Berufslehre sei der Königsweg, dann werden die politischen Entscheide bezüglich Schaffung von Bildungsmöglichkeiten entsprechend ausfallen.

Von grosser Tragweite ist die Organisation der schulischen Wege auf der Sekundarstufe I als vierte Ebene. Werden die Schüler:innen nach der 6. Klasse (bzw. dem 8. Schuljahr nach neuer Zählung) in drei oder vier Leistungszüge mit je unterschiedlichem Niveau eingeteilt, so erfolgt diese Selektion relativ früh und entwicklungspsychologisch zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Je strikter die Trennung dieser Niveaus erfolgt, desto grösser erscheint die Gefahr von Bildungsbenachteiligung (Felouzis & Charmilllot, 2017). Genau zwei Prozent derjenigen, die in einem niedrigeren Bildungsniveau auf der Sekundarstufe I eingeteilt wurden, schaffen später einmal den Aufstieg in eine höhere Allgemeinbildung (BFS, 2016, S. 6). Besonders problematisch ist dies, weil es nicht gelingt, die Einteilung der Jugendlichen entlang ihrer effektiven Leistungsfähigkeit vorzunehmen. Unabhängige Leistungsuntersuchungen seit PISA im Jahr 2000 zeigen konstant, dass die besten Schüler:innen aus dem tiefsten Niveau beträchtlich besser abschneiden als die schlechteren Schüler:innen aus den anspruchsvolleren Niveaus (Kronig, 2007; Moser, 2008; Angelone et al., 2013). Zudem erbringen viele Schüler:innen, die in höheren Niveaus eingeteilt sind, so schlechte Leistungen, dass sie eigentlich in ein unteres Niveau gehören würden (vgl. die Überschneidung der drei Kurven in Abb. 1). Das «Sortieren» am Ende der 6. Klasse erfolgt in der Praxis nicht allein auf der Basis der erbrachten Leistungen. Das Beispiel in Abbildung 1 entstammt der Untersuchung der überfachlichen Kompetenzen der TREE-Studie[2].

Abbildung 1: Die Überlappung der Leistung von Schüler:innen aus verschiedenen Anspruchsniveaus Sek I, mathematische Fähigkeiten, 9. Klasse (Gomensoro & Meyer, 2021, S. 21)

Die soziale Selektivität des Bildungssystems zeigt sich demnach auf der strukturellen Ebene insbesondere am Übergang in die Sekundarstufe I (SWR, 2018). Dieser erste Übergang wäre als Nahtstelle gedacht, wird aber in der Praxis für viele Jugendliche zu einer schicksalhaften Bruchstelle.

Was tun?

Anzusetzen ist auf allen vier oben genannten Ebenen. Es ist unbestritten, dass es sich lohnt, in die frühkindliche Bildung zu investieren. Gezielte Förderprogramme und -massnahmen wie a:primo[3] oder Zeppelin[4] zu Gunsten von benachteiligten und/oder fremdsprachigen Familien erleichtern vielen Kindern den Einstieg in ihre schulische Laufbahn. Kindertagesstätten und Tagesschulen sind ebenso Orte individueller Förderung. Im Folgenden gehe ich auf die beiden Ursachenebenen Unterricht und Schuleinheit sowie Organisation des Bildungssystems näher ein.

Unterricht und Schuleinheit als wichtiger Ansatzpunkt

Wichtige Hebel zur Reduktion von Bildungsbenachteiligung haben die einzelnen Schuleinheiten in der Hand. Auch wenn sie Teil des gesamten Bildungssystems und damit der Gesellschaft sind, ist insbesondere die Bedeutung der einzelnen Lehrperson nicht zu unterschätzen. Sie muss eine wohlwollende Beziehung zu jedem Kind aufbauen, Sicherheit vermitteln – auch gegenüber den Eltern – und über ein grosses didaktisches Repertoire verfügen. Individualisierung des Unterrichts und professionelles regelmässiges Lerncoaching gehören ebenso dazu wie hohe Leistungserwartungen an alle Schüler:innen (Hollenstein et al., 2019) und das Bewusstsein für noch nicht entdecktes Potenzial; gerade bei Schüler:innen mit unangepasstem Verhalten oder sprachlichen Schwierigkeiten. Unterstützt werden muss dies auf der Ebene der Schuleinheit durch entsprechende, gemeinsame pädagogische Grundsätze, die von allen schulischen Akteur:innen getragen und gelebt werden; beispielsweise indem sie Bildungsbenachteiligungen vermuten, aufdecken und ihnen mit entsprechenden Schulentwicklungsmassnahmen zu begegnen versuchen. Abbildung 2 veranschaulicht in einer Übersicht die Möglichkeiten einer Schuleinheit, um Chancengerechtigkeit zu fördern.

Abbildung 2: Schuleinheit auf dem Weg zu Chancengerechtigkeit
Auf dem Weg zu Chancengerechtigkeit sollten folgende Punkte erfüllt sein:
1) Beziehung von Lehrperson zu Schüler:in: wohlwollend, Sicherheit vermittelnd, mit hohen Erwartungen
2) Unterricht: individualisiert, inklusive personalisierte Lernbegleitung, breites didaktisches Repertoire
3) Schuleinheit: gemeinsame, diversitätssensible Haltung, gutes Klima, Förderangebote
4) Bildungssystemische Vorgaben: regionale Angebote, spätere Selektion, Beurteilung

Ein optimiertes Bildungssystem als hilfreiche Voraussetzung

Neben der Frage der Fairness und der Qualität der Selektion am Ende der 6. Klasse gibt es den langjährigen Streit um den richtigen Selektionszeitpunkt. Studien zeigen, dass die Leistungsschere zwischen den einmal in einem Sek I-Niveau «Eingespurten» zu einem erheblichen Teil unabhängig von der individuellen Leistungsfähigkeit auseinandergeht (Angelone, 2019). Wer im tiefsten Niveau eingeteilt ist, hat schon (fast) verloren (BFS, 2016). Denn die Erwartungen aller Beteiligten passen sich dem Niveau an. Die Motivation lässt nach, die Ziele und Inhalte sind weniger anspruchsvoll. Die Selbstwirksamkeit sinkt und im Endeffekt die Leistung. Die neuesten PISA-Ergebnisse zeigen, dass sich die Lese- und Mathematik-Ergebnisse der Schweizer Jugendlichen aus dem untersten sozio-ökonomischen Viertel seit Jahren verschlechtert und im Jahr 2022 einen Tiefstand erreicht haben (Erzinger et al., 2023; Delavy et al., 2024).

Aus diesen und diversen anderen Gründen lohnt es sich, über eine Verschiebung des ersten Selektionszeitpunktes um zwei oder drei Jahre nachzudenken. Intuitiv befürchten Eltern und die Politik für diesen Fall aber, dass damit für die leistungsfähigsten Schüler:innen Nachteile einhergehen, weil sie nicht mehr optimal gefördert werden können. Diese Angst ist nachvollziehbar. Sowohl internationale vergleichende wie auch schweizerische Befunde (Schleicher, 2019) deuten aber darauf hin, dass dem nicht so sein muss – wenn der Unterricht entsprechend individuell gestaltet wird, die Erwartungen hoch und die Ressourcen genügend gross sind.

Viele Schüler:innen, die noch mehr Zeit brauchen («Knopf auftun», Sprache und Kultur erfassen usw.) bekämen so mehr Zeit, ohne dass die anderen gebremst würden. Solchermassen durchmischte Klassen sind zwar keine Garantie, aber eine wichtige Voraussetzung für Chancengerechtigkeit. Dies hat mit der Verschiebung auf eine entwicklungspsychologisch geeignetere Phase zu tun und auch damit, dass den Lehrpersonen stärker bewusst wird: Sie haben 22 oder 24 junge Individuen vor sich, die sich bezüglich (Vor-)Wissen, Interesse, Motivation, familiärer Situation und persönlicher Entwicklung enorm unterscheiden. Jede Person steht an einem anderen Ort. Individuelle Wahrnehmung und Förderung sind gefragt, ebenso Coaching und Begleitung in individuellem Setting. Wichtig ist auch, dass dabei die Durchmischung der Klassen optimiert wird. Die Forschung berichtet von Kippeffekten in der schulischen Leistung bei einem Anteil von 30 bis 40 Prozent benachteiligter Jugendlicher in einer Klasse (Dlabac et al., 2021). Inspiration diesbezüglich liefert der Kanton Tessin, der mit einem Gesamtpaket an Massnahmen von drei Kindergartenjahren über individuelle Förderung bis hin zu einer selektionsfreien Scuola Media in der aktuellen PISA-Studie Höchstleistungen bei geringer sozialer Selektivität nachweisen kann (Ambrosetti & Salvisberg, 2023).

Das Bildungssystem kann nur ein Teil der Lösung sein

Es ist vermessen, von den einzelnen Schuleinheiten und vom Bildungssystem allein die Bewältigung der Herausforderung Bildungsgerechtigkeit zu fordern. Die Zusammenhänge sind grösser. Städtebauer:innen und Quartierplaner:innen sind zu sensibilisieren (Stichwort soziale Durchmischung). Die Sozialpolitik ist ebenso gefordert wie die Steuerpolitik (Stichworte «Armut gebiert Bildungsarmut, Bildungsarmut gebiert Armut», Erbschaftssteuern), aber auch die Wirtschaft und zivilgesellschaftliche Akteur:innen aller Art haben ihre Aufgaben zu machen (Stichworte «Potenzialförderung auf Ebene Branche und Betrieb» oder Inklusionswille).

Die Wunderfrage

Steve de Shazer, Gründer des lösungsorientierten Ansatzes, gilt als Vater der Wunderfrage: «Stell dir vor, du wachst morgen früh auf und dein Problem ist gelöst. Was ist passiert?» Um die systematische Bildungsbenachteiligung massiv zu reduzieren, braucht es noch einige Wunder, zum Wohl der einzelnen jungen Menschen in diesem Land, für den sozialen Frieden, zur Aufrechterhaltung der Demokratie und nicht zuletzt für eine gesunde Wirtschaft.

Allianz Chance+

Der gemeinnützige Verein Allianz Chance+ (www.chanceplus.ch) unterstützt kantonsübergreifend Förderangebote für begabte und motivierte Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien an den Übergängen zur Sekundarstufe I und Sekundarstufe II. Im Zentrum steht momentan unter anderem eine wissenschaftlich begleitete Entwicklung von Förderprogrammen für Kinder der 5. und 6. Primarklassen (Projekt Chance P+). Gleichzeitig lässt der Verein ein validiertes statistisches Instrument entwickeln. Damit können diversitätssensible Schuleinheiten herausfinden, welche Schüler:innen beziehungsweise sozialen Gruppen bisher unterschätzt beziehungsweise zu wenig gefördert wurden (Projekt Chancenindex). Allianz Chance+ betreibt auch Öffentlichkeits- und Aufklärungsarbeit zu Fragen der Bildungsgerechtigkeit, insbesondere im Bereich der notwendigen strukturellen Anpassungen von Schulorganisation und Schulpraxis.

Dr. phil. Jürg Schoch
em. Professor Zürcher Fachhochschule ZFH

Präsident Allianz Chance+

präsident@chanceplus.ch

Literatur

Ambrosetti, A. & Salvisberg, M. (2023). PISA Ticino 2022. Centro competenze innovazione e ricerca sui sistemi educativi.

Angelone, D. (2019). Schereneffekte auf der Sekundarstufe I? Zum Einfluss des Schultyps auf den Leistungszuwachs in Deutsch und Mathematik. Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften, 41 (2), 446–466. https://doi.org/10.25656/01:20350

Angelone, D., Keller, F. & Moser, U. (2013). Entwicklung schulischer Leistungen während der obligatorischen Schulzeit. Universität Zürich, Institut für Bildungsevaluation.

BFS (Bundesamt für Statistik) (2016). Der Übergang am Ende der obligatorischen Schule. Ausgabe 2016. Eidgenössisches Departement des Inneren EDI. https://www.bfs.admin.ch/asset/de/1520326

BFS (Bundesamt für Statistik) (2022). Erwerb eines Abschlusses der Sekundarstufe II durch die Jugendlichen, die im Jahre 2010 15 Jahre alt wurden. Eidgenössisches Departement des Innern EDI. https://www.bfs.admin.ch/news/de/2022-0039

Bundesrat (2020). Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030 vom 23. Juni 2021. https://www.are.admin.ch/are/de/home/medien-und-publikationen/publikationen/nachhaltige-entwicklung/strategie-nachhaltige-entwicklung-2030.html

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV) vom 18. April 1999, SR 101.

Delavy, F., Seiler, S., Aegerter, A., Diarra, J., Baron, F. & Erzinger, A. B. (2024). Soziale Herkunft und Lesekompetenzen – aktuelle Trends. Universität Bern. http://dx.doi.org/10.48350/196762

Dlabac, O., Amrhein, A. & Hug, F. (2021). Durchmischung in städtischen Schulen, eine politische Aufgabe? Studienberichte des Zentrums für Demokratie Aarau, Nr. 17. https://www.zdaarau.ch/de/publikationen/durchmischung-in-staedtischen-schulen-eine-politische-aufgabe-optimierte-schulische-einzugsgebiete-fuer-schweizer-staedte/

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Erzinger, A. B., Pham, G., Prosperi, O. & Salvisberg, M. (Hrsg.) (2023). PISA 2022. Die Schweiz im Fokus. Universität Bern. https://dx.doi.org/10.48350/187037

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Kronig, W. (2007). Die systematische Zufälligkeit des Bildungserfolgs. Haupt.

Maag Merki, K. (2022). Reduktion von Bildungsbenachteiligung in der Volksschule: Inhaltliche Grundlagen und konkrete Handlungsmöglichkeiten. Unveröffentlichtes Referat, Volksschulamt des Kantons Zürich.

Moser, U. (2008). Schulsystemvergleich: Gelingensbedingungen für gute Schulleistungen. Expertise über die Bedeutung von Schulmodellen der Sekundarstufe I für die Entwicklung der Schulleistungen. Universität Zürich, Institut für Bildungsevaluation.

Oliver Wyman & Allianz Chance+ (2023). Bildungsgerechtigkeit. Eine Chance für die Schweizer Wirtschaft. https://chanceplus.ch/wp-content/uploads/2023/06/20230623_Bildungsgerechtigkeit_Eine-Chance-f-ur-die-Wirtschaft_vMedien.pdf

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SKBF (2018). Bildungsbericht Schweiz 2018. Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung.

SKBF (2023). Bildungsbericht Schweiz 2023. Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung.

SWR (Schweizerischer Wissenschaftsrat) (2018). Soziale Selektivität. Empfehlungen des Schweizerischen Wissenschaftsrates SWR. Expertenbericht von Rolf Becker und Jürg Schoch im Auftrag des SWR. https://wissenschaftsrat.ch/images/stories/pdf/de/Politische_Analyse_SWR_3_2018_SozialeSelektivitaet_WEB.pdf

  1. Delavy et al. (2024) haben eine vertiefte Analyse der Daten des Bildungsberichts 2023 (SKBF, 2023) vorgenommen.

  2. TREE (Transitionen von der Erstausbildung ins Erwerbsleben) ist eine multidisziplinäre, gross angelegte Längsschnittstudie, die qualitativ hochwertige Längsschnittdaten zu Bildungs- und Erwerbsverläufen in der Schweiz für die Wissenschaft zur Verfügung stellt.

  3. https://www.a-primo.ch/de

  4. https://zeppelin-familien.ch