Bildungsgerechtigkeit: Vorstellung und Realität

Michael Blank

DOI: https://doi.org/10.57161/z2024-07-00

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 30, 07/2024

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Was benötigen Lernende für einen erfolgreichen Bildungsweg? Neben Leistung, Ausdauer und der Hilfe von anderen Menschen brauchen sie überhaupt erst Zugang zum Bildungssystem, um ihr Potenzial ausschöpfen zu können. Der Begriff «Bildungsgerechtigkeit» zielt auf genau diesen Zugang ab und somit auf einen erfolgreichen Bildungsweg für alle. In der Schweiz ist die Chancengleichheit in Artikel 2 der Bundesverfassung verankert, Artikel 24 der Behindertenrechtskonvention (BRK) verlangt von den Vertragsstaaten «ein integratives Bildungssystem» auf Basis ebendieser Chancengleichheit. Obwohl die Bildungsgerechtigkeit gesetzlich verankert ist, haben heute nicht alle Menschen denselben Zugang zum Bildungssystem und damit auch nicht dieselben Chancen auf einen Ausbildungserfolg – Bildungsgerechtigkeit entspricht in der Schweiz nicht der Realität.

Verschiedene Faktoren können einzelne soziale Gruppen auf ihrem Bildungsweg benachteiligen und ihren Zugang zur Bildung einschränken – zum Beispiel der sozioökonomische Status. Die neuste Pisa-Studie hat ergeben, dass das Mathematikniveau von Schüler:innen aus dem untersten sozialen Viertel im Schnitt 120 Punkte tiefer liegt als das der Schüler:innen aus dem obersten Viertel. Kinder aus privilegierten Familien haben folglich Ende der obligatorischen Schulzeit rund drei Jahre Lernvorsprung in Mathematik gegenüber Kindern aus der untersten sozialen Schicht (40 Punkte entsprechen ca. einem Schuljahr). Die Covid-19-Pandemie hat zudem gezeigt, dass Lernende aus sozial und finanziell gut gestellten Familien im Fernunterricht einen Vorteil haben, da sie eher über digitale Hilfsmittel verfügen (z. B. ein Laptop). Die soziale Herkunft ist aber nicht der einzige «hemmende» Faktor für Bildungsgerechtigkeit. Auch geistige und körperliche Beeinträchtigungen, das Geschlecht sowie ein Migrationshintergrund (häufig in Kombination mit Mehrsprachigkeit) führen oftmals zu einer Benachteiligung im Bildungssystem.

Treffen verschiedene dieser Faktoren zusammen, kann eine Mehrfachbenachteiligung entstehen. Diese verschärft sich durch die frühe Selektion für den Sek I- beziehungsweise Sek II-Übertritt: Die Einteilung basiert nicht immer nur auf den Leistungen der Schüler:innen, sondern auch auf den «hemmenden» Faktoren. Zudem haben schwächere Leistungen von Lernenden ihren Ursprung oft in der sozialen Herkunft und/oder in der fehlenden Unterstützung – Ursachen, die nichts mit dem Individuum und seiner effektiven Leistungsfähigkeit zu tun haben.

Stand heute ist das Schweizer Bildungssystem alles andere als gerecht. Manche Menschen können darin erfolgreich bestehen. Andere werden durch ihre individuellen Voraussetzungen in diesem System stark benachteiligt und in ihrem Lernerfolg eingeschränkt. Bildungsgerechtigkeit heisst nicht, allen Lernenden dieselben Voraussetzungen auf ihren Bildungsweg mitzugeben. Bildungsgerechtigkeit bedeutet, allen Menschen dieselbe Möglichkeit zu geben, mit ihren jeweiligen Voraussetzungen das bestmögliche Resultat zu erreichen. Nur eine Anpassung der Strukturen und nicht eine Anpassung der Menschen führt zu einem gerechten Bildungssystem, das Bildung für alle uneingeschränkt zugänglich macht.

Michael Blank

Wissenschaftlicher Mitarbeiter

SZH/CSPS

michael.blank@szh.ch