Vier Prinzipien für erfolgreiche Erstausbildungen im ersten
Arbeitsmarkt

Learnings aus den Erstausbildungen in den Gastronomiebetrieben von Blindspot

Oliver Maier und Jonas Staub

Zusammenfassung
Junge Erwachsene mit einer kognitiven Beeinträchtigung absolvieren eine Ausbildung immer noch häufig in Institutionen und nicht im ersten Arbeitsmarkt, obwohl dies mit einigen Vorteilen einhergehen würde. Der Artikel gibt einen Einblick in die von Blindspot initiierten inklusiven Ausbildungen in Gastronomiebetrieben im ersten Arbeitsmarkt. Aus diesen Erfahrungen sind vier Grundprinzipien entstanden: «Ermöglichendes Zutrauen», «Achtsame Zurückhaltung», «Partizipation» und «Normalisierung». Die Prinzipien werden erläutert anhand des Ausbildungsprozesses – angefangen von Schnuppereinsätzen bis hin zum Ausbildungsabschluss – und durch Zitate von Auszubildenden und Berufsbildner:innen veranschaulicht.

Résumé
Les jeunes adultes ayant un trouble du développement intellectuel suivent encore souvent une formation dans des institutions plutôt que sur le marché primaire ou ordinaire du travail, malgré les avantages que cela comporte. Cet article propose un aperçu des formations inclusives initiées par Blindspot dans des entreprises de restauration sur le marché du travail ordinaire. Quatre principes de base sont nés de ces expériences : « confiance facilitatrice », « observation attentive sans intervention », « participation » et « normalisation ». Ces principes sont explicités à l'aide du processus de formation – depuis les stages de découverte jusqu'à la fin de la formation – et illustrés par des citations d'apprenties et apprentis ainsi que de formatrices et formateurs.

Keywords: Berufsbildung, berufliche Integration, kognitive Beeinträchtigung, Behindertenrechte, Inklusion / formation professionnelle, intégration professionnelle, déficience intellectuelle, droits des personnes handicapées, inclusion

DOI: https://doi.org/10.57161/z2024-07-06

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 30, 07/2024

Creative Common BY

Einleitung

Menschen mit Beeinträchtigung werden im heutigen Arbeitsmarkt nach wie vor weitgehend separiert. Und dies, obwohl in der von der Schweiz 2014 ratifizierten Behindertenrechtskonvention (BRK) in Artikel 24 ein «integratives Bildungssystem auf allen Ebenen» und in Artikel 27 das gleiche Recht auf einen zugänglichen Arbeitsmarkt und ein frei gewähltes Arbeitsumfeld festgehalten wurden. Um diese Menschenrechte nachhaltig gewähren zu können, ist es wichtig, Ausbildungen im ersten Arbeitsmarkt anzubieten und somit bereits den Einstieg ins Arbeitsleben nach Möglichkeit inklusiv zu gestalten.

Der Übergang von der obligatorischen Schule in die Sekundarstufe II gelingt besser, wenn die Jugendlichen inklusiv geschult worden sind (Beer, 2023). Auch der Übergang in den ersten Arbeitsmarkt ist nach einer Ausbildung im ersten Arbeitsmarkt erleichtert (bzw. bleiben die jungen Erwachsenen ihm direkt erhalten), was separativen Strukturen langfristig entgegenwirkt. So bestätigen beispielsweise Parpan-Blaser et al. (2014) sowie Sempert und Kammermann (2010), dass die Hürden beziehungsweise die «Klebeeffekte» gross sind, nach Abschluss der Ausbildung im geschützten Rahmen in den ersten Arbeitsmarkt zu wechseln. Somit bleiben viele Menschen mit Beeinträchtigung ihr gesamtes Erwerbsleben in Sonderstrukturen beschäftigt. Darum ist es besser, unter dem Modell «Erst platzieren – dann trainieren» zu agieren. Dadurch werden Auszubildende unter realen Bedingungen auf die spätere Arbeitssituation vorbereitet, mit vielfältigen nachhaltigen Vorteilen wie einer höheren Arbeitszufriedenheit, einem Gefühl der gesellschaftlichen Teilhabe und Wertschätzung sowie einer geringeren finanziellen Benachteiligung (Hofmann & Schaub, 2016; Zemp & Staub, 2022). Auch die Vorteile für Unternehmen, Menschen mit Beeinträchtigung auszubilden und einzustellen – wie eine erhöhte Gesamtproduktivität (Solovieva et al., 2011), ein gestärktes Gemeinschaftsgefühl (Böhm et al., 2013) und eine grössere Auswahl an Personen im Recruiting-Prozess (Lindsay et al., 2023) – wurden bereits in einigen Studien bestätigt.

Obwohl die Vorteile bekannt sind, hat sich noch kein wirklicher Wandel in der Ausbildungspraxis von Menschen mit Beeinträchtigung vollzogen. So stellt Inclusion Handicap im Schattenbericht zur BRK-Prüfung fest: «Jungen Menschen mit Bedarf an weitergehenden Anpassungen, insb. mit kognitiven und psychosozialen Behinderungen, bleibt der Zugang zur zertifizierenden Berufsbildung oft von Vornherein verwehrt» (Hess-Klein & Scheibler, 2022, S. 78). Die Invalidenversicherung (IV) würde Ausbildungen nur bei Aussicht auf ein gewisses Mindesteinkommen finanzieren und diese fänden mehrheitlich in separativen Settings statt (ebd.).

Weil es nur wenige inklusive Ausbildungen im ersten Arbeitsmarkt gibt, fehlen sowohl Informationen zu Voraussetzungen und Faktoren, die den Erfolg ausbildungsbegleitender Massnahmen fördern, als auch fundierte Handlungsempfehlungen für involvierte Akteur:innen. Hier setzt der vorliegende Artikel an, indem ein Einblick in vier Grundprinzipien gegeben wird. Diese haben sich in den von Blindspot initiierten inklusiven Berufsausbildungen in eigenständigen Gastronomiebetrieben bewährt. Der Artikel baut auf den Erfahrungen aus den bisher erfolgten und laufenden Berufsausbildungen auf. Diese Erfahrungen werden durch Zitate aus Interviews ergänzt, die im Frühling 2024 mit aktuellen und ehemaligen Auszubildenden und einem Berufsbildner geführt worden sind.

Blindspot – Inklusion und Vielfaltsförderung Schweiz steht dafür ein, dass alle Menschen selbstbestimmt und aktiv am Leben teilhaben können. Hierfür organisiert Blindspot seit 2005 verschiedene Inklusionsprojekte in den Bereichen Freizeit, Arbeit und Wohnen. In den inklusiven Ausbildungsbetrieben und eigenständigen GmbHs im ersten Arbeitsmarkt Provisorium46 und Fabrique28 bietet Blindspot inklusive Berufsausbildungen in der Küche und im Service an. Zusätzlich werden Unternehmen im Projekt «Arbeitsmarkt Inklusiv» beraten und darin unterstützt, inklusiv zu werden. Mehr Informationen unter: www.blindspot.ch

Schnuppereinsätze und Entscheidung über die Ausbildungsstelle – erstes Prinzip «Ermöglichendes Zutrauen»

Jede Ausbildung startet mit einem Schnuppereinsatz. Dieser dauert mindestens eine Woche und gewährt Einblicke in verschiedene Tätigkeiten, Prozesse und Anforderungen. Die Schnuppereinsätze finden entweder an einem Stück statt oder aufgeteilt über mehrere Wochen jeweils zu verschiedenen Arbeitszeiten. Während der Schnuppereinsätze werden die potenziellen Lernenden von den potenziellen Berufsbildner:innen begleitet. Sie erhalten bereits erste Coachings durch inklusiv geschultes Fachpersonal von Blindspot.

Am Ende der Schnuppereinsätze beraten alle Beteiligten – also die Auszubildenden, in der Regel begleitet durch ihre Eltern/Beistandschaft, die Betriebsleitung, potenzielle Berufsbildner:innen und das pädagogische Personal – über die bestmögliche Zukunft der Bewerbenden und darüber, ob die Grundvoraussetzungen erfüllt sind.[1] Der Entscheid wird von der Betriebsleitung und der Geschäftsleitung Blindspot getroffen.

Die Voraussetzungen, um eine Ausbildung in einem der Gastronomiebetriebe zu absolvieren, werden bewusst tief gehalten. Hierzu zählen insbesondere die Fähigkeit zu kommunizieren und eine intrinsische Motivation für den Ausbildungsberuf. Im Gastronomiegewerbe ist weiter die Freude am Umgang mit Menschen entscheidend, was nicht heisst, dass der Umgang bereits auf hohem Niveau eingeübt sein muss. Solange die Motivation und der Wille zu lernen vorhanden sind, geht es in einer Ausbildung schliesslich darum – mit der richtigen Unterstützung – Neues zu lernen und das vorhandene (häufig unterschätzte) Potenzial auszuschöpfen. Schon oft haben wir festgestellt: Es ist oft mehr möglich als am Anfang gedacht. Das erste Prinzip, das Ausbildungen begleitet, lautet daher «Ermöglichendes Zutrauen». Es geht darum, Möglichkeiten und das Potenzial zu sehen und etwas auszuprobieren.

Man kann jetzt nicht sagen, es wird nichts, bevor man es ausprobiert hat. (Auszubildender, 19. J.)
Also ich finde schon, gewisse Voraussetzungen müssen da sein. Wenn man gar nicht mit Leuten umgehen kann, dann würde ich es eher nicht empfehlen und sagen, lieber in einem anderen Bereich. Aber wenn ich sehe, das Potenzial ist da, auch wenn es etwas Zeit braucht, ist das gar kein Problem. Wenn ich sehe, dass sie es versuchen, dann kann man es immer machen. (Berufsbildner)

Ausbildungsstart – zweites Prinzip «Achtsame Zurückhaltung»

Wenn der Entscheid für eine Ausbildung gefallen ist, werden die Auszubildenden zunächst auf den Ausbildungsstart vorbereitet. Dieser erfolgt in der Regel in Form eines Praktikums, um erste Erfahrungen zu sammeln und sich mit dem (kollegialen) Umfeld bekannt zu machen. Hierdurch können eventuelle Startschwierigkeiten abgemildert werden, da ein Ausbildungsbeginn und gleichzeitiger Start der begleitenden Schule viele herausfordernde Veränderungen gleichzeitig mit sich bringt.

Und im letzten Schuljahr bin ich jeden Mittwoch hier schnuppern gegangen. Und dann habe ich gefunden, dass es cool ist, hier zu arbeiten. Und dann habe ich eine Lehre angefangen und angefangen hier zu schaffen. (Auszubildende, 18 J.)

Zum Ausbildungsstart wird ausserdem gemeinsam mit den Auszubildenden über die Anzahl Coachings entschieden. In der Regel werden zwischen zwei und drei Coachings pro Woche pro Person durchgeführt, im Umfang von insgesamt etwa drei bis fünf Stunden. Die zu Beginn festgelegten Coachings müssen nicht konstant beibehalten werden, sondern werden situations- und bedarfsgerecht angepasst. So werden sie teilweise reduziert, wenn weniger notwendig sind, oder in herausfordernden Situationen, wie beispielsweise Prüfungsvorbereitungen, erhöht.

Ein Prinzip, das insbesondere beim Ausbildungsstart, aber auch während der gesamten Ausbildungszeit, angewendet wird, lässt sich zusammenfassen unter «Achtsame Zurückhaltung». Die in der Ausbildung involvierten Beteiligten – die Betriebsleitung, die Berufsbildner:innen und das sozialpädagogische Fachpersonal – beobachten die auszubildende Person achtsam. Das heisst, sie sind dazu angehalten, sich nach Möglichkeiten zurückzuhalten und nicht einzugreifen. Herausforderungen sollten nicht von vorneherein verhindert, sondern zunächst lediglich beobachtet werden. Dies ermöglicht Lerneffekte und Verantwortungsübernahme. Es regt die Problemlösungskompetenzen der Auszubildenden, aber auch des gesamten Teams an. Diese werden häufig unterschätzt.

Aber der Michael (anonymisiert) zum Beispiel merkt viel, was ich schon kann und wie schnell ich etwas auffasse und dann sagt er mir nicht mehr, mach das so und so, sondern kannst du das noch machen gehen? (Auszubildender, 19 J.)

In Verbindung mit dem Normalisierungsprinzip (vgl. viertes Prinzip) können viele alltäglich Situationen «ausgehalten» werden, bei denen bis anhin oftmals verfrüht eingegriffen wurde. Die Achtsamkeit verhindert dabei eine schädliche Überforderung und ist entscheidend, um nicht in ein Ignorieren zu fallen. In welchen Situationen interveniert wird und von wem, wird jeweils in den Inklusionseinführungen von allen festangestellten Mitarbeiter:innen besprochen und regelmässig gemeinsam reflektiert. Weiterhin hat Blindspot im Kontext des Projekts «Arbeitsmarkt Inklusiv» eine «Interventionsskala»[2] entwickelt, die Unternehmen Hilfestellungen gibt und typische Situationen und sinnvolle Massnahmen festhält. Das Prinzip geht Hand in Hand mit dem Prinzip «Ermöglichendes Zutrauen».

Was mir gefallen hat, war mit den Leuten zu sprechen. Und schnell zu arbeiten. Das ist für mich neu gewesen und etwas Stress gewesen und das ist gut, weil es auch gut für mich ist. Und auch für meine Abschlussprüfung. Dafür lerne ich in Stresssituationen mehr Kommunikation. (Auszubildende, 18 J.)

Ausbildung – drittes Prinzip «Partizipation»

Für eine erfolgreiche Ausbildung ist das dritte Prinzip, die «Partizipation» aller Beteiligten, von entscheidender Bedeutung. Die Koordination zwischen den Auszubildenden, den Berufsbildner:innen, den Coaches, den Bezugspersonen und der IV kann zwar zeitintensiv sein (insbesondere vor Ausbildungsbeginn), aber sie ist für einen geregelten Ablauf und unterstützende Routinen entscheidend. Auszubildende werden dabei, wann immer möglich, direkt einbezogen und nicht indirekt über die Bezugspersonen. So können sie Verantwortung übernehmen und sich weiterentwickeln.

Die Rollen und Aufgaben von Coachings müssen bedarfsgerecht mit den Auszubildenden vereinbart, aber auch mit den Berufsbildner:innen abgestimmt werden. So werden die fachliche Anleitung und die pädagogische Unterstützung klar voneinander getrennt. Dies verschafft allen Akteur:innen Sicherheit diesbezüglich, welche Themen und Aspekte mit wem besprochen werden.

Ich finde die Coachings sehr wichtig, weil sich dadurch Fachpersonen aus dem sozialen Bereich beteiligen, die ganz genau wissen, wie mit den Leuten umgehen. Und sie geben den Auszubildenden nochmal andere Inputs und ein anderes Umfeld als wir und sehen andere Sachen, die ich gar nicht sehe. Ein offener Austausch mit den Coaches ist mir deswegen sehr wichtig. (Berufsbildner)

Der Einbezug der Bezugspersonen hängt primär von den Wünschen und Möglichkeiten der Auszubildenden ab (insbesondere bei Volljährigkeit). Hier müssen Erwartungen geklärt und klar kommuniziert werden, damit eine gute Zusammenarbeit möglich wird, mit Fokus auf das Beste für die Auszubildenden. Ein überfürsorgliches Eingreifen ist zu verhindern, weil dies Inklusionsprozesse beeinträchtigen kann.

Auch die Zusammenarbeit mit der IV gestaltet sich von Fall zu Fall unterschiedlich. Teilweise muss sie einmalig geregelt werden, um anschliessend relativ unkompliziert durch halbjährliche Zwischenberichte (verfasst durch Coaches von Blindspot) und etwa einmal pro Jahr stattfindende Standortgespräche begleitet zu werden. In anderen Fällen gibt es unterschiedliche Wahrnehmungen eines sinnvollen Unterstützungsbedarfs. Teilweise sieht die IV auch eine Ausbildung als nicht realistisch beziehungsweise als nicht «rentenrelevant» an (Hess-Klein & Scheibler, 2022, S. 88). Dann muss Blindspot für deren Durchführung und Unterstützung argumentieren – häufig mit Erfolg. Auch wenn die IV klaren Vorgaben zu folgen hat, die für die Gleichbehandlung aller Personen wichtig sind, verfügen die bei der IV angestellten Einzelpersonen dennoch über einen Ermessensspielraum, der aktiv genutzt werden sollte, um die Inklusion zu fördern.

Das Prinzip der Partizipation kommt insbesondere in den Zielvereinbarungen (vgl. Infobox) zur Geltung. In den Gastronomiebetrieben werden mit allen festangestellten Mitarbeitenden – egal ob in einer Ausbildung oder einer Anstellung – alle vier Monate Zielvereinbarungen beschlossen. Diese werden gemeinsam von einer Fachperson von Blindspot und den Mitarbeiter:innen mit Beeinträchtigung unter Beizug der Berufsbildner:innen festgelegt. Die Einschätzungen, Wünsche und Möglichkeiten müssen gemeinsam, ehrlich und transparent diskutiert werden. Ausprobieren und Fehler machen (dürfen) gehört zum Erfahrungsprozess dazu, genauso wie eine aktive Feedbackkultur (geben und nehmen).

Ich finde es sehr angenehm und hilfreich, dass ich Coachings habe. Weil von mir aus kann ich nicht so gut sagen, wo meine Schwächen sind, aber von aussen kann vielleicht jemand das sehen und dann ist es sehr hilfreich, so jemanden zu haben. (Auszubildender, 19 J.)

Wenn die Perspektiven und Wünsche von allen partizipativ eingebunden werden, können Ziele eher erreicht werden. Alle arbeiten gemeinsam an der Erfüllung der Zielvereinbarung und nicht nur die Person, die die Zielvereinbarung direkt betrifft. Alle können sich gegenseitig daran erinnern und einander motivieren.

Zielvereinbarungen bei Blindspot

Zielvereinbarungen werden mit dem Zweck erstellt, dass sich alle mit den eigenen Zielen, Bedürfnissen und Wünschen auseinandersetzen und um Fachkompetenzen und Soft Skills zu fördern. Zunächst werden bei Stellenantritt berufliche und persönliche Fernziele bestimmt, die langfristig motivieren und in Standortgesprächen besprochen werden. Alle vier Monate werden jeweils zwei bis drei Ziele festgelegt, an denen in den nächsten vier Monaten aktiv gearbeitet wird. Diese können Fachkompetenzen (Schneidtechniken, Bedienung der Kasse) oder Soft Skills (Gästekommunikation, Selbstständigkeit, Feedbacks geben und nehmen) betreffen. Nach der partizipativen Bestimmung des Ist-Zustandes (Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung durch Coach) werden Indikatoren für die Kontrolle festgelegt, mögliche Zwischenschritte formuliert und eventuelle Hilfsmittel (bspw. visuelle Erinnerungen) erstellt. Nach zwei Monaten führt die prozessverantwortliche Fachperson ein Monitoring durch, um zu prüfen, ob die Person mit ihren Zielen auf Kurs ist. Nach vier Monaten gibt es eine Zielevaluation, in der bestimmt wird, ob das Ziel erreicht, teilweise erreicht oder nicht erreicht wurde. Es werden wichtige Learnings, aber auch Herausforderungen festgehalten. Für eine Vergleichbarkeit und Transparenz nutzt Blindspot den selbst entwickelten internen Zielvereinbarungsprozess.

Ausbildungsabschluss und Start ins Berufsleben – viertes Prinzip «Normalisierung»

Das vierte Prinzip «Normalisierung» wird während der gesamten Ausbildung angewendet. Es lässt sich anhand des Ausbildungsabschlusses allerdings besonders gut verdeutlichen. Unter Normalisierung versteht Blindspot, dass die Auszubildenden mit Beeinträchtigung keine Sonderbehandlung erhalten, sondern im Rahmen der Möglichkeiten unter gleichen Bedingungen und Anforderungen in die Gesellschaft inkludiert werden. In den Betrieben heisst dies zum Beispiel, dass sie die gleichen Pausenregelungen haben (einschliesslich Zeiterfassung und «Ausstempeln»), die gleichen Personalpreise für die Verpflegung oder bei Fehlverhalten verwarnt und bei Wiederholung gekündigt werden könnten. Inklusion heisst nicht nur gleiche Rechte, sondern auch gleiche Pflichten.

Weiter werden in den Betrieben von Blindspot auch die PrA-Abschlussprüfungen durch externe Expert:innen durchgeführt, um eine reale Prüfungssituation herzustellen. Wenn die Auszubildenden nach der Ausbildung in einem der Betriebe von Blindspot bleiben wollen oder sich für einen anderen Betrieb im ersten Arbeitsmarkt interessieren, müssen sie sich bewerben (einschliesslich Motivationsschreiben, Lebenslauf und Foto) und einen vollständigen Bewerbungsprozess absolvieren.

Mein Selbstbewusstsein hat sich drastisch geändert. Weil jetzt kann ich wirklich sagen: Ich höre jetzt auf mich. Und ich tue das, was mir gut tut, anstatt einfach zu hoffen, dass es gut geht. Und ich bin mir bewusst, dass ich auch selber schauen muss, dass es mir gut geht. (Auszubildender, 19 J.)

Diskussion und Ausblick

Die Prinzipien «Ermöglichendes Zutrauen», «Achtsame Zurückhaltung», «Partizipation» und «Normalisierung» haben sich bei den Erstausbildungen in den von Blindspot initiierten Gastronomiebetrieben bewährt. Sie motivieren Unternehmen dazu, mit der Inklusion zu starten – ähnlich zum Buchtitel von Raúl Aguayo-Krauthausen «Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden» (2023). Die «Partizipation» aller Beteiligten, insbesondere der Auszubildenden mit Beeinträchtigung, ist sowohl ein Ziel der Inklusion an sich – «Nichts über uns, ohne uns» – als auch ein Mittel, um inklusive Ausbildungen erfolgreich durchzuführen. «Normalisierung» ist ebenfalls Methode und Ziel zugleich.

Die genaue Ausgestaltung der Prinzipien hängt vom Einzelfall ab und ist schwer zu verallgemeinern. Typische Herausforderungen, aber auch Erfolgsfaktoren, die bei der Ausgestaltung unterstützen können und ein Gefühl für mögliche aufkommende Situationen vermitteln, wurden von Blindspot in diversen Leitfäden zusammengefasst und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt (vgl. Fussnote oben). Diese können als Basis genutzt und betriebsspezifisch angepasst werden. Beratungen durch verschiedene Inklusionsexpert:innen zur konkreten Implementierung der erwähnten Instrumente, zum erwartbaren Inklusionsprozess (vgl. dazu auch das «3-Phasen-Modell der Inklusion» von Maier & Staub, 2023) sowie die Nutzung der «Interventionsskala» werden empfohlen.

Um weiter dazuzulernen, hat Blindspot unter der Leitung der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) und in Beteiligung mit der gibb – Berufsfachschule Bern ein Projekt initiiert mit dem Titel «Weiterentwicklung inklusive Berufsbildung».[3] Bis März 2027 soll das vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) unterstützte partizipative Projekt Möglichkeiten einer inklusiven beruflichen Ausbildung im ersten Ausbildungsmarkt aufzeigen und Handlungsansätze für betriebliche Berufsbildner:innen und Coaches generieren. Die Erkenntnisse werden veröffentlicht und aktiv weitergegeben. So soll die Entwicklung zu mehr Ausbildungen im ersten Arbeitsmarkt und der notwendige Systemwandel weiter angeschoben und beschleunigt werden.

Oliver Maier

Wissenschaftlicher Mitarbeiter

Blindspot, Bern

oliver.maier@blindspot.ch

Jonas Staub

Geschäftsleiter und Gründer

Blindspot, Bern

jonas.staub@blindspot.ch

Literatur

Aguayo-Krauthausen, R. (2023). Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden. Rowohlt.

Beer, M. (2023). Begleitete Übergänge in die Berufsausbildung: Theoriereduzierte Ausbildungsgänge für junge Menschen mit Lernbeeinträchtigungen in Deutschland und der Schweiz. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 29 (01), 36–42. https://doi.org/10.57161/z2023-01-06

Böhm, S. A., Baumgärtner, M. K. & Dwertmann, D. J. G. (2013). Berufliche Inklusion von Menschen mit Behinderung – Best Practices aus dem ersten Arbeitsmarkt. Springer.

Hess-Klein, C. & Scheibler, E. (2022). Aktualisierter Schattenbericht. Bericht der Zivilgesellschaft anlässlich des ersten Staatenberichtsverfahrens vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Editions Weblaw. https://edudoc.ch/record/224116?ln=de

Hofmann, C. & Schaub, S. (2016). Junge Berufsleute mit Beeinträchtigungen beim Einstieg in den Arbeitsmarkt und die Rolle von «Supported Education». Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 30, 1–19. http://www.bwpat.de/ausgabe30/hofmann_schaub_bwpat30.pdf

Lindsay, S., Cagliostro, E., Albarico, M., Mortaji, N. & Karon, L. (2018). A systematic review of the benefits of hiring people with disabilities. Journal of occupational rehabilitation, 28, 634–655.

Maier, O. & Staub, J. (2023). Inklusive Camps für die Gesellschaft der Zukunft: Mehrwert für Menschen mit und ohne Beeinträchtigung. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 29 (05), 17–25. https://doi.org/10.57161/z2023-05-03

Parpan-Blaser, A., Häfeli, K., Studer, M., Stefania, C., Wyder, A. & Lichtenauer, A. (2014). «Etwas machen. Geld verdienen. Leute sehen»: Arbeitsbiografien von Menschen mit Beeinträchtigungen. Edition SZH/CSPS.

Sempert, W. & Kammermann, M. (2010). Evaluation Pilotprojekt Praktische Ausbildung (PrA) INSOS. Bericht im Rahmen des mehrjährigen Forschungsprogramms zu Invalidität und Behinderung (FoP-IV). Forschungsbericht Nr. 7/10. Bundesamt für Sozialversicherungen. https://edudoc.ch/record/43551?ln=de

Solovieva, T. I., Dowler, D. L. & Walls, R. T. (2011). Employer benefits from making workplace accommodations. Disability and Health Journal, 4 (1), 39–45.

Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention, BRK), vom 13. Dezember 2006, durch die Schweiz ratifiziert am 15. April 2014, in Kraft seit dem 15. Mai 2014, SR 0.109.

Zemp, A. & Staub, J. (2022). Die inklusive Berufsausbildung: Revolution des zweiten Arbeitsmarkts? Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 28 (12), 44–50. https://ojs.szh.ch/zeitschrift/article/view/1058

  1. Teilweise wird auch gemeinsam diskutiert, welche Ausbildungsform durchgeführt werden soll, falls für eine Person nicht ganz klar ist, welche Stufe am besten zu ihren Voraussetzungen passt (INSOS PrA, EBA, oder EFZ).

  2. Die Interventionsskala sowie andere Leitfäden und Dokumente finden sich in der Tool-Box von Blindspot: https://blindspot.ch/inklusionsprojekte/arbeitsmarkt-inklusiv [Zugriff: 24.09.2024].

  3. In der Projektgruppe beteiligt sind: Prof. Dr. Claudia Schellenberg (Projektleitung HfH), Dr. Claudia Hofmann (HfH), Dr. Annette Krauss (HfH), Simone Moser (gibb), Oliver Maier (Blindspot), Prof. Dr. Roland Stein (Universität Würzburg).