DOI: https://doi.org/10.57161/z2024-06-00
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 30, 06/2024
Die Sekundarstufe II hat eine «Sandwich-Position» im Bildungssystem. Sie schliesst an die obligatorische Bildung an und bildet den Übergang in Studium und Arbeitswelt. In der obligatorischen Bildung ermöglicht eine breite Palette an schulischen Angeboten die differenzierte Förderung der Lernenden. Für Lernende mit besonderem Bildungsbedarf, mit einer Beeinträchtigung oder Behinderung stehen auf der Primarstufe und der Sekundarstufe I vielfältige Unterstützungsmassnahmen zur Verfügung. Dazu gehören die sonderpädagogischen Massnahmen, der Nachteilsausgleich und die Lernzielanpassungen. Fachpersonen wie Schulische Heilpädagog:innen, Logopäd:innen sowie Assistenzpersonen unterstützen die Lehrpersonen im Klassenzimmer.
Auf der Sekundarstufe II verschmälert sich die Palette an Massnahmen für Lernende mit Unterstützungsbedarf. Zugleich sind viel weniger Fachpersonen vorhanden, welche die Lehrpersonen unterstützen. Die Gymnasien kennen meistens nur die Massnahmen zum Nachteilsausgleich. In der beruflichen Grundbildung hingegen werden nebst dem Nachteilsausgleich auch Fördermassnahmen und Coachings angeboten.
Absolvent:innen der Sekundarstufe II treten eine Stelle an oder nehmen ein Studium auf. Sowohl die Arbeitswelt als auch die Tertiärbildung stellen hohe Anforderungen an die Ausbildungsgänge der Sekundarstufe II. Aktuelle Entwicklungen wie die Globalisierung und Digitalisierung sowie die Sensibilisierung für Gleichstellung und Nachhaltigkeit fordern das Bildungssystem und die Arbeitswelt zusätzlich heraus. Die «Studierfähigkeit» beziehungsweise die «Berufsfähigkeit» der Absolvent:innen muss sichergestellt werden. In diesem Kontext stellen sich Fragen über die Möglichkeiten und Grenzen für die Partizipation von Lernenden mit einer Beeinträchtigung.
Zehn Jahre nach dem Beitritt zur Behindertenrechtskonvention (BRK) kommen spezifische Massnahmen wie die Barrierefreiheit und der Nachteilsausgleich langsam in Gange. Sie gelten für alle Bildungsstufen. In Bezug auf Barrierefreiheit der Lernumgebungen leistet das Netzwerk der Hochschulen Pionierarbeit (vgl. Swissuniability). Der Nachteilsausgleich ist auf der Sekundarstufe II mancherorts weiterhin eine Knacknuss. Er umfasst individuelle Anpassungen der Lern- und Prüfungsbedingungen für Lernende mit einer attestierten Behinderung bei gleichen Lern- beziehungsweise Prüfungszielen. Um den Nachteilsausgleich umzusetzen, braucht es Ressourcen und Wissen sowohl über die Lernanforderungen und -bedingungen als auch über die möglichen Auswirkungen der Beeinträchtigung und über die kompensatorischen Massnahmen.
Die Lage auf der Sekundarstufe II kann sich entspannen, wenn die Ausbildungen in Schulischer Heilpädagogik weiterentwickelt werden. Das neue Reglement über die Anerkennung von Hochschuldiplomen im Bereich der Sonderpädagogik sieht vor, dass die Fachpersonen der Schulischen Heilpädagogik «in allen Angeboten des Bildungssystems tätig» sind und «integrative Bildungsangebote auf allen Schulstufen (Zyklen), der Sekundarstufe II sowie des Übergangs Schule-Beruf» gestalten (Art. 8, lit. b und c). Somit wird die Sonderpädagogik zur wertvollen Ressource für die Sekundarstufe II.
Dr. phil. Olga Meier-Popa Wissenschaftliche Mitarbeiterin SZH/CSPS |