Ergebnisse einer Befragung von Schulleitungen in der Deutschschweiz
Zusammenfassung
Es gibt keine empirischen Daten zur schulischen Förderung von Lernenden im Autismus-Spektrum auf der Sekundarstufe II. Zugleich zeigt sich in Erfahrungsberichten und Beratungskontexten Handlungsbedarf. Deshalb wurde im Herbst 2022 eine Online-Befragung von Schulleitungen durchgeführt, um die aktuelle Situation in der Deutschschweiz einschätzen zu können. Ziel war es, fundierte Erkenntnisse über die Relevanz des Themas Autismus an Schulen der Sekundarstufe II sowie über erlebte Gelingensbedingungen und Hindernisse in der Praxis und den dort bestehenden Handlungsbedarf zu gewinnen. An der Befragung beteiligten sich 80 Schulleitungen.
Résumé
Au niveau du secondaire II, il n'existe actuellement pas de données empiriques sur le soutien pédagogique aux apprenantes et apprenants dans le spectre de l'autisme. En même temps, les témoignages et les situations de consultation montrent qu'il est nécessaire d'agir. C'est pourquoi une enquête en ligne a été menée en automne 2022 auprès des directions d'écoles afin d'évaluer la situation actuelle en Suisse alémanique. L'objectif était d'obtenir des connaissances fondées sur la pertinence du thème de l'autisme dans les écoles du secondaire II, sur les conditions de réussite et les obstacles vécus dans la pratique ainsi que sur les besoins d'action. Huitante directions d'écoles ont participé à l'enquête.
Keywords: Autismus-Spektrum-Störung, schulische Integration, Sekundarstufe II, Forschung, Partizipation / trouble du spectre de l'autisme, intégration scolaire, degré secondaire II, recherche, participation
DOI: https://doi.org/10.57161/z2024-06-06
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 30, 06/2024
Die in diesem Beitrag präsentierte Befragung ist im Rahmen eines Forschungsprojektes des «Partizipativen Forschungsnetzwerks Autismus in der Schweiz (PFAU)» entstanden. Das im Jahr 2020 gegründete Forschungsnetzwerk folgt der Prämisse, Autismusforschung von Beginn an partizipativ zu gestalten. Das bedeutet, dass wir von der Themenfindung über die Projektplanung und -durchführung bis hin zur Auswertung und Interpretation der Daten durchgehend gemeinsam in einem Team von Forscher:innen mit und ohne Autismus gearbeitet haben.[1]
Den aktuellen Fachdiskurs zur schulischen Förderung und Begleitung von Lernenden im Autismus-Spektrum widerspiegelnde Publikationen, die in die Recherche und Auswertung eingeflossen sind, finden sich unter anderem bei Eckert (2021a, 2021b), Jordan et al. (2019), Markowetz (2020), Schirmer (2016), Schuster (2020), Teufel und Soll (2021), Ullrich (2017), Vero (2020) sowie Wilkinson 2017.
In die hier präsentierte Auswertung sind Antworten von 80 Schulleitungen eingeflossen. Die beteiligten Schulen stammen aus einigen deutschsprachigen sowie zweisprachigen Kantonen der Schweiz. Die meisten Schulen liegen im Kanton Zürich (28), gefolgt von den Kantonen Bern (11), St. Gallen (6) und Aargau (5). Die weiteren 30 Schulen verteilen sich auf andere Kantone. Die Studie wurde durch Berufs- und Interessensverbände über soziale Medien beworben. Die Teilnahme an der Studie fand auf freiwilliger Basis statt.
52 Schulen (65 %) konnten der Kategorie «Allgemeinbildende Schulen Sek II» – bestehend aus gymnasialen Maturitätsschulen mit und ohne zugehörige spezifische Mittelschulen sowie selbständigen Handelsmittelschulen – zugeordnet werden. Die zweite grosse Kategorie der Befragung umfasst 26 Berufsfachschulen (33 %).
Der Prozentsatz der teilnehmenden Schulen an der Gesamtzahl der Schulen der Sekundarstufe II in den untersuchten Kantonen lässt sich nur grob schätzen. Ausgehend von einer Zahl von etwa 500 Schulen in den deutschsprachigen und bilingualen Kantonen (Bundesamt für Statistik, 2023) und unter der Berücksichtigung einzelner beteiligter Schulverbünde sowie abzüglich rein französischsprachiger Schulen liegt dieser insgesamt bei rund 20 Prozent. In den Kantonen mit der höchsten Anzahl an beteiligten Schulen, Zürich und Bern, liegt er bei etwa 25 Prozent.
Die 29 überwiegend geschlossenen Fragen wurden deskriptiv-statistisch ausgewertet. Drei offene Fragen zu den erlebten Gelingensbedingungen und Hindernissen sowie zu einem möglichen Handlungs- und Optimierungsbedarf wurden mit einem jeweils induktiv entwickelten Kategoriensystem ausgewertet.
Die Teilnahme von 80 Schulen an dieser Befragung weist unseres Erachtens auf eine hohe Relevanz der fokussierten Thematik auf der Sekundarstufe II hin. Wenngleich die Repräsentativität der Ergebnisse nicht explizit bewertet werden kann, können die gewonnenen Erkenntnisse aktuelle Erfahrungswerte und Einschätzungen differenziert abbilden. Die Gegenüberstellungen von Daten der 52 allgemeinbildenden Schulen der Sek II und 26 Berufsschulen ermöglichen es zudem, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Schulformen vertieft zu betrachten.
70 der 80 Schulen (88 %) geben an, aktuell Lernende mit einer Autismus-Diagnose zu unterrichten. In 50 dieser Schulen gibt es zusätzlich Lernende mit einem noch nicht abgeklärten Diagnoseverdacht. Sieben Schulen vermerken, aktuell keine Lernenden im Autismus-Spektrum zu unterrichten. Drei Schulen berichten ausschliesslich von Lernenden mit einem Diagnoseverdacht. Diese Zahlen verdeutlichen die hohe Präsenz des Themas.
Es erstaunt zugleich, dass sieben Schulen – bei einer angegebenen Gesamtzahl von mehr als 5000 Lernenden – keine Lernenden im Autismus-Spektrum haben. Zu diesen Schulen gehören vier der 26 Berufsschulen und nur zwei der 52 allgemeinbildenden Schulen. Es könnte vermutet werden, dass die Auseinandersetzung mit einer Autismus-Diagnose beziehungsweise dem Verdacht an Berufsschulen eher in den Hintergrund treten als an allgemeinbildenden Schulen.
Die Anzahl der Lernenden im Autismus-Spektrum zeigt eine breite Varianz: Knapp 60 Prozent der Schulen, die von Lernenden mit einer Autismus-Diagnose besucht werden, geben an, dass es sich dabei um ein bis drei Lernende handelt, bei 23 Prozent sind es vier bis sechs Lernende, bei 14 Prozent sind es sieben bis zehn Lernende und bei 4 Prozent mehr als zehn Lernende.
89 Prozent der allgemeinbildenden Schulen geben an, von den Eltern über eine vorliegende Autismus-Diagnose informiert worden zu sein, bei den Berufsschulen sind dies nur 63 Prozent. Der Anteil der selbstinformierenden Lernenden liegt demgegenüber bei den Berufsschulen mit 46 Prozent höher als bei den allgemeinbildenden Schulen mit 29 Prozent (Mehrfachantworten). Abklärungsstellen und externe Fachpersonen spielen bei der Diagnosevermittlung eine untergeordnete Rolle. An den Berufsschulen kommt dafür den Gesuchen zum Nachteilsausgleich eine erhöhte Bedeutung zu (20 %).
Das Wissen über individuelle Charakteristika ihrer Lernenden im Autismus-Spektrum bewerten die Schulen sehr unterschiedlich. So geben 50 Prozent aus allgemeinbildenden Schulen und 35 Prozent aus Berufsschulen an, ein ausreichendes beziehungsweise detailliertes Wissen über ihre Lernenden zu haben. Gleichzeitig erwähnen an beiden Schulformen etwa 45 Prozent lückenhaftes Wissen und an den Berufsschulen berichten 12 Prozent über nicht vorhandenes Wissen. Dies verweist deutlich auf einen vorhandenen Informationsbedarf.
Eine Aufklärung der Schulklasse oder Schulstufe über die Diagnose beziehungsweise die individuellen Besonderheiten findet an allgemeinbildenden Schulen ebenfalls deutlich häufiger statt (50 %) als an Berufsschulen (27 %). Bei beiden Schulformen wird zugleich mit einem Prozentsatz von 38 Prozent angegeben, dass dies im Einzelfall variiert. Die Information erfolgt an den allgemeinbildenden Schulen zu vergleichbaren Anteilen durch die Lernenden selbst sowie durch interne oder externe Fachpersonen. An den Berufsschulen ist die Information durch die Lernenden die mit Abstand häufigste Aufklärungsform (38 %).
Die Relevanz der Thematik wird neben den bisherigen Bezügen bei einer direkten Abfrage deutlich. So beantworten 65 Prozent aller Schulen die Frage nach der aktuellen Relevanz des Themas Autismus im Schulhaus mit ja / eher ja, während 35 Prozent bei eher nein / nein liegen.
Befragt nach der Einschätzung des vorhandenen Wissens zeigt sich, dass es in den meisten Schulen einzelne Kolleg:innen mit einem Basiswissen im Team gibt (73 % der Berufsschulen, 52 % der allgemeinbildenden Schulen). Dass das Basiswissen über das gesamte Schulteam verbreitet ist, vermerken knapp 40 Prozent der allgemeinbildenden Schulen, jedoch nur 15 Prozent der Berufsschulen. Kolleg:innen mit besonderer Expertise finden sich an 30 Prozent der allgemeinbildenden Schulen und an knapp 20 Prozent der Berufsschulen. Zusammenfassend scheinen die allgemeinbildenden Schulen einen Wissensvorsprung aufzuweisen.
Bei 36 Prozent beider Schulformen wurden bereits Informations- und Weiterbildungsveranstaltungen zum Thema Autismus durchgeführt. Hier zeigen sich keine deutlichen Unterschiede zwischen den Schulformen.
Bei den eingesetzten Unterstützungsangeboten in Form von personeller Begleitung oder dem Einsatz formaler Massnahmen wird der Nachteilsausgleich mit 96 Prozent mit grossem Abstand am meisten genutzt. Es folgen die personellen Unterstützungsangebote Lerncoaching (33 %), Schulsozialarbeit (19 %), Schulische Heilpädagogik (9 %) und Klassenassistenz (5 %).
Die Vielfalt der Nachteilsausgleiche ist begrenzt: So geben 86 Prozent der Schulen an, «mehr Zeit bei Prüfungen» anzuwenden. Es folgen «ein ruhiger Raum für Prüfungen» mit 51 Prozent und «Einzelarbeit statt Gruppenarbeit» mit 45 Prozent. Weitere Formen werden bei weniger als 30 Prozent der Schulen angeboten. Eine «Anpassung der Aufgabenstellungen» wird beispielsweise nur an 17 Prozent der Schulen ermöglicht.
60 Prozent der allgemeinbildenden Schulen und 40 Prozent der Berufsschulen geben an, dass den Lehrpersonen verschiedene Unterstützungsangebote zur Verfügung stehen. An den allgemeinbildenden Schulen ist die Inanspruchnahme externer Beratung mit 38 Prozent am häufigsten. An den Berufsschulen sind dies interne Weiterbildungsangebote (28 %), wohingegen externe Beratung von 16 Prozent der Schulen genutzt wird.
Die Gelingensbedingungen einer schulischen Integration von Lernenden im Autismus-Spektrum wurden mit offenen Fragen erhoben. Die Schulleitungen gaben sehr differenzierte Hinweise sowohl für die Ebene der Lernenden, der Fachpersonen als auch der Mitschüler:innen. Auf der Ebene der Lernenden nennen die Schulleitungen am häufigsten die Bereitstellung adäquater «Strukturen und Ressourcen», eine «wertschätzende Haltung» sowie das Anbieten von «individuellen Lösungen». Auf der Ebene der Fachpersonen stehen das «Wissen über Autismus» und die «Unterstützung durch (externe) Fachpersonen» im Vordergrund. Auf der Ebene der Mitschüler:innen werden schliesslich «Information, Aufklärung und Sensibilisierung» sowie eine «offene, wertschätzende Kommunikation» als besonders relevant hervorgehoben.
Hindernisse und Herausforderungen der schulischen Integration von Lernenden im Autismus-Spektrum werden ebenfalls für die Ebenen der Lernenden, der Fachpersonen und der Mitschüler:innen benannt. Als Hindernisse für die Lernenden werden fehlende «Strukturen und Ressourcen» mit Abstand am häufigsten erwähnt. Diese Kategorie umfasst unter anderem Aspekte wie die Klassengrösse, Planänderungen oder den regelmässigen Lehrpersonenwechsel. Auf der Ebene der Fachpersonen steht die «zusätzliche Beanspruchung» durch neue Themen und Anforderungen im Vordergrund, gefolgt von unpassenden «Strukturen und Ressourcen» sowie dem «fehlenden Wissen über Autismus». Auf der Ebene der Mitschüler:innen werden parallel zu den Gelingensbedingungen «fehlende Informationen» und ein damit verbundenes «fehlendes Verständnis» als besonders hinderlich benannt.
Als zentrale Inhalte einer autismusspezifischen Professionalisierung nennen die Befragten die Bereitstellung von «Informationsmaterialien über autismusspezifische Unterstützung» sowie «autismusspezifische Beratungsangebote» mit je knapp 50 Prozent. Auch die weiteren angebotenen Professionalisierungsangebote «Schriftliche Informationsmaterialien über Autismus», «Unterstützung bei der Aufklärung der Klasse» und «Weiterbildung zum Thema Autismus» werden mit etwa 40 Prozent unseres Erachtens durchaus hoch gewichtet. Bei den ergänzenden offenen Antworten sticht der mehrfach erwähnte Stufenbezug von Weiterbildungen und Beratungen besonders hervor.
Auf der Grundlage der Erkenntnisse aus dieser Befragung – ergänzende Hinweise aus der aktuellen Fachdiskussion mitgedacht – möchten wir folgende handlungsleitende Empfehlungen formulieren. Diese richten sich unmittelbar an die Schulen der Sekundarstufe II. Auf unterstützende, teils strukturell notwendige Rahmenbedingungen gehen wir im anschliessenden Ausblick ein.
Empfehlung 1: Wir empfehlen, dass sich jede Schule mit der Vielfalt ihrer Lernenden und deren individuellen Lernwegen auseinandersetzt, um eine (neuro-)diversitätsfreundliche Haltung zu etablieren.
Eine wertschätzende Grundhaltung nennen die Befragten als Gelingensbedingung schulischer Integration von Lernenden im Autismus-Spektrum. Darum ist eine bewusste Reflexion von Werten und Haltungen innerhalb einer Schule notwendig. Von einer diversitätsfreundlichen Haltung profitieren alle Lernenden, unabhängig vom Thema Autismus.
Empfehlung 2: Wir empfehlen, dass jede Schule im Schulteam ein Basiswissen aufbaut zum Thema «Autismus verstehen».
Ein solches «Basiswissen» umfasst Grundkenntnisse, zum einen über die Besonderheiten der Wahrnehmung und Denkprozesse von Lernenden im Autismus-Spektrum, zum anderen über eine autismusfreundliche Gestaltung von Rahmenbedingungen und Interaktionen. Erworben werden kann dieses Basiswissen beispielsweise über spezifische Weiterbildungen.
Empfehlung 3: Wir empfehlen, dass jede Schule eine beziehungsweise mehrere Fachpersonen mit einer spezifischen Expertise zur schulischen Förderung von Lernenden im Autismus-Spektrum ausstattet.
Neben dem Basiswissen im Schulteam kann eine differenzierte, autismusspezifische Expertise einzelner Fachpersonen einen wichtigen Beitrag leisten, um den Bedarf nach schulinterner, leicht zugänglicher Information und Beratung abzudecken.
Empfehlung 4: Wir empfehlen, in die Aufklärung und Sensibilisierung zum Thema Autismus die Innenperspektive von Personen im Autismus-Spektrum (z. B. Lernende, externe Personen) einzubeziehen.
Persönliche Autismuserfahrungen können genutzt werden, um das Verständnis für Autismus im Schulteam zu erweitern: Dies ist unseres Erachtens eine sehr gute Option, dem geäusserten Bedürfnis nach einer praxis- und lebensnahen Aufklärung gerecht zu werden. So hat es sich beispielsweise vielfach bewährt, Fachpersonen im Autismus-Spektrum für einen Erfahrungsbericht aus der Innenperspektive in Schulen einzuladen. Ebenso können Lernende aus der eigenen Schule von ihren persönlichen Erfahrungen berichten.
Empfehlung 5: Wir empfehlen, dass in jeder Schule Ansprechpersonen und Zuständigkeiten bei einem konkreten Handlungsbedarf und bei Fragen für alle Beteiligten klar definiert sind.
Sowohl für die schulischen Fachpersonen als auch die Lernenden und gegebenenfalls ihre Eltern kann das Wissen über Ansprechpersonen und die Möglichkeit der Kontaktaufnahme bei Fragen und Unklarheiten sehr hilfreich sein. Umsetzungsmöglichkeiten sind die Festlegung von Verantwortlichkeiten, zum Beispiel eine Autismusbeauftragte und klare Abläufe der Kontaktgestaltung.
Empfehlung 6: Wir empfehlen, dass alle Fachpersonen der Sekundarstufe II leicht Zugang haben zu praxisnahen Informationsmaterialien zum Verständnis und zur Unterstützung von Lernenden im Autismus-Spektrum – mit adäquatem Alters- und Stufenbezug.
In der Befragung hat sich gezeigt, dass autismusspezifische Informationsmaterialien zentral sind, um die Fachpersonen individuell zu qualifizieren. Vor dem Hintergrund der umfassenden Ratgeberliteratur erscheinen dabei der explizite Stufenbezug sowie die Übersichtlichkeit des Materials besonders relevant.
Empfehlung 7: Wir empfehlen, dass jede Schule externe autismusspezifische Beratungsangebote[2] – mit adäquatem Alters- und Stufenbezug – niederschwellig in Anspruch nehmen kann und diese im Bedarfsfall nutzt.
Autismusspezifische Beratungs- und Coachingangebote werden als eine weitere, hoch relevant bewertete Form der Unterstützung und Professionalisierung von Fachpersonen benannt. Zudem erscheint es wichtig, dass in einer Schulkultur die Bereitschaft zur Inanspruchnahme von externer Unterstützung gelebt wird. Auch bezüglich dieses Angebotes kommt dem Alters- und Stufenbezug eine wichtige Bedeutung zu.
Empfehlung 8: Wir empfehlen, die Handlungsspielräume möglicher Anpassungen in der Gestaltung des Schulalltags (u. a. Nachteilsausgleiche) in einer Schule zu definieren und im Einzelfall angemessen auszuschöpfen.
Die Ergebnisse der Befragung zeigen, dass Anpassungen schulischer Strukturen, insbesondere anhand des Nachteilsausgleichs, zwar als wichtige Gelingensbedingungen benannt werden, diese hingegen nur in geringem Mass ausgeschöpft werden. Vielfach scheint eine Unsicherheit zu bestehen bezüglich der Handlungsspielräume, welche die Lehrpersonen beispielsweise im Unterricht haben. Wünschenswert wäre es, bestehende Möglichkeiten festzulegen sowie schulische Strukturen vielfältiger und kreativer anzupassen.
Empfehlung 9: Wir empfehlen, der direkten Partizipation der Lernenden im Autismus-Spektrum ausreichend Raum zu geben bei Anpassungen in der Gestaltung des Schulalltags und weiteren Entscheidungsfindungen.
Bei allen Massnahmen, die einzelne Lernende im Autismus-Spektrum unmittelbar betreffen, sollte stets der bewusste Einbezug der Jugendlichen in Entscheidungsprozesse mitgedacht und praktisch umgesetzt werden. Die Innenperspektive bietet die Chance, gezielter an den individuellen Bedürfnissen anzusetzen und Angebote dementsprechend zielgerichteter planen zu können.
Empfehlung 10: Wir empfehlen, der im Jugendalter hoch relevanten Interaktion in der Gleichaltrigengruppe besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Durch angemessene Unterstützung sollen positive Begegnungen ermöglicht werden, sowohl für Lernende ohne Autismus als auch für Lernende im Autismus-Spektrum.
Der Blick auf die genannten Gelingensbedingungen und Hindernisse auf der Ebene der Mitschüler:innen verdeutlicht, dass eine offene und wertschätzende Kommunikation in der Gleichaltrigengruppe bedeutsam ist. Förderliche Angebote (u. a. Aufklärung, Kommunikationstipps) sollten im individuellen Fall betrachtet und geplant werden. Wichtig erscheint uns dabei, die Begegnungen als wechselseitig gestaltete Interaktionen zu verstehen, für die bei auftretenden Unsicherheiten oder Missverständnissen alle Beteiligten von einer möglichen Unterstützung profitieren.
Schulen sind angewiesen auf Unterstützung in Form von Ressourcen und Strukturen, zum einen auf der Verwaltungsebene, zum anderen auf einer autismusspezifischen und fachlichen Ebene. Unseres Erachtens braucht es unter anderem einen Ausbau qualitativ hochwertiger, autismusspezifischer und zugleich stufenbezogener Beratungs- und Weiterbildungsangebote wie auch Informationsmaterialien. Aufgewertet werden sollte auch der Stellenwert des Themas Autismus in der Ausbildung von Lehrpersonen und anderen auf der Sekundarstufe II tätigen Fachpersonen. Und schliesslich kommt der Schulpolitik und -verwaltung ein hoher Stellenwert zu mit der Bereitstellung ausreichender finanzieller und personeller Ressourcen. Zahlreiche Herausforderungen bleiben in diesem Sinne bestehen, zugleich finden sich konkrete Handlungsoptionen, um die aktuelle Situation für die einzelnen Lernenden zu optimieren.
Eine Limitation der Befragung liegt in der bewusst eingegrenzten Perspektive der befragten Fachpersonen. Eine wertvolle Bereicherung könnte eine Erweiterung der Informationsquellen über die Mitglieder der Schulleitung hinaus sein, unter anderem durch den Einbezug von Lernenden im Autismus-Spektrum, Lehrpersonen sowie Eltern. Auch die gewählte Methodik der schriftlichen quantitativen Befragung setzt Grenzen. In einem nächsten Schritt bieten sich qualitative Interviews mit verschiedenen Personengruppen an, um individuelle Erfahrungen und subjektive Theorien differenzierter zu erfragen. Und schliesslich fehlen mit der expliziten Fokussierung des schulischen Settings Informationen aus dem Ausbildungssektor, der insbesondere für Lernende an Berufsschulen sowie an Mittelschulen im Praktikumsjahr ebenfalls hoch relevant ist.
Die Arbeitsgruppe «Aufklärung und Sensibilisierung» im Partizipativen Forschungsnetzwerk Autismus in der Schweiz (PFAU) als Autor:innengruppe dieses Beitrags strebt an, sich diesen offenen Fragestellungen zu widmen.
Eva Stucki Heilpädagogische Früherzieherin Psychologiestudentin | Prof. Dr. Andreas Eckert Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich |
Weitere Mitarbeitende des Projekts:
Jeannette Bossert, Mireya Garcia, Iris Köppel, Stefanie Rickenbach und Michèle Schlatter
Eckert, A. (2021a) (Hrsg.). Autismus in Kindheit und Jugend. Grundlagen, Praxis und Perspektiven der Begleitung und Förderung in der Schweiz. Edition SZH/CSPS.
Eckert, A. (2021b). Autismussensibler Unterricht. In A. Kunz, R. Luder & C. Müller Bösch (Hrsg.), Inklusive Pädagogik und Didaktik (S. 135–145). Hep.
Eckert, A. (2023). Partizipative Autismusforschung und das Partizipative Forschungsnetzwerk Autismus in der Schweiz (PFAU). In C. Lindmeier, M. Grummt & M. Richter (2023), Neurodiversität und Autismus (S. 170–179). Kohlhammer.
Jordan, R., Roberts, J. & Hume, K. (2019). The SAGE Handbook of Autism and Education. Sage.
Markowetz, R. (2020). Schüler mit Autismus-Spektrum-Störung im inklusiven Unterricht. Praxistipps für Lehrkräfte. Reinhardt.
Schirmer, B. (2016). Schulratgeber Autismus-Spektrum: Ein Leitfaden für LehrerInnen (4. Aufl.). Reinhardt.
Schuster, N. (2020). Schüler mit Autismus-Spektrum-Störungen: Eine Innen- und Außenansicht mit praktischen Tipps für Lehrer, Psychologen und Eltern (5. aktual. Aufl.). Kohlhammer.
Teufel, K. & Soll, S. (2021). Autismus-Spektrum-Störungen. Psychologie im Schulalltag. Hogrefe.
Ullrich, K. (2017). Modelle schulischer Rahmenbedingungen. In M. Noterdaeme, K. Ullrich & A. Enders (Hrsg.), Autismus-Spektrum-Störungen: Ein integratives Lehrbuch für die Praxis (S. 351–353). Kohlhammer.
Vero, G. (2020). Das andere Kind in der Schule. Autismus im Klassenzimmer. Kohlhammer.
Wilkinson, L. A. (2017). A best practice guide to assessment and intervention for Autism Spectrum Disorder in schools (2nd ed.). Jessica Kingsley Publishers.
Wright, M. T., von Unger, H. & Block, M. (2010). Partizipation der Zielgruppe in der Gesundheitsförderung und Prävention. In M. T. Wright (Hrsg.), Partizipative Qualitätsentwicklung in der Gesundheitsförderung und Prävention (S. 35–52). Huber.
Der ausführliche Forschungsbericht steht open access zur Verfügung: https://www.hfh.ch/sites/default/files/documents/pfau_forschungsbericht_autismus_sekii_final_25_9_23_0.pdf. Bereits in ähnlicher Form ist ein Artikel erschienen in der Fachzeitschrift Transfer: https://transfer.vet/lernende-im-autismus-spektrum-in-der-sekundarstufe-ii. In diesem Beitrag ist auch die Literatur zu finden zum aktuellen Fachdiskurs zur schulischen Förderung und Begleitung von Lernenden im Autismus-Spektrum. ↑
Eine Übersicht an Beratungsstellen mit Autismuserfahrung findet sich auf der Website von Autismus Schweiz www.autismus.ch. ↑