Interinstitutionelle Zusammenarbeit im Berufswahlprozess

Fachstellen und ihre Zuständigkeiten im Kanton Bern

Sarah Germann und Mirjam Pfister

Zusammenfassung
Die Begleitung von Jugendlichen von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II kann für heilpädagogische Fachpersonen herausfordernd sein. Ein Grund dafür ist, dass bei Lernenden der besonderen Volksschule (vormals Sonderschule) häufig mehrere Fachstellen und verschiedene Akteur:innen involviert sind. Um mehr über die Zuständigkeiten der verschiedenen Fachstellen im Berufswahlprozess und über die interinstitutionelle Zusammenarbeit zu erfahren, widmete sich die Masterarbeit der Erstautorin am Institut für Heilpädagogik der Pädagogischen Hochschule Bern dieser Thematik anhand einer Analyse offizieller Informationsblätter, Leitfäden und Wegleitungen. Die untersuchten Unterlagen beziehen sich zwar auf den Kanton Bern, die meisten Erkenntnisse der Studie lassen sich jedoch auch auf andere Kantone übertragen.

Résumé
L'accompagnement des jeunes du degré secondaire I au degré secondaire II peut être un défi pour les professionnelles et professionnels de la pédagogie spécialisée. Cela s'explique notamment par le fait que plusieurs services spécialisés et différentes actrices et acteurs sont souvent impliqués dans le parcours des élèves intégrés à l'école obligatoire. Pour en savoir plus sur les compétences des divers services impliqués dans le processus de choix professionnel et sur la collaboration interinstitutionnelle, la première autrice de cet article a analysé les fiches d'information officielles, les lignes directrices et les règlements ; ceci dans le cadre de son mémoire de Master à l'Institut de pédagogie spécialisée de la Haute école pédagogique de Berne. Certes, les documents examinés se rapportent au canton de Berne, mais la plupart des conclusions de l'étude peuvent également être appliquées à d'autres cantons.


Keywords: Sekundarstufe I, Sekundarstufe II, Berufswahl, Schulische Heilpädagogik, besonderer Bildungsbedarf, interinstitutionelle Zusammenarbeit / degré secondaire I, degré secondaire II, choix d'une profession, enseignement spécialisé, besoins éducatifs particuliers, collaboration interinstitutionnelle

DOI: https://doi.org/10.57161/z2024-06-01

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 30, 06/2024

Creative Common BY

Der Übertritt in die Sekundarstufe II

Der erfolgreiche Übertritt von Jugendlichen von der obligatorischen Schulzeit in die nachobligatorische Bildung ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur aktiven Teilhabe an der Gesellschaft. Dieser Übertritt von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II wird auch als «erste Schwelle» bezeichnet. Menschen ohne allgemeinbildenden oder beruflichen Abschluss auf der Sekundarstufe II haben deutlich verminderte Chancen auf eine erfolgreiche berufliche Entwicklung und eine gute gesellschaftliche Integration (Häfeli & Schellenberg, 2009).

Die Ausbildungssituation der Jugendlichen auf der Sekundarstufe II ist eng mit deren sozialer Herkunft verknüpft. So wurde etwa im Rahmen der TREE2-Studie festgestellt, dass sich rund ein Drittel der Schüler:innen aus Elternhäusern mit niedrigem Bildungsniveau und/oder tiefem sozio-ökonomischem Status im ersten nachobligatorischen Jahr in Zwischenlösungen befand oder ausbildungslos war (Keller et al., 2010). Bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund aus der ersten Generation ist der Anteil mit 40 Prozent sogar noch höher (Gomensoro & Meyer, 2021). Viele Lernende des besonderen Volksschulangebots, sei dieses integrativ oder separativ, gehören aufgrund ihrer Herkunft mindestens einer der genannten Gruppen an und haben somit ein erhöhtes Risiko, über die erste Schwelle zu stolpern.

Nach dem Abschluss der obligatorischen Schulzeit gibt es eine Vielzahl von möglichen Anschlusslösungen. Diese reichen von weiterführenden Schulen (z. B. Fachhochschule [FMS], Gymnasium) über Berufslehren auf verschiedenen Anforderungsniveaus (Lehre mit Eidgenössischem Berufsattest [EBA], Lehre mit Eidgenössischem Fähigkeitszeugnis [EFZ], EFZ-Lehre mit Berufsmatura) bis zu Brückenangeboten. Brückenangebote richten sich an Jugendliche, welche keine Lehrstelle finden, schulische Lücken aufweisen und/oder aus anderen Gründen noch nicht bereit für eine Berufslehre sind. Für Personen mit einem besonderen Bildungsbedarf stehen Angebote wie die Berufliche Grundbildung mit Unterstützung der IV oder die Praktische Ausbildung nach INSOS zur Verfügung. Die Anforderungen sind hier tiefer und ein engeres Betreuungsverhältnis ist gewährleistet. Bei Lernenden der besonderen Volksschule kann die Sonderschulung zudem bis zum 20. Lebensjahr verlängert werden. In diesem (Zeit-)Rahmen können die Jugendlichen und jungen Erwachsenen spezifische Berufsvorbereitungsjahre besuchen.

Im Kanton Bern gibt es mehrere Fachstellen, welche Lernende der besonderen Volksschule auf ihrem Weg in die nachobligatorische Bildung begleiten. Damit die Unterstützung optimal gelingt, ist es für Schulische Heilpädagog:innen hilfreich, die Aufgaben der verschiedenen Fachstellen zu kennen und sich mit Gelingensbedingungen der interinstitutionellen Zusammenarbeit auseinanderzusetzen.

Die Erstautorin widmete daher ihre Masterarbeit dieser Thematik und setzte sich zum Ziel, die Aufgaben der verschiedenen Fachstellen zu untersuchen und folgende Fragen zu beantworten:

  1. Welche Aufgaben kommen den verschiedenen Fachstellen in Bezug auf die Unterstützung zu und wo gibt es Überschneidungspunkte?
  2. In welchen Bereichen gibt es Unterstützungslücken, respektive besteht die Gefahr, dass die Kooperation zwischen den verschiedenen Akteur:innen nicht funktioniert?
  3. Wie kann eine gut organisierte Zusammenarbeit in Bezug auf die unterschiedlichen Aufgabenbereiche aussehen und welche Voraussetzungen müssen dafür erfüllt sein?

Die Masterarbeit der Erstautorin soll dazu beitragen, die interinstitutionelle Zusammenarbeit zu verbessern und durch das erworbene Wissen den Lernenden der besonderen Volksschule eine optimale Unterstützung während des Übergangs in die nachobligatorische Bildung zu bieten.[1]

Die Akteur:innen des Berufswahlprozesses

Im Berufswahlprozess liegt die Hauptverantwortung bei den Jugendlichen und ihren Eltern. Bei vielen Jugendlichen des besonderen Volksschulangebots können die Eltern ihre Kinder nicht ausreichend unterstützen. In solchen Fällen ist es sinnvoll, wenn der oder die zuständige Heilpädagog:in die Eltern und Jugendlichen unterstützt. Bei Jugendlichen mit Mehrfachschwierigkeiten wie schwachen Schulleistungen, Motivationsproblemen oder ungenügender Unterstützung durch die Eltern sollte die Klassenlehrperson eine Anmeldung beim Case Management Berufsbildung[2] vornehmen. Zusätzlich haben Schüler:innen der integrierten Sonderschule in der Regel ein Anrecht auf Unterstützung durch die Invalidenversicherung (IV). Die Anmeldung bei der IV fällt in den Verantwortungsbereich der Eltern. Häufig ist hierfür jedoch die Unterstützung durch die Schule notwendig.

Die unterstützenden Akteur:innen haben unterschiedliche Aufträge: Die Schule bietet Berufswahlunterricht an und unterstützt die Jugendlichen beim Erstellen der Bewerbungsunterlagen. Falls Lernende die besondere Volksschule integrativ besuchen und in ein Berufsfindungs- oder Brückenangebot der besonderen Volksschule übertreten, ist die Regelschule in der Verantwortung, dies zu organisieren.

Die IV berät Jugendliche bezüglich der Berufswahl, organisiert Schnupperlehren in geschütztem Rahmen, unterstützt bei der Lehrstellensuche und ist zuständig für die finanzielle Unterstützung während der Erstausbildung.

Das Case Management Berufsbildung steht den Lernenden mit einem Coaching zur Seite. Der oder die Case Manager:in definiert verbindliche Ziele mit den Jugendlichen. Die Sicherstellung des Informationsflusses zwischen den verschiedenen Akteur:innen und die Organisation von runden Tischen mit allen Beteiligten fällt in die Zuständigkeit des Case Managements. Während eines Brückenjahres ist der oder die Case Manager:in für die Jugendlichen die Hauptansprechperson bezüglich der Berufswahl.

Jugendliche in der Hauptrolle

Wenn viele verschiedene Akteur:innen am Berufswahlprozess beteiligt sind, kann dies für betroffene Jugendliche herausfordernd sein, denn es besteht die Gefahr, den Überblick zu verlieren. So wissen sie beispielweise nicht, an wen sie sich mit welcher Frage wenden sollen. Da die Eltern und die Lehrpersonen am regelmässigsten mit den Jugendlichen in Kontakt stehen, ist hier die Hürde wahrscheinlich am kleinsten, sich Unterstützung zu holen. Der oder die begleitende schulische Heilpädagog:in kann dabei ebenfalls eine wichtige Unterstützungsfunktion einnehmen. Besonders wichtig ist es, dass die Lehrpersonen (Schulische Heilpädagog:in und Klassenlehrperson) in engem Austausch mit der IV und dem Case Management stehen und dass sie diesen Institutionen keine relevanten Informationen vorenthalten. Gleichzeitig gilt es auch, die Privatsphäre der Jugendlichen respektvoll zu behandeln. Den Jugendlichen muss immer wieder aufgezeigt werden, dass sie selbst in ihrem Berufswahlprozess die Hauptrolle spielen und dass ihre persönlichen Zukunftspläne und Wünsche im Zentrum stehen. Es ist wichtig, dass die Jugendlichen Selbstwirksamkeit erleben und Erfolgserlebnisse erfahren können.

Zusammenarbeit als Erfolgsfaktor

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Zusammenarbeit zwischen den unterstützenden Akteur:innen und den Eltern. Wenn eine Vielzahl an Fachstellen involviert ist, besteht die Gefahr, dass sich die Eltern übergangen fühlen und im schlimmsten Fall nicht mehr kooperationsbereit sind. Daher ist es sinnvoll, dass die fallführende Person in regelmässigem Austausch mit den Eltern steht, diese über die letzten und nächsten Schritte informiert und sich mit den Eltern darüber austauscht, wie diese ihren Sohn oder ihre Tochter im Berufswahlprozess unterstützen können. Bei Bedarf kann hierzu zusätzlich ein:e qualifizierte:r Übersetzer:in[3] beigezogen werden.

Bei der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Fachstellen ist es wichtig, dass die Akteur:innen ihre Zuständigkeiten klären und dass festgelegt wird, wer die fallführende Person ist und wie der regelmässige Austausch sichergestellt werden kann. In der Regel übernimmt der oder die Case Manager:in die Fallführung. Dies ist sinnvoll, da er oder sie die Jugendlichen nach dem Abschluss der obligatorischen Schulzeit weiterbegleitet. Falls kein:e Case Manager:in beteiligt ist, ist es sinnvoll, wenn der oder die Schulische Heilpädagog:in die Fallführung übernimmt.

Eigene Erfahrungen mit Fachpersonen der IV und des BIZ (Berufsberatungs- und Informationszentren) zeigen, dass die Kooperation zwischen den Fachstellen häufig schwierig ist. Ein Grund dafür ist, dass alle Akteur:innen ihre eigenen Aufträge haben, jedoch haben sie häufig zu wenig Einblick in die Aufträge oder das Fachgebiet der anderen Stellen. Hier ist es bestimmt sinnvoll, in Zukunft vermehrt Zusammenarbeitsvereinbarungen auszuarbeiten, in welchen die Zuständigkeitsbereiche klar definiert werden. Im Jahr 2022 trat im Kanton Bern eine Vereinbarung zwischen der IV und dem Case Management Berufsbildung in Kraft, welche die Zuständigkeiten besser regelt. Damit können den Jugendlichen hoffentlich einige Stolpersteine auf dem Weg in die nachobligatorische Bildung aus dem Weg geräumt werden. Ein weiterer Schritt wäre die Implementierung solcher Vereinbarungen zwischen Schulen und der IV respektive dem Case Management Berufsbildung, beispielsweise in Form von Checklisten mit den Zuständigkeiten der einzelnen Stellen.

Lehrpersonen sind Schlüsselfiguren

Jede oben genannte Fachstelle hat im Berufswahlprozess ihre Berechtigung und ihre Zuständigkeiten. Als Lehrpersonen und Schulische Heilpädagog:innen stehen wir jedoch fast täglich in unmittelbarem Austausch mit den Jugendlichen mit besonderem Bildungsbedarf und haben damit gegenüber anderen Fachstellen einen zentralen Vorteil. Dies führt dazu, dass Informationen vonseiten der Jugendlichen mit grosser Wahrscheinlichkeit eher in die Schule gelangen als zu anderen Fachstellen. Damit kommt uns eine Schlüsselposition in der Kooperation zu. Es ist zentral, dass wir wichtige Informationen zeitnah weiterleiten und die Jugendlichen beim Austausch mit den anderen Fachstellen unterstützen. Denn auch wenn es Checklisten und klar definierte Zuständigkeiten gibt, so liegt es im Einzelfall trotzdem vor allem an den zugewiesenen Fachpersonen der Institutionen, miteinander zu kooperieren und den Jugendlichen den Schritt über die erste Schwelle zu erleichtern.

Konkrete Tipps zur Begleitung des Übertritts als Heilpädagog:in

Informieren Sie die Eltern und Jugendlichen frühzeitig über die verschiedenen Unterstützungsangebote, idealerweise bereits beim Standortgespräch in der 7. Klasse.

Klären Sie zu Beginn der Zusammenarbeit mit der IV und dem Case Management Berufsbildung die jeweiligen Aufgabenbereiche und Verantwortlichkeiten[4].

Ermutigen und unterstützen Sie die Jugendlichen beim Organisieren von Schnupperlehren und beim Schreiben von Bewerbungen. Nützliche Informationen finden die Jugendlichen zum Beispiel unter berufsberatung.ch oder yousty.ch.

Denken Sie immer daran, dass der/die Jugendliche und seine/ihre spezifische Situation im Mittelpunkt der Kooperation stehen sollte.

Planen Sie regelmässige Austauschgefässe mit Eltern sowie Fachstellen, damit der Informationsfluss garantiert ist. Meistens ist es sinnvoll, die Jugendlichen in den Austausch einzubeziehen.

Sarah Germann

Schulische Heilpädagogin, MA

Sekundarstufe I

Wichtrach

germann.sarah@edu-wichtrach.ch

Dr. phil. nat. Mirjam Pfister

Dozentin

Institut für Heilpädagogik, PHBern

Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften

Zollikofen

mirjam.pfister@phbern.ch

Literatur

Gomensoro, A. & Meyer, T. (2021). Ergebnisse zu TREE2: Die ersten zwei Jahre. Universität Bern, TREE (Transitionen von der Erstausbildung ins Erwerbsleben). https://edudoc.ch/record/223743

Häfeli, K. & Schellenberg, C. (2009). Erfolgsfaktoren in der Berufsbildung bei gefährdeten Jugendlichen. Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK). https://www.hfh.ch/projekt/erfolgsfaktoren-in-der-berufsausbildung-bei-gefaehrdeten-jugendlichen

Keller, A., Hupka-Brunner, S. & Meyer, T. (2010). Nachobligatorische Ausbildungsverläufe in der Schweiz: Die ersten sieben Jahre. Ergebnisübersicht des Jugendlängsschnitts TREE, Update 2010. Universität Basel, TREE (Transitionen von der Erstausbildung ins Erwerbsleben). https://www.tree.unibe.ch/e206328/e305140/e305154/files305372/Keller_Hupka_Meyer_2010_Results_Update_de_ger.pdf

  1. Die Masterarbeit mit dem Titel «Zuständigkeiten unterstützender Institutionen beim Übertritt integrierter Sonderschüler:innen in die nachobligatorische Bildung» wird voraussichtlich im Dezember 2024 auf dem Server der Universitätsbibliothek Bern veröffentlicht. Davor kann sie bei der Erstautorin bestellt werden.

  2. Das Case Management Berufsbildung richtet sich an Jugendliche ab dem 7. Schuljahr und an junge Erwachsene bis zum 25. Lebensjahr mit mehrfachen Schwierigkeiten. Sie werden individuell begleitet und unterstützt. Vgl. dazu das Angebot des Kantons Bern unter https://www.biz.bkd.be.ch/de/start/angebote/beratungsangebote/case-management-berufsbildung.html [Zugriff: 23.07.2024].

  3. Der Dolmetschdienst Comprendi vermittelt qualifizierte kulturelle Dolmetschende, welche auch die sozialen und kulturellen Hintergründe der am Gespräch beteiligten Personen berücksichtigen. Link zum Angebot: https://caritas-regio.ch/angebote/dienstleistungen/dolmetschdienst?rco=be [Zugriff: 01.08.2024].

  4. Die Zusammenarbeitsvereinbarung zwischen der IV und dem Case Management Berufsbildung im Kanton Bern ist unter folgendem Link abrufbar: https://www.biz.bkd.be.ch/content/dam/biz_bkd/dokumente/de/themen/informationen-fuer-fachpersonen/case-management-berufsbildung-cmbb/iv-cmbb-vereinbarung.pdf [Zugriff: 01.08.2024].