«Nichts über uns ohne uns» – Sozialpädagogische Beratung im institutionellen Setting

Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen auf dem Weg zu einer selbstbestimmten Zukunft begleiten

Elisa Fiala, Stefania Calabrese und René Stalder

Zusammenfassung
Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, die in Institutionen leben, haben häufig wenig Möglichkeiten zur Selbst- und Mitbestimmung. Um dem entgegenzuwirken, wurde an der Hochschule Luzern das Projekt «B-konEkt» durchgeführt. Im Artikel werden zunächst das empirische Vorgehen und die Projekterkenntnisse erläutert. Anschliessend geht es um fünf verschiedene Beratungsmodelle und die verschiedenen Aspekte der sozialpädagogischen Beratung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen im institutionellen Setting. Diese Beratung ist eine wichtige Methode, um Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen auf ihrem Weg zu einer selbstbestimmten Zukunft zu begleiten.

Résumé
Les personnes ayant des déficiences intellectuelles vivant en institution ont souvent peu de possibilités d'autodétermination et de participation. Pour remédier à cette situation, le projet « B-konEkt » a été mené à la Haute école de Lucerne. Cet article explique tout d’abord la démarche empirique et les résultats du projet. Il aborde ensuite cinq modèles d’accompagnement et présente les différents aspects de l’accompagnement socio-éducatif des personnes ayant des déficiences intellectuelles en milieu institutionnel en vue de les guider vers un avenir autonome.

Keywords: kognitive Beeinträchtigung, Selbstbestimmung, Partizipation, Sozialpädagogik, Beratung, Institution / déficience cognitive, autodétermination, participation, éducation sociale, conseil, institution

DOI: https://doi.org/10.57161/z2024-04-07

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 30, 04/2024

Creative Common BY

Einleitung

Die Forderung «Nichts über uns ohne uns» hat ihren Ursprung in den 1960er-Jahren in der Behindertenrechtsbewegung (Charlton, 2000). Weltweit fordern Menschen mit Behinderungen auch heute noch, dass sie in alle öffentlichen und privaten Entscheidungsprozesse, die ihr Leben betreffen, einbezogen werden.

Auch in der Schweiz wird diese Forderung immer lauter. Zu dieser Entwicklung trägt nicht zuletzt die Behindertenrechtskonvention (BRK) bei. Mit der Ratifizierung der BRK verpflichtet sich die Schweiz, die Rechte und Grundsätze der BRK umzusetzen und unter anderem die individuelle Autonomie zu achten, einschliesslich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen (BRK, Art. 3a).

Wie im Schattenbericht der BRK dargelegt, können Menschen mit Behinderungen jedoch weiterhin in vielen Lebensbereichen nicht eigenständig entscheiden (Hess-Klein & Scheibler, 2022). Besonders Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, die in Institutionen der Behindertenhilfe leben, werden oft strukturell und institutionell eingeschränkt. Sie haben häufig wenig Möglichkeiten zur Selbst- und Mitbestimmung und ihr Alltag ist durch multiple Abhängigkeitsverhältnisse geprägt. Unter diesen Bedingungen fällt es ihnen oftmals schwer, selbstständig Krisen- und Problembewältigungsstrategien sowie Lebens- und Zukunftsperspektiven zu erarbeiten, die zugesprochenen Rechte in Anspruch zu nehmen und die damit verbundene Lebensqualität zu entfalten.

Theunissen (2019) fordert daher basierend auf seiner Untersuchung zur Intensivbetreuung, dass gerade Fachpersonen, die mit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und herausfordernden Verhaltensweisen arbeiten, Beratungskompetenzen entwickeln und erweitern müssen. An dieser Stelle setzt das Projekt «Beratungskonzept für Erwachsene mit kognitiver Beeinträchtigung im stationären Setting (B-konEkt)» der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit an. Das Projekt verfolgt das Ziel, ein Konzept sowie ein Handlungsmodell zu erarbeiten für die sozialpädagogische Beratung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen im stationären Setting (Pfiffner et al., 2020).

Beratungskonzept für Erwachsene mit kognitiven Beeinträchtigungen im stationären Setting (B-konEkt)

Ein Leben im stationären Setting ist mit unterschiedlichen Herausforderungen verbunden. So berichten Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, die in stationären Institutionen leben, zum Beispiel von den Schwierigkeiten und Hürden, die sie bei der Suche und dem Aufbau von Freundschaften und Partnerschaften erleben oder dem erschwerten Zugang zu Freizeitangeboten. Vor diesem Hintergrund kommt der sozialpädagogischen Beratung eine hohe Bedeutung zu. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Komplexität von Problemlagen berücksichtigt und sich auf den Alltag sowie die Lebenswelt der ratsuchenden Person bezieht. Im Gegensatz zu anderen Beratungsansätzen ist sie viel stärker darauf ausgerichtet, alltägliche Handlungen und Routinen zu (re-)aktivieren, die einer Person dabei helfen, Konflikte und Krisen zu bewältigen (Galuske, 2013). Bei der sozialpädagogischen Beratung geht es darum, die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der ratsuchenden Person im Alltag zu erweitern und damit ein Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Ressourcen zu ermöglichen. In vielen Bereichen der Sozialen Arbeit ist die sozialpädagogische Beratung daher etabliert. Für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen im stationären Setting gibt es bisher aber kaum spezifische Konzepte und Handlungsmodelle. Ziel des Projekts «B-konEkt» war es darum, ein solches Konzept und ein Handlungsmodell zu entwickeln.

Da die Thematik bisher wenig theoretisch und empirisch bearbeitet ist, wurde ein exploratives und qualitatives Vorgehen gewählt. Das Forschungsdesign gliederte sich in vier Phasen:

Diversität der Beratungsarrangements

Externe Beratung ausserhalb von Institutionen

Die Beratung durch externe Fachpersonen ausserhalb von Institutionen ist durch den höchsten Formalisierungsgrad gekennzeichnet. Das bedeutet, dass diese Form der Beratung in der Regel durch klare Strukturen und Rahmenbedingungen gekennzeichnet ist, wie zum Beispiel durch Ort und Zeitpunkt der Beratung, Häufigkeit der Beratung und einen klaren Beratungsanlass. Gleichzeitig bietet diese Form der Beratung auch den höchsten Schutz der Privatsphäre der ratsuchenden Person. Die externe Beratung findet in der Regel an einem neutralen Ort ausserhalb der Institution statt und ist daher auch im Sinne des Normalisierungsprinzips zu befürworten. Gleichzeitig stellt sie hohe Anforderungen an die Kommunikationsfähigkeiten und Mobilität der Ratsuchenden. In der Fachpersonendiskussion wurde diese Beratungsform als «elitär» bezeichnet, da sie nur für wenige Klient:innen geeignet und zugänglich ist. Je nach Unterstützungs- und/oder Pflegebedarf einer Person erfordert sie eine gute Vorbereitung und eine enge Begleitung (z. B. Organisation des Transports, Terminvereinbarung und Pflege). An die externe Beratungsperson stellt sie zudem hohe Anforderungen bezüglich der Kommunikation und Kenntnisse über Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen.

In der Realität ist der Zugang zu externen Beratungen für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen häufig erschwert, da es an geeigneten Beratungsangeboten und externen Beratungspersonen mangelt, die Kenntnisse über die Personengruppe haben.

Externe Beratung innerhalb von Institutionen

Zugänglicher im Vergleich zur externen Beratung ausserhalb von Institutionen ist die Beratung durch externe Personen, die in die Institution kommen. Die Hürden für die Zielgruppe sind tiefer. Auf Grundlage dreier ausgewählter Beratungskonzepte hat Stahl (2015) ein Beratungskonzept für Erwachsene mit sogenannter «geistiger Behinderung» entwickelt und mit Hilfe einer explorativen Studie evaluiert. Bei ihrem Konzept führt eine externe Person im institutionellen Setting Beratungen durch. Stahl (2015) gibt zu bedenken, dass in einem institutionellen Setting eine interne Beratungsperson schnell in einen Interessen- und/oder Loyalitätskonflikt kommen kann. Daher ist ihrer Ansicht nach eine externe Beratung einer internen vorzuziehen. Aus organisatorischen oder finanziellen Gründen ist dies aber nicht immer möglich. Dies führt nach Stahl (2015) dazu, dass eine externe Beratung nicht alle Interessent:innen erreicht. Eine Alternative ist eine Beratung durch Mitarbeiter:innen anderer Abteilungen oder Wohngruppen.

Ein Hindernis in der Praxis ist (wie bei der externen Beratung ausserhalb des institutionellen Settings) auch bei dieser Beratungsform der Mangel an Beratungspersonen, die Kenntnisse über Menschen mit Beeinträchtigungen haben (z. B. Kommunikationsformen).

Interne Beratung durch Fachpersonen anderer Wohngruppen oder interne Fachstellen

Die interne Beratung ist ein niederschwelliges Beratungsangebot für Menschen, die gegenüber externen Personen grosse Hemmnisse haben beziehungsweise denen gegenüber ein grosses Fachwissen notwendig ist (z. B. aufgrund von kommunikativen Hürden oder spezifischer Verhaltensweisen). Die befragten Fachpersonen sind der Meinung, dass es sowohl unabhängige externe Beratungsangebote als auch niederschwellige Beratungen durch interne Fachpersonen braucht. Wie die qualitative Erhebung zeigt, finden die interviewten Personen mit Beeinträchtigungen die geringere Distanz der Fachperson zur ratsuchenden Person unproblematisch. Vielmehr trug die Möglichkeit, die Beratungsperson niederschwellig im Alltag kennenzulernen, entscheidend dazu bei, dass sie eine Beratung beanspruchten. Der niederschwellige Zugang zur Beratung ist daher ein wichtiger Faktor. Ein zweiter wichtiger Aspekt ist, dass die Beratungspersonen über Kenntnisse zu Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen verfügen und ihr Beratungsangebot an die Zielgruppe anpassen können (z. B. bzgl. Kommunikationsform und Beratungsintervallen). Problematisch ist an dieser Beratungsform, dass der Schutz der Privatsphäre nicht gleichermassen gewährleistet werden kann wie bei einer externen Beratungsstelle. Zudem können interne Beratungspersonen häufig Dokumentationen und Akten der Klient:innen einsehen. Ausserdem kann dieses Beratungsarrangement zu einem Loyalitäts- und Interessenkonflikt führen (Stahl, 2015).

In der Diskussion mit den Fachpersonen hat sich gezeigt, dass dieses Beratungsarrangement in vielen Institutionen etabliert ist; nicht zuletzt, weil es an externen Beratungsformen mangelt. Häufig bieten interne Fachstellen Beratungen zu bestimmten Themen an, beispielsweise Sexualität. Zum Teil wird auch das Umfeld (Mitarbeiter:innen, Angehörige) in den Beratungskontext eingebunden. Bei Personen mit schweren Beeinträchtigungen, die sich in einem klassischen Beratungssetting nicht äussern können, findet Beratung auch durch direkte Beobachtungen im Betreuungsalltag und durch Fachberatungen der Mitarbeiter:innen statt. Kritisch diskutiert wird in diesem Zusammenhang, dass die Beratungen nicht immer mit, sondern häufig über Klient:innen stattfinden und durch Mitarbeiter:innen initiiert werden.

Interne Beratung durch Wohngruppen-Mitarbeiter:innen im stationären Setting

Gemäss den Fachpersonen findet Beratung in sogenannten «Mikroformen» tagtäglich und überall statt. In einzelnen Institutionen ist die Beratung im Betreuungsalltag auch konzeptionell festgehalten. Diese Beratungsform kann als halbformalisiert beschrieben werden. Hier lässt sich auch die sozialpädagogische Beratung verorten. Sie setzt eine hohe und spezifische Fach- und Methodenkompetenz bei den Mitarbeiter:innen voraus, die je nach beruflicher Qualifikation nicht grundsätzlich gegeben ist. Einzelne Institutionen bieten daher Schulungen an, zum Beispiel zu Gesprächsführung. Wie Greving und Ondracek (2013) zur Alltagsberatung ausführen, muss die beratende Person zuerst die beraterisch zu erfassende Situation und Aktivität in aufeinander aufbauende Schritte zerlegen. Zudem müssen die benötigten Gegenstände, Materialien und Bedingungen benannt werden. Am Beispiel des Kaffeekochens könnte dies so aussehen: Zunächst wird der Gesamtvorgang in einzelne Schritte zerlegt (Kaffeemaschine einschalten, Tasse aus dem Regal holen, Tasse bereitstellen etc.). Dann wird sichergestellt, dass alle notwendigen Materialien, Gegenstände und Bedingungen für diese Aktivität vorhanden beziehungsweise erfüllt sind (funktionsfähige Kaffeemaschine, Tasse etc.). Die einzelnen Teilschritte der Aktivität oder Situation werden erörtert, und zwar mithilfe von Fragen (beratende Person, z. B. «Weisst du, wie man die Kaffeemaschine einschaltet?») und Antworten (ratsuchende Person). Je nach Antwort kann die beratende Person die ratsuchende Person unterstützen. Die einzelnen Aktivitäten werden dann praktisch eingeübt. Alltagsberatung beinhaltet also immer auch praktisches Handeln, Üben und Reflektieren. Sie ist konkret, strukturiert und aufklärend. Die Interviews mit Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen zeigen, dass es bei diesem Setting wichtig ist, dass sich die ratsuchenden Personen ernst genommen fühlen und dass genügend Zeit für eine Beratungssequenz zur Verfügung steht. Dieses Beratungsarrangement erfordert von den Mitarbeiter:innen eine hohe Reflektionsfähigkeit, da die Distanz zur ratsuchenden Person geringer ist als bei den anderen Beratungsformen.

Peerberatung

Die Peerberatung hat ihren Ursprung in der amerikanischen Independent Living-Bewegung, die sich einreiht in eine lange Tradition der Selbsthilfebewegungen in den USA. In der Peerberatung treten Selbstbetroffene in die Expert:innenrolle und beraten basierend auf ihren eigenen Erfahrungen und Kenntnissen. Sie dienen somit als positive Rollenbilder für die ratsuchende Person (Stahl, 2015).

Diese Beratungsform ist bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen im institutionellen Setting noch wenig etabliert. Die empirischen Daten und die Diskussionen im Rahmen des Round Tables weisen jedoch darauf hin, dass besonders unter kommunikativ und kognitiv stärkeren Klient:innen eine nicht formalisierte Beratung stattfindet. In einzelnen Institutionen werden die Klient:innen zur gegenseitigen Beratung auch gezielt befähigt. Dies geschieht etwa im Gruppensetting, indem die Ressourcen einzelner Personen identifiziert werden, zum Beispiel Erfahrungen beim Zugang zu Freizeitangeboten. Gemeinsam mit den Klient:innen wird geprüft, wie dieses Wissen anderen Klient:innen vermittelt werden kann.

Die Differenzierung der fünf Beratungsarrangements ist relevant, da je nach Situation und Beratungsanlass zunächst geprüft werden muss, welche Form der Beratung geeignet und für die ratsuchende Person zugänglich ist. Im Beratungsverlauf kann sich diese Einschätzung ändern. Dann muss der Übergang in ein anderes Beratungsarrangement geprüft und ermöglicht werden. Die sozialpädagogische Beratung, welche bei der internen Beratung durch Wohngruppen-Mitarbeiter:innen verortet ist, zeichnet sich durch ihre Niederschwelligkeit aus. Diese Beratungsform ermächtigt Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen im institutionellen Setting zur Selbst- und Mitbestimmung. Das nächste Kapitel zeigt auf, welche Aspekte berücksichtigt werden müssen, um diese Beratungsform im institutionellen Setting zu etablieren.

Einzelne Aspekte der sozialpädagogischen Beratung im institutionellen Setting

Nicht nur in der Fachliteratur wird gefordert, die sozialpädagogische Beratung auf den Alltag der ratsuchenden Personen auszurichten (Galuske, 2013; Greving & Ondracek, 2013; Spindler, 2015). Auch unsere qualitativen Daten lassen darauf schliessen, dass sich die Beratungsthemen wie beispielsweise Nähe und Distanz, Sexualität, Liebe und Freundschaft oder Umgang mit Konfliktsituationen am Alltag der betroffenen Person orientieren.

Aufgrund der Alltagsnähe der sozialpädagogischen Beratung braucht es eine methodische Offenheit (Galuske, 2013). Die Beratung dient dazu, Bewältigungspotenziale aufzudecken und zu fördern. Die beratende Person ist Fachperson für das methodische Vorgehen und hilft der ratsuchenden Person dabei, eigenständige Entscheidungen zu treffen (Stahl, 2015). Galuske (2013) verweist auf drei Maximen des sozialpädagogischen Beratungshandelns, zwischen denen es eine Balance zu finden gilt: Akzeptanz der ratsuchenden Person, Sachkompetenz und Partizipation. Theunissen (2006) fordert hinsichtlich der Beratung von Menschen mit Beeinträchtigung dazu auf, eine Stärken-Perspektive einzunehmen. Es sollen Prozesse angeregt werden, bei denen persönliche und soziale Ressourcen entdeckt und gefördert werden. Dabei ist es wichtig, dass alle Beteiligten zusammenarbeiten und sich gegenseitig unterstützen.

Wichtige Aspekte einer Beratung sind die Partizipation der ratsuchenden Person, die Stärkung ihrer Ressourcen und ihrer Autonomie; das gilt nicht nur in Beratungssettings mit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, sondern für alle ratsuchenden Personen. Dennoch muss dies im Kontext von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen speziell beachtet werden, weil Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen häufig in Settings sozialisiert werden, in denen sie (noch) nicht als Expert:innen in eigener Sache wahrgenommen werden. Das sich langsam verändernde Selbstverständnis und der damit einhergehende Paradigmenwechsel stellen nicht nur an die Begleitpersonen neue Anforderungen, sondern auch an die betroffenen Personen selbst. Die «doppelte» Asymmetrie, die durch die Beziehung «Ratsuchende-Berater» und «nicht kognitiv eingeschränkt vs. kognitiv eingeschränkt» entsteht, muss im Beratungsgespräch berücksichtigt und durch die beratende Person reflektiert werden. Sie kann diese Asymmetrie vermindern, indem sie zum Beispiel die Sprache an die ratsuchende Person anpasst und die Person in ihrer Rolle als Expert:in in eigener Sache unterstützt.

Eine Beratung soll die Selbstbestimmung einer Person fördern und gleichzeitig ihre individuellen, kognitiven Möglichkeiten undihre Grenzen berücksichtigen. Professionelle Beratung ist eine Interaktion zwischen zwei oder mehreren Beteiligten, bei der die beratende Person den ratsuchenden Menschen dabei unterstützt, «in Bezug auf eine Frage oder ein Problem ein Mehr an Orientierung, Klarheit, Wissen oder Bearbeitungs- und Bewältigungskompetenz zu erlangen» (Wessel, 2007, S. 93). Abhängig von den Anforderungen, Problemlagen und Krisensituationen richtet sich die Interaktion auf kognitives, emotionales und handelndes Problemlösen. «Dabei kann Beratung Ressourcen aktivieren und ‹präventive, kurative oder rehabilitative Aufgaben erfüllen›» (ebd.).

Das im Projekt «B-konEkt» erarbeitete Konzept und Handlungsmodell führt in die theoretischen und methodischen Grundlagen der sozialpädagogischen Beratung ein und passt sie auf die Situation von Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen im institutionellen Setting an. Es wird zum Beispiel gezeigt, welche Rolle die Fachperson in der sozialpädagogischen Beratung einnimmt und welche Aspekte im institutionellen Setting geklärt werden müssen (etwa bzgl. Schweigepflicht und Dokumentation). Das Konzept und Handlungsmodell hilft Fachpersonen im Alltag dabei, sozialpädagogische Beratungskompetenzen aufzubauen und zu stärken.

Im Rahmen eines neu entwickelten Fachseminars werden die Inhalte des Konzepts und Handlungsmodells an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit vermittelt. Das Fachseminar richtet sich an Fachpersonen, die im institutionellen Setting Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen begleiten. Ziel ist es, die Klient:innen mithilfe der sozialpädagogischen Beratung zu befähigen, selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen sowie Alltags- und Lösungsfindungskompetenzen zu entwickeln. Beides sind grundlegende Kompetenzen auf dem Weg zu einer selbstbestimmten Zukunft.

Das Fachseminar «Sozialpädagogische Beratung für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen» findet ab Herbst 2024 an der Hochschule Luzern statt. Weitere Informationen zum Fachseminar erhalten Sie unter: https://www.hslu.ch/de-ch/soziale-arbeit/weiterbildung/studienprogramm/fachseminare/sozialpaedagogische-beratung/.

Dr. Elisa Fiala
Dozentin und Projektleiterin

Institut für Sozialpädagogik und Bildung

Kompetenzzentrum Behinderung und Lebensqualität

Hochschule Luzern – Soziale Arbeit

elisa.fiala@hslu.ch

Prof. Dr. Stefania Calabrese
Dozentin und Projektleiterin

Institut für Sozialpädagogik und Bildung

Verantwortliche Kompetenzzentrum Behinderung und Lebensqualität

Hochschule Luzern – Soziale Arbeit

stefania.calabrese@hslu.ch

Prof. Dr. René Stalder

Dozent und Projektleiter
Leiter Institut Sozialmanagement, Sozialpolitik und Prävention

Hochschule Luzern – Soziale Arbeit

rene.stalder@hslu.ch

Literatur

Charlton, J. I. (2000). Nothing about us without us. Disability Oppression and Empowerment. University of California Press.

Galuske, M. (2013). Methoden der Sozialen Arbeit. Eine Einführung (10. Aufl.). Beltz Juventa.

Greving, H. & Ondracek, P. (2013). Beratung in der Heilpädagogik. Grundlagen – Methodik – Praxis. Kohlhammer.

Hess-Klein, C. & Scheibler, E. (2022). Aktualisierter Schattenbericht. Bericht der Zivilgesellschaft anlässlich des ersten Staatenberichtsverfahrens vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Editions Weblaw. https://edudoc.ch/record/224116?ln=de

Pfiffner, M., Stalder, R. & Calabrese, S. (2020). Beratung von Erwachsenen mit kognitiver Beeinträchtigung. Eine systematische Literaturübersicht. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 26 (2), 41–47.

Spindler, C. (2015). Lebensthemenorientierte Beratung in der Begleitung älterer Menschen mit geistiger Behinderung. Klinische Sozialarbeit: Zeitschrift für psychosoziale Praxis und Forschung, 11 (2), 10–12.

Stahl, S. (2015). So und so: Beratung für Erwachsene mit so genannter geistiger Behinderung (3., durchgesehene, mit einem 2. Kartenset erg. Aufl.). Lebenshilfe-Verlag.

Theunissen, G. (2006). Beratung für Menschen mit geistiger Behinderung. In C. Steinebach (Hrsg.), Handbuch Psychologische Beratung (S. 341–354). Klett-Cotta.

Theunissen, G. (2019). Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung und sogenannten herausfordernden Verhaltensweisen in Einrichtungen der Behindertenhilfe in Baden-Württemberg [KVJS-Forschungsprojekt]. Martin-Luther-Universität.

Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention, BRK), vom 13. Dezember 2006, durch die Schweiz ratifiziert am 15. April 2014, in Kraft seit dem 15. Mai 2014, SR 0.109.

Wessel, B. (2007). Wer zahlt, hat Recht? Beratung im Rahmen des Persönlichen Budgets für Menschen mit Behinderung. Lambertus.