Familien durch Beratung unterstützen

Fachberatung und psychosoziale Beratung verbinden

Gisela Erdin

Zusammenfassung
Eine Familienberatung kann Familien unterstützen. Unterschieden wird zwischen der Fachberatung, welche fachliche Informationen vermittelt, und der psychosozialen Beratung, welche Personen darin unterstützt, belastende Erlebnisse zu verarbeiten. Familien, die in schwierige Situationen geraten, benötigen häufig beides. Wenn beispielsweise ihr Kind ein herausforderndes Verhalten in der Schule zeigt, benötigt die Familie Wissen über diese Besonderheit und darüber, wie sie ihr Kind pädagogisch fördern kann. Die Familie braucht aber auch Unterstützung, um diese Situation emotional verarbeiten zu können. Im folgenden Artikel soll der Frage nachgegangen werden, wie man die Fachberatung und die psychosoziale Beratung verbinden kann.

Résumé
L’accompagnement familial est un soutien aux familles. On distingue deux types d’accompagnement aux familles : l’accompagnement spécialisé et le soutien psychosocial. Alors que la première fournit des informations sur des thématiques spécifiques, la deuxième aide les personnes à surmonter des évènements difficiles. Les familles qui se retrouvent dans des situations complexes ont souvent besoin des deux. Si, par exemple, leur enfant présente des comportements problématiques pour l'école, la famille aura besoin à la fois d’informations sur cette particularité et de conseils sur l'aide pédagogique qu'elle peut lui proposer. La famille aura également besoin de soutien pour pouvoir gérer cette situation sur le plan émotionnel. Dans cet article, nous nous pencherons sur la question de savoir comment combiner l'accompagnement spécialisé et le soutien psychosocial.

Keywords: Elternbildung, Kindeswohl, psychosoziale Beratung, Kommunikation, Emotion / éducation des parents, bienêtre de l’enfant, soutien psychosocial, communication, émotion

DOI: https://doi.org/10.57161/z2024-04-05

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 30, 04/2024

Creative Common BY

Einleitung

Professionelle Beratung ist ein neuer Beruf, der noch wenig bekannt ist.[1] Beim Wort «Beratung» denken viele Menschen an eine Fachberatung, bei der Informationen und Wissen vermittelt werden, ähnlich wie bei einer Weiterbildung. Eine professionelle Beratung unterscheidet sich aber in mehreren Punkten von einer Weiterbildung: Sie zielt darauf ab, eine Person oder eine ganze Familie ganzheitlich zu unterstützen. Mit «ganzheitlich» ist gemeint, dass die beratende Person erstens die einzelnen Familienmitglieder in ihrer emotionalen Selbstregulation unterstützt (psychosoziale Beratung). Zweitens wird den Eltern oder gegebenenfalls allen Familienmitgliedern fachliches Wissen vermittelt, welches den Personen in ihrer spezifischen Situation nützlich ist (Fachberatung). Mit anderen Worten: Eine professionelle Beratung ist eine ganzheitliche Beratung, die die psychosoziale Beratung und die Fachberatung kombiniert. In diesen beiden Beratungsformen werden unterschiedliche Methoden der Gesprächsführung angewendet. Aus diesem Grund müssen die Berater:innen immer genau wissen, was eine Person oder eine Familie in den verschiedenen Phasen der Beratung benötigt.

In diesem Artikel wird nach einer theoretischen Einführung anhand eines Fallbeispiels der Beratung einer Mutter gezeigt, wie die beiden Beratungsformen angewendet werden und was während den einzelnen Beratungsschritten zu beachten ist. Dieses Beispiel hat eine Teilnehmerin in einen von mir geleiteten Weiterbildungskurs eingebracht. Das Beispiel wird anschliessend kommentiert, um die Unterschiede im methodischen Vorgehen aufzuzeigen.

Theoretische Einführung

Jede professionelle Beratung beginnt mit dem Zuhören. Es sind aber nicht die Eltern und Familienmitglieder, die der beratenden Person zuhören – wie dies in einer Weiterbildung der Fall wäre. Vielmehr hört die beratende Person den Eltern und Kindern zu. Sie interessiert sich ernsthaft dafür, was die Eltern mit ihren Kindern und die Kinder mit ihren Eltern erleben und wie sie dieses Erleben deuten. Die beratende Person hört akzeptierend und nicht bewertend zu. Das steht im Gegensatz zu einem häufigen Vorgehen von Fachpersonen, die Auffälligkeiten eines Kindes auf ein mangelhaftes Erziehungsvermögen der Eltern zurückführen. Es geht nicht darum, wer etwas falsch oder richtig macht. Schuldzuweisungen sollen vermieden werden. Vielmehr sollen sich die Familienmitglieder gegenseitig und auch die einzelnen Personen sich selbst besser verstehen lernen. Dazu sind Empathie und Fachwissen notwendig. Entwicklungstheoretisches Wissen ist relevant, wenn es um Kinder geht. Zum Beispiel bei Fragen wie: Wo braucht ein Kind noch Unterstützung? Was kann man bereits von ihm erwarten? Sozialpsychologisches Wissen ist grundlegend, wenn die Beziehungsgestaltung in ihrer psychodynamischen Verwicklung[2] verstanden werden soll.

Der vorliegende Artikel stützt sich auf den Personzentrierten Ansatz und damit auf die theoretischen Grundlagen der Beratung, die Carl Rogers (1902–1987) entwickelt hat. Er war ein Pionier der Familien- und Erziehungsberatung. Als Psychologe und Psychotherapeut erlebte er, dass viele Eltern seine fachlichen Ratschläge nicht aufnehmen konnten. Deshalb begann er, Beratungsgespräche systematisch zu beforschen und entwickelte die Grundlagen des Personzentrierten Ansatzes in der Beratung und in der Therapie.

Ein wichtiges Ergebnis seiner Forschung war die Bedeutung des subjektiven Erlebens. Gefühle haben immer einen Sinn, sie erzählen etwas über prägende Erlebnisse, über Wünsche oder über die momentanen Bedürfnisse einer Person. Gefühle wie Angst, Wut oder Traurigkeit können nicht «wegerklärt» werden. Auch das Bedürfnis einer Person nach Schutz und Sicherheit oder nach Abwechslung und Abenteuer verschwindet nicht durch das Wissen, dass dieses im Augenblick fehl am Platz ist, oder wenn die Ursachen verstanden werden. Konflikte entstehen, wenn Gefühle, eigene Bedürfnisse und das kognitive Wissen darüber, welches Verhalten im Augenblick angebracht wäre, auseinanderklaffen. Rogers nennt dies «Inkongruenz». Wenn zum Beispiel ein Elternteil wütend ist und das Kind oder den anderen Elternteil anschreit, obwohl er ihnen eigentlich freundlich und liebevoll begegnen möchte, verweist dies auf einen innerpsychischen Konflikt, der sich in einer Ambivalenz im Verhalten der Person äussert. Dies führt zu Missverständnissen, weil das Kind widersprüchliche Signale erhält. Diese Inkongruenz kommt oft auch innerhalb von Teams vor zum Beispiel von Erzieher:innen: Einige Personen übernehmen die freundliche, verstehende Haltung und andere verlangen einen konsequenteren Umgang mit dem Kind.

Eine professionelle Beratung unterstützt die Klient:innen dabei, die eigene Erlebniswelt wahrzunehmen und alle, auch widersprüchliche Emotionen ernst zu nehmen. Die beratende Person spricht in der psychosozialen Beratung aus, welche Gefühle sie seitens der Person, die sie berät, vermutet. Gleichzeitig formuliert sie diese Gefühle positiv um. Beim Beispiel einer Mutter, die ihr Kind anschreit, könnte sie beispielsweise so reagieren: «Manchmal haben Sie einfach keine Kraft mehr, dann schreien sie ihr Kind an.» Ob das Schreien der Mutter tatsächlich in fehlender Kraft gründet, versucht die beratende Person durch ihr Einfühlungsvermögen herauszufinden. Die verstehende Haltung der beratenden Person in diesem Beispiel bedeutet nicht, dass sie Anschreien als Verhalten gutheisst. Im Gegenteil: Sie steht dazu, dass dies keine förderliche Erziehungsmethode ist. Einfühlsam[3] und wertschätzend sowie kongruent und authentisch zu sein, sind drei wichtige Grundhaltungen. Sie helfen den Klient:innen dabei, sich selbst emotional zu regulieren und sich – in einer zweiten Phase – auch fachlichen Erklärungen zu öffnen.

Das Ziel einer professionellen Beratung liegt nicht darin, einen Menschen zu verändern. Vielmehr möchte sie den einzelnen Personen oder Familienmitgliedern das nötige Wissen vermitteln, das ihnen noch fehlt; und zwar ganz konkret auf ihre jeweilige Situation bezogen. Häufig entwickeln Familienmitglieder – sobald sie sich emotional besser regulieren können – selbst neue Strategien, die für alle Familienmitglieder besser passen. Damit das geschehen kann, braucht es vor der Fachberatung immer zuerst eine psychosoziale Beratung, in der die eigenen Gefühle, Erlebnisse und Bedürfnisse wahrgenommen, verstanden und verarbeitet werden können. Auch die anschliessende Fachberatung unterscheidet sich von einer Weiterbildung: Es werden nur Wissen und Methoden vermittelt, welche der beratenen Person helfen, sich selbst, die anderen Familienmitglieder und die Beziehungen untereinander besser zu verstehen.

Im Folgenden möchte ich an einem Beispiel die konkrete Vorgehensweise einer Beratung nach Rogers verdeutlichen. Beratungen können selbstverständlich auch andere Fragen behandeln als die nachfolgend dargestellte.

Ablauf einer Beratung – ein Beispiel

Laura[4] ist Heilpädagogin. Sie unterstützt stundenweise Kinder im Kindergarten, die im Verhalten unterschiedliche Auffälligkeiten zeigen und sie berät deren Eltern in Erziehungsfragen. Laura besucht bei mir eine Weiterbildung zur professionellen Beraterin. In der Weiterbildung stellen die Teilnehmer:innen Situationen aus ihrer Praxis vor und diese werden dann von mir supervidiert. Laura erzählt folgendes Beispiel:

Anna ist 4½ Jahre alt. Sie hat im Kindergarten Mühe, sich einzufügen. Beim Spielen mit den anderen Kindern kommt es oft zu Konflikten. Deshalb wird Anna stundenweise im Kindergarten von der Heilpädagogin unterstützt. Anna hat eine kleine Schwester, welche ein Monat alt ist und ganztags zu Hause bei der Mutter ist. Laura erzählt: «Ich hatte am Montag ein Elterngespräch mit der Mutter eines Kindes [Anna], welches ich im Kindergarten begleite. Die Mutter hat mir erzählt, dass Anna zuhause oft Wutanfälle habe. Sie ist eifersüchtig auf die kleine Schwester. Die Mutter sperrt Anna dann ins Zimmer ein und sagt ihr, dass Wütend-Sein etwas Schlimmes sei. Ausserdem macht sie sich Sorgen um ihre Tochter, weil sie so ausser sich gerät.» Laura ist entsetzt, dass Anna ins Zimmer eingesperrt wird. Ihrer Ansicht nach benötigt Anna Unterstützung, wenn sie emotional überflutet wird. Laura ist aber auch selbst irritiert, weil Anna zu ihr gesagt hat: «Laura, ich will deine Tränen sehen. Ich will sehen, wie du weinst.» Laura erzählt, dass sie sich dabei sehr nackt und unwohl gefühlt hat und in gewisser Weise auch provoziert.

Dieses Beispiel zeigt, welch grosse emotionale Wirkung Anna auf ihre Mutter und die Heilpädagogin Laura hat. In beiden löst sie eine starke Resonanz aus. Die Mutter empfindet die Wut ihrer Tochter als «etwas Schlimmes». Sie sperrt sie in ihr Zimmer ein, sodass sie die Wut nicht miterleben muss. Sie schützt gewissermassen sich selbst und natürlich auch das kleinere Geschwister vor der unbändigen Wut von Anna. Laura findet das Verhalten der Mutter nicht richtig. Sie selbst fühlt sich aber auch unwohl und zudem provoziert durch die starken Gefühle von Anna. Ausserdem spürt sie, dass sie bei der Beratung der Mutter an ihre Grenzen kommt. Die Mutter will ihre fachlichen Ratschläge nicht annehmen und weist sie ab. Deshalb bringt sie die Situation in der Supervision ein.

Die Welt des Erlebens und die Welt des Wissens

In der professionellen Familienberatung berücksichtigen wir die Welt des subjektiven Erlebens im Rahmen einer psychosozialen Beratung und die Welt des Wissens, indem wir eine fachliche Beratung geben. Zuerst wenden wir uns immer dem subjektiven Erleben zu. Wenn dieser Schritt abgeschlossen ist, dann erst beginnt die fachliche Beratung.

Die Welt des Erlebens (psychosoziale Beratung)

In der psychosozialen Beratung hört die beratende Person der ratsuchenden Person aufmerksam zu. In unserem Beispiel nimmt Laura wahr, dass die Mutter die starke Wut von Anna erlebt und diese starke, offen gezeigte Emotion sie erschreckt. Wir wissen nicht, warum der Schrecken der Mutter so gross ist. Als beratende Person muss man die tieferen Gründe für ein Verhalten nicht kennen. In den meisten Fällen erzählen Menschen – sobald sie sich verstanden und wertschätzend angenommen fühlen – mehr von ihren Gefühlen und wie sie zustande gekommen sind. Es kann also durchaus sein, dass die Mutter Erlebnisse aus ihrer eigenen der Kindheit erzählt, die uns verständlich machen, warum die Wutausbrüche ihrer Tochter so erschreckend für sie sind. In diesem Fall zeigt die beratende Person Verständnis für diese Hintergründe, sie werden aber in der Beratung nicht vertieft. Das könnte in einer Therapie geschehen, sofern die Mutter das wünscht.

In der psychosozialen Beratung wendet die beratende Person die Methode des aktiven Zuhörens an. Beim aktiven Zuhören wiederholt die beratende Person, was sie gehört hat. Dies geschieht auf unterschiedlichen Ebenen in der folgenden Reihenfolge:

Bezogen auf das Beispiel formuliert Laura, dass die unbändige Wut von Anna für die Mutter kaum erträglich ist. Wenn Laura die vermuteten Ängste und Bedürfnisse der Mutter nicht genau trifft, dann wird die Mutter sie korrigieren und diese Korrektur wird Laura übernommen. Danach formuliert sie die Aussagen der Mutter wertschätzend und verständnisvoll um beispielsweise so:

Laura, die beratende Person, zeigt also gegenüber dem Verhalten der Mutter Verständnis, ohne es deshalb gutzuheissen, beispielsweise so: «Die Wut ihrer Tochter ist so schlimm, dass Sie sich nicht anders zu helfen wissen, als Ihre Tochter ins Zimmer einzusperren.»

Es würde nichts bringen, der Mutter an dieser Stelle zu sagen, dass alle Kinder in Annas Alter ihre Wut noch nicht beherrschen können und die meisten erstgeborenen Kinder eifersüchtig sind auf ihr neugeborenes Geschwister. Diese Informationen sind der Inhalt einer anschliessenden Fachberatung. In diesem Moment bestimmt die Angst vor Annas Wut die Erlebniswelt der Mutter. Dieses Gefühl kann nicht «wegerklärt» werden. Wird die Angst der Mutter gesehen und angenommen, dann kann die Mutter diese Angst in Ruhe betrachten. Sie wird verstehen, woher sie kommt und sie wird dadurch Wege finden, mit ihrer Angst umzugehen. Ab diesem Augenblick verliert die Wut von Anna den Schrecken, den sie bis dahin ausgelöst hat. Sie ist dann einfach die Wut, die jedes kleine Kind in diesem Alter haben kann.

Die Welt des Wissens (Fachberatung)

Erst an diesem Punkt kann die Fachberatung beginnen. Fachberatung bedeutet hier, der Mutter das Verhalten von Anna verständlich zu machen und ihr Methoden an die Hand zu geben, wie sie Anna helfen kann, mit der Situation zurechtzukommen. Anna kann wie jedes Kindergartenkind ihre Gefühle noch nicht selbst regulieren (Sappok et al., 2018). Da sie das erstgeborene Kind ist, hat sie noch nicht gelernt, die Mutter mit einem Geschwister zu teilen. Sie ist wütend und traurig, da die Mutter ihr weniger Aufmerksamkeit schenkt. Diese starken Gefühle kann sie nicht kontrollieren. Damit ein kleines Kind seine Emotionen bewältigen kann, benötigt es eine konstante, kohärente Bezugsperson, die verhindert, dass es von seinen Gefühlen überflutet wird. Donald Woods Winnicott bezeichnet dies als «haltende Beziehung» (Winnicott, 2015). Bezogen auf das Beispiel bedeutet das, dass die Mutter das Gefühl von Anna wahrnimmt, versteht, anerkennt und eine angemessene Forderung zurückgibt. Sie muss Anna zeigen, dass sie versteht, dass Anna ungern wartet, bis die Mutter Zeit für sie hat und dass es schwer ist, die Aufmerksamkeit der Mutter zu teilen. Aber sie vermittelt ihrer Tochter auch, dass sie Vertrauen in sie hat und dass sie dies lernen wird. Die Mutter kann von Anna fordern, dass sie trotz der Wut keine Dinge herumwirft und nicht schreit, denn sonst schläft die kleinere Tochter nicht ein. Sie kann die Gefühle von Anna auf die Zeit lenken, die die Mutter mit ihr verbringt, nachdem sie die zweite Tochter gestillt hat. Sie kann Anna auch Vorschläge machen, wie die Zeit bis dahin schneller vergeht. Sie könnte beispielsweise ein Bild malen oder mit ihrer Puppe spielen. Dies alles kann die Mutter nur tun, wenn die Angst über die Wut der Tochter sie nicht mehr überflutet, wenn sie zur Ruhe kommt und diese Ruhe ausstrahlt. Bevor dieser Zustand eintritt, bringt eine Fachberatung nichts.

Empathie, Ansteckung und Resonanz

Die Heilpädagogin Laura hat in ihrer Weiterbildung zur professionellen Beraterin gelernt, wie eine Beratung abläuft. Warum konnte sie ihre Kompetenzen in der Beratung der Mutter nicht anwenden? Das Kindergartenkind Anna übt auch auf Laura eine starke emotionale Wirkung aus. Sie fühlt sich unwohl und provoziert, weil Anna zu ihr gesagt hat: «Laura, ich will deine Tränen sehen. Ich will sehen, wie du weinst.» Wie kann Laura damit umgehen?

Jedes Gefühl erzählt etwas. Die Wut von Anna will der Mutter sagen: «Ich bin auch da», «Ich wünsche mir Aufmerksamkeit von meiner Mutter», «Ich muss spüren, dass mich meine Mutter genauso fest liebt wie meine kleine Schwester.» Weil die Mutter Anna gesagt hat, dass Wut schlecht sei, reagiert Anna auf diese Situation, indem sie Laura mit der obigen Aussage provoziert. Auf diese Weise teilt Anna mit: «Ich will meine Gefühle nicht unterdrücken. Ich habe starke Gefühle und diese Gefühle sind im Recht!»

Laura ist eine sehr einfühlsame und empathische Fachperson. Durch Empathie geben wir die Distanz zu anderen Menschen auf. So passiert es schnell, dass man von den Gefühlen einer anderen Person angesteckt wird. Wenn Laura die Wut und den Schmerz, der sich hinter Annas Toben verbirgt, mitempfindet, wird sie davon angesteckt. Viele Erwachsene spalten ihre Gefühle ab, weil sie zu schmerzhaft sind. Emotionale Selbstregulation bedeutet aber, die Gefühle auszuhalten. Und die Unterstützung der emotionalen Selbstregulation besteht darin, dass Laura die Gefühle von Anna nicht kleinredet, sondern sie «mitaushält». Was gibt es Schlimmeres, als wenn ein kleines Kind denkt, dass die eigene Mutter es nicht mehr liebt, weil sie jetzt ein zweites Kind hat, das sie vielleicht viel lieber hat? Anna will Laura mitteilen: «Wenn Du mich wirklich verstehst, dann würdest Du auch weinen.» Laura muss Anna also zeigen, dass sie sie versteht, und zwar nicht nur intellektuell, sondern auch emotional. Das kann sie zum Beispiel, indem sie mit Anna spricht und dabei die Gefühle theatralisch[5] auflädt. Die Gefühle müssen jedoch echt sein. Denn jedes Kind merkt sofort, ob Gefühle nur gespielt oder echt sind. Laura könnte auch die ganze Situation in einem Puppenspiel mit Anna nachspielen. Eine Puppe erlebt Annas Gefühle, nämlich die Wut, den Schmerz und die Angst, die Liebe der Mutter verloren zu haben. Die Mutter könnte dann die Puppe im Arm wiegen und ihr erklären, dass sie zwei Töchter hat, die sie beide gleich fest liebt.

Laura muss sich schützen, damit sie gegenüber Anna, ihrer Mutter und deren Gefühle nicht «nackt» dasteht. Sie tut das, indem sie sich in jedem Augenblick bewusst macht, dass sie die Gefühle von Anna zwar miterlebt, dies aber nicht ihre eigenen Gefühle sind, selbst wenn sie vielleicht ähnliche Ängste auch in ihrer Kindheit erlebt hat. In der Supervision kann Laura wahrnehmen, was die Wut von Anna und die Verzweiflung der Mutter in ihr ausgelöst haben und sie kann diese Emotionen und Gefühle verarbeiten. Durch die Supervision kann sie ihre eigenen Kindheitserlebnisse von jenen Annas trennen. In der Folge kann sie Anna und ihrer Mutter einfühlsam und wertschätzend begegnen. Der Mutter kann sie in der Fachberatung das nötige Verständnis für ihre Tochter vermitteln, aus dem sich ein Einsperren verbietet und auch überflüssig macht, da die Mutter inzwischen andere pädagogische Methoden kennengelernt hat.

Fazit

In einer Fachberatung wird Wissen vermittelt. In einer psychosozialen Beratung wird eine Person darin unterstützt, ihre Gefühle differenziert wahrzunehmen und sie nicht wegzuschieben, sondern sie auszuhalten und zu regulieren. Die psychosoziale Beratung ist meistens ein längerer Prozess, bei dem verschiedene Methoden zur Verfügung stehen, zum Beispiel das aktive Zuhören. In einer professionellen Beratung muss die beratende Person zu jedem Zeitpunkt genau wissen, was ihre Aufgabe ist: Muss sie die emotionale Selbstregulation der ratsuchenden Person unterstützen, Besonderheiten der Entwicklung erklären oder pädagogische Verhaltensweisen vermitteln? Anhand dieser Fragen wählt sie die passenden Methoden der Gesprächsführung.

Dr. Gisela Erdin

Weiterbildungsleiterin

Gesellschaft für Personzentrierte

Psychotherapie und Beratung

www.beratung-erdin.ch

Literatur

Gergely, G. & Watson, J. S. (2004). Die Theorie des sozialen Biofeedbacks durch mütterliche Affektspiegelung. Die Entwicklung von emotionaler Selbstbewusstheit und Selbstkontrolle im Säuglingsalter. Selbstpsychologie, 17/18 (5) 3–4, 143–194.

Piaget, J. (1969/2009). Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde (6. Aufl.). Klett-Cotta.

Rogers, C. R. (1959/2009). Eine Theorie der Psychotherapie. Reinhardt.

Sappok, T., Zepperitz, S., Barrett, B. F. & Došen, A. (2018). Skala der emotionalen Entwicklung – Diagnostik (SEE-D) – Diagnostik. Hogrefe.

Winnicott, D. W. (2015). Vom Spiel zur Kreativität (14. Aufl.). Klett-Cotta.

  1. Einen übergeordneten Fachverband für Beratung (DGfB) gibt es in Deutschland erst seit dem Jahr 2003. Am 19.06.2003 wurde das Gründungsdokument verabschiedet: https://dachverband-beratung.de/dokumente/DGfB_Beratungsverstaendnis.pdf. Der Dachverband hat Mindeststandards für die Weiterbildung festgelegt.

  2. Unter Psychodynamik versteht man Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene, Projektionen sowie Resonanzphänomene. Diese Phänomene beinhalten ein hohes Konfliktpotenzial und können ohne fundiertes psychologisches Wissen kaum entwirrt werden.

  3. Rogers nennt dies «Empathie».

  4. Alle Namen in diesem Beispiel wurden geändert.

  5. Aus entwicklungstheoretischer Sicht versteht Anna die Welt mit dem «vorbegrifflichen Denken» (Piaget, 2009, S. 248ff.) bildhaft beziehungsweise mit ihren Gefühlen. Deshalb verarbeiten Kinder das Erlebte im symbolischen Spiel. Rein rationale Erklärungen sind ihnen noch nicht zugänglich. Um Kindern etwas zu erklären, sollte man deshalb nicht nur über Gefühle sprechen, sondern diese auch theatermässig spielen. Man nennt dies auch «markierte Affektspiegelung» (Gergely & Watson, 2004, S. 171).