Die Beurteilung sozio-emotionaler Kompetenzen und deren Vermittlung an Schüler:innen mit Sehbeeinträchtigung

Die Sicht von Heilpädagog:innen in der Schweiz

Alessio Barras, Cindy Diacquenod, Valérie Caron und Nicolas Ruffieux

Zusammenfassung
Schüler:innen mit Sehbeeinträchtigung kann der Erwerb sozio-emotionaler Kompetenzen Schwierigkeiten bereiten. Allerdings gibt es kaum Informationen darüber, wie sozio-emotionale Kompetenzen beurteilt und vermittelt werden sollen. In 23 leitfadengestützten (halbstrukturierten) Interviews mit Lehrpersonen, die Schüler:innen mit Sehbeeinträchtigung unterrichten, erfuhren wir Näheres zu ihren persönlichen Vorstellungen, ihren Beurteilungs- und Vermittlungsmethoden sowie zum bestehenden Ausbildungsangebot im Bereich sozio-emotionaler Kompetenzen. Aus den Ergebnissen der Studie geht hervor, dass sich die Befragten Lektionen wünschen, die ganz den sozio-emotionalen Kompetenzen gewidmet sind. Sie möchten auch mehr über geeignete Beurteilungs- und Unterrichtsmaterialien erfahren und befürworten einen stärkeren Fokus auf sozio-emotionale Kompetenzen in den Ausbildungsgängen zum Thema Sehbeeinträchtigung.

Résumé
Les élèves avec déficience visuelle peuvent rencontrer des difficultés à apprendre les compétences socio-émotionnelles. Mais peu d’informations existent sur la manière dont elles devraient être évaluées et enseignées. Vingt-trois entretiens semi-directifs menés avec des enseignantes et enseignants intervenant auprès d’élèves avec déficience visuelle ont permis d’explorer les représentations, l’évaluation, l’enseignement et les formations concernant les compétences socio-émotionnelles. Les résultats montrent un souhait des participantes et participants d’avoir des périodes scolaires dédiées aux compétences socio-émotionnelles, de connaitre des outils d’évaluation et d’enseignement adaptés, ainsi que de voir une place plus importante donnée aux compétences socio-émotionnelles au niveau des formations en déficience visuelle.

Keywords: sozio-emotionale Kompetenzen, Sehbeeinträchtigung, Schulische Heilpädagogik, explorative Studie / compétences socio-émotionnelles, déficience visuelle, enseignement spécialisé, recherche exploratoire

DOI: https://doi.org/10.57161/z2024-03-06

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 30, 03/2024

Creative Common BY

Sozio-emotionale Kompetenzen und Sehbeeinträchtigung

Sozio-emotionale Kompetenzen werden definiert als die Fähigkeit, soziale Informationen kognitiv zu verarbeiten und sich so zu verhalten, dass ein Austausch beziehungsweise die Kommunikation mit anderen Menschen möglich ist. Sozio-emotionale Kompetenzen werden durch Beobachtung und Nachahmung anderer erlernt, womit dem visuellen System eine grosse Bedeutung zukommt. Daher ist es möglich, dass Kinder und Jugendliche mit Sehbeeinträchtigung mehr Schwierigkeiten haben als andere Kinder und Jugendliche. Sowohl im Vorschul- als auch im Schulalter sind diese Kinder und Jugendlichen unter Umständen mit Problemen wie soziale Ausgrenzung konfrontiert, die sich bis ins Erwachsenenalter manifestieren können (Roe, 2019). Folglich sind die Beurteilung der sozio-emotionalen Kompetenzen und deren Vermittlung für Schüler:innen mit Sehbeeinträchtigung wichtig.

Beurteilung von sozio-emotionalen Kompetenzen: Die direkte Beobachtung und standardisierte Skalen zur Bewertung des Verhaltens werden empfohlen, um sozio-emotionale Kompetenzen zu beurteilen (Whitcomb, 2018). Optimal wäre die direkte Beobachtung in einem natürlichen Umfeld unter Berücksichtigung der Vorgeschichte der Betroffenen und der Folgen des jeweiligen Verhaltens. Was die standardisierten Bewertungsskalen anbelangt, so ist das Social Skills Improvement System – Social Emotional Learning (SSIS-SEL) das wichtigste in der Fachliteratur genannte Instrument (Elliot & Gresham, 2021). Darüber hinaus gibt es aber auch spezifische Skalen für Schüler:innen mit Sehbeeinträchtigung, darunter das Social Skills Assessment Tool for Children with Visual Impairments: Revised (SSAT-VI: R) (Sacks, 2014).

Vermittlung von sozio-emotionalen Kompetenzen: Die Vermittlung kann in einem natürlichen Umfeld auf implizite Art oder im Rahmen strukturierterer Unterrichtsprogramme über eine explizite Kompetenzvermittlung erfolgen (Roe, 2019). Die explizite Vermittlung ist zwar wichtig, dennoch rückt sie gemäss Wolffe et al. (2002) in den Hintergrund und wird häufig von Unterstützungspersonal[1] übernommen (McKenzie & Lewis, 2008). Ein von Caron et al. (2023) durchgeführtes systematisches Review machte deutlich, dass es unterschiedliche Modalitäten und Strategien bei der Vermittlung von sozio-emotionalen Kompetenzen gibt. Weitere Beispiele dazu finden sich im Expanded Core Curriculum (Sacks, 2014).

In der Schweiz leben 1639 Kinder und Jugendliche mit Sehbeeinträchtigung. Das entspricht etwa 0,17 Prozent der Schüler:innenpopulation (Bless & Orthmann Bless, 2022). Da der Erwerb von sozio-emotionalen Kompetenzen diesen Kindern und Jugendlichen insgesamt eher Schwierigkeiten bereitet, ist eine explizite Vermittlung empfehlenswert (Sacks & Wolffe, 2006). Der Westschweizer Lehrplan (Konferenz der Vorsteher der Erziehungsdepartemente der Westschweiz und des Tessins [CIIP], o. J.) empfiehlt hingegen eine fächerübergreifende Vermittlung. Angesichts der Bedeutung von sozio-emotionalen Kompetenzen ist es wichtig zu dokumentieren, wie diese Kompetenzen den Schüler:innen mit Sehbeeinträchtigung vermittelt werden.

Studie

In unserer Studie (État des lieux sur l’évaluation et l’enseignement des compétences socio-émotionnelles chez les enfants et adolescents avec déficience visuelle [Bestandesaufnahme der Beurteilung und Vermittlung sozialer Fertigkeiten bei Kindern und Jugendlichen mit Sehbeeinträchtigungen])[2] haben wir mithilfe nachfolgender Fragestellungen die Sicht von Heilpädagog:innen in den drei Sprachregionen der Schweiz erfasst:

Welche Vorstellungen haben die Heilpädagog:innen von sozio-emotionalen Kompetenzen?

Wie werden die sozio-emotionalen Kompetenzen von Schüler:innen mit Sehbeeinträchtigung beurteilt?

Wie werden sozio-emotionale Kompetenzen an Schüler:innen mit Sehbeeinträchtigung vermittelt?

Wie sieht die Ausbildung der Heilpädagog:innen im Bereich sozio-emotionale Kompetenzen aus?

Instrument

Wir haben einen Fragebogen erarbeitet und ihn von vier Fachpersonen auf dem Gebiet prüfen lassen. Zudem wurde er zwei Heilpädagoginnen unterbreitet, um ihn weiter zu verbessern und zu finalisieren. Nach Abschluss dieses Prozesses umfasste die endgültige Version 28 Fragen (14 offene und 14 geschlossene). Schliesslich wurde der Fragebogen ins Deutsche und ins Italienische übersetzt.

Stichprobe

Die Heilpädagog:innen (N = 23) wurden über die wichtigsten Sonderschulen im Bereich Sehbeeinträchtigung in der Schweiz rekrutiert. Tabelle 1 zeigt die häufigsten soziodemografischen Merkmale der befragten Personen, die mit Kindern und Jugendlichen mit Sehbeeinträchtigung (N = 23) und / oder mit Blindheit (N = 7) arbeiten.

Datenerhebung und -analyse

Die 23 Interviews (20 per Videokonferenz und 3 im Präsenzformat) wurden vom Forschungsleiter zwischen August 2021 und März 2022 in drei Sprachen (8 auf Französisch, 8 auf Deutsch, 7 auf Italienisch) durchgeführt und dauerten durchschnittlich 58 Minuten (zwischen 37 und 75 Minuten). Der Fragebogen diente als halbstrukturierter Gesprächsleitfaden, um quantitative (deskriptive) und qualitative Daten zu gewinnen. Die Audioaufnahmen der Interviews wurden transkribiert. Entsprechend dem Ansatz der sogenannt sequenziellen Thematisierung (Paillé & Mucchielli, 2012) konnten die Antworten auf die offenen Fragen mithilfe eines Analyserasters und der Verwendung der Software Nvivo® codiert werden. Um das Raster zu verfeinern, codierten der Forschungsleiter und eine Forscherin zwei Interviews gemeinsam. Danach codierte der Forschungsleiter sämtliche Interviews. Um die Zuverlässigkeit im Analyseprozess zu gewährleisten, hat eine zweite Forscherin ebenfalls sechs Interviews (26,08 %) codiert. Ihre Ergebnisse wurden dann mithilfe des Cohens Kappa (κ) mit denen des Forschungsleiters verglichen. Die Interrater-Reliabilität lag zwischen 0,64 und 1, was einer Übereinstimmung von substanziell bis fast perfekt entspricht (Landis & Koch, 1977).

Um den Rahmen der Studie nicht zu sprengen, wurden die Antworten von 16 Fragen (57 %) berücksichtigt – darunter neun geschlossene und sieben offene Fragen. Darüber hinaus kam ein Mixed-Methods-Ansatz zur Anwendung, bei dem quantitative und qualitative Daten kombiniert werden (Creswell & Clark Plano, 2018).

Tabelle 1: Merkmale der befragten Personen

Variable

N

N

befragte Personen

Geschlecht

Funktion

weiblich

21

ambulant tätige pädagogische Fachpersonen

13

männlich

2

Heilpädagogische Früherzieher:innen

3

Total

23

Schulische Heilpädagog:innen

2

Alter (Jahre)

Lehrpersonen Regelschule

2

unter 35

9

Sozialpädagog:innen

2

36–45

7

Ergotherapeut:innen

1

46–55

4

Total

23

56–65

3

Erfahrung (Jahre)1

Total

23

1–4

10

Ausbildung

5–10

6

Master

15

über 10

7

Bachelor

8

Total

23

Total

23

1Dauer der Tätigkeit im Bereich Sehbeeinträchtigung

Ergebnisse

Die Vorstellungen bezüglich sozio-emotionaler Kompetenzen

Die Heilpädagog:innen betrachten sozio-emotionale Kompetenzen im Allgemeinen als Kompetenzen, die mit Beziehungen zu anderen Menschen, der Anpassungsfähigkeit an den sozialen Kontext und der emotionalen Selbstbeherrschung zu tun haben.

Es handelt sich hierbei um Verhaltensweisen, die es einem ermöglichen, mit anderen Menschen zu interagieren […] hinzu kommt der emotionale Aspekt, das heisst, Emotionen sowohl bei sich selbst als auch bei anderen deuten und sich entsprechend anpassen zu können. (P23)

Die Heilpädagog:innen sind der Ansicht, dass Schüler:innen mit Sehbeeinträchtigung Schwierigkeiten im Bereich der sozio-emotionalen Kompetenzen haben. Bei der Quantifizierung dieser Schwierigkeiten gab eine Mehrheit der Befragten an, dass diese Schüler:innen grosse Schwierigkeiten haben. Sie gingen zudem von moderaten bis grossen Auswirkungen auf das Wohlbefinden der Schüler:innen aus (vgl. Abb. 1).

Abbildung 1: Einschätzung der sozio-emotionalen Schwierigkeiten und deren Auswirkungen auf das Wohlbefinden der Schüler:innen mit Sehbeeinträchtigung

Die Heilpädagog:innen führen diese Schwierigkeiten auf die Sehbeeinträchtigung und andere damit verbundene Einschränkungen zurück.

Die Kinder können nicht oder nicht gut beobachten und nachahmen. Viele zwischenmenschliche Begebenheiten, zum Beispiel wenn ihnen eine Person zuwinkt oder sie anlächelt, fallen ihnen gar nicht auf. (P12)

Es wird jedoch auch hervorgehoben, dass diese Schüler:innen innerhalb eines schwer zugänglichen sozialen Kontexts interagieren, der das Erlernen von sozio-emotionalen Kompetenzen erschwert.

Aus der Perspektive der betroffenen Person ist das Problem die Sehbeeinträchtigung und mit Blick auf den Kontext fehlt es an erläuternden Informationen beziehungsweise deren Vermittlung. Ein Aspekt, der oft unterschätzt wird. (P23)

Beurteilung von sozio-emotionalen Kompetenzen

Die Mehrheit der Heilpädagog:innen beurteilt die sozio-emotionalen Kompetenzen (N = 21; 91,3 %), lediglich zwei Befragte machen keine Angaben zu diesem Thema (N = 2; 8,7 %). Es kommen verschiedene Beurteilungsmethoden zur Sprache, wie zum Beispiel die Beurteilung in Gesprächen: «Die Beurteilung findet im Team statt. Wir kommen zusammen […], diskutieren […] und schlagen dann bestimmte Ziele vor» (P3). Die Verwendung nicht standardisierter Checklisten wird ebenfalls erwähnt: «Dabei kann es sich um Raster handeln, die wir selbst entworfen haben; es sind keine standardisierten Instrumente» (P21). Schliesslich wird von einer Heilpädagogin noch die Nutzung spezifischer Checklisten im Bereich sozio-emotionale Kompetenzen genannt: «Als Massstab verwenden wir den ELDiB[3]» (P16).

Vermittlung von sozio-emotionalen Kompetenzen

Die Mehrheit der Heilpädagog:innen befürwortet die Vermittlung sozio-emotionaler Kompetenzen im Rahmen eines Schulfachs (N = 18; 78,2 %), während sich 21,7 Prozent (N = 5) dagegen aussprechen. Die Heilpädagog:innen würden es allgemein begrüssen, ein bis zwei Wochenstunden dafür aufwenden zu können.

Meiner Meinung nach sollte dem Thema mindestens eine Wochenstunde gewidmet werden. Denn diese Kompetenzen sind für alle Schüler:innen unerlässlich, nicht nur für diejenigen mit einer Sehbeeinträchtigung. (P6)

Alle Heilpädagog:innen geben an, dass sie sich innerhalb ihres individuellen Lehrplans Ziele im Zusammenhang mit sozio-emotionalen Kompetenzen gesetzt haben (N = 23; 100 %). Einige stützen sich auf kognitiv-verhaltensbezogene Ansätze:

Wenn sich die Kinder beispielsweise streiten, sollte man diese Situationen bestmöglich nutzen und gemeinsam diskutieren: «Wie habt ihr euch eben verhalten und wie lauten die Regeln?» (P12)

Andere Heilpädagog:innen arbeiten mit Rollenspielen:

Mögliche Situationen können mit Rollenspielen, Theaterstücken oder Sketchen nachgestellt werden. (P18)

Als Mittel zur allgemeinen Förderung der sozialen Interaktion nennen die Befragten auch Kooperationsspiele, Klassenräte, Sensibilisierungs-Workshops zum Thema Sehbeeinträchtigung oder die Verwendung von Piktogrammen und tastbaren Symbolen, die die Kommunikation unterstützen sollen. Darüber hinaus wird ein explizit auf sozio-emotionale Kompetenzen ausgerichtetes Unterrichtsprogramm genannt: «Während einer Lektion pro Woche arbeiten wir mit dem Lehrmittel DENK-WEGE[4]» (P16).

Die Heilpädagog:innen sehen ihre Aufgabe darin, die Interaktion zwischen dem jeweiligen sozialen Umfeld und den Schüler:innen mit Sehbeeinträchtigung zu fördern:

Man muss eine Verbindung zur äusseren Welt herstellen können. Dazu braucht es einen Mediator. Um die beiden Welten zusammenzubringen, müssen wir in eine Mediatorenrolle schlüpfen. (P5)

Es wird hervorgehoben, dass es Änderungen im Hinblick sowohl auf die Ausbildung als auch auf die gewährte Zeit zum Erwerb der notwendigen Kompetenzen braucht, um diese Aufgabe besser wahrnehmen zu können:

Ideal wäre es, wenn die Heilpädagog:innen darin geschult würden, sozio-emotionale Kompetenzen zu vermitteln und im Stundenplan des betroffenen Kindes ein bestimmter Zeitraum zur Verfügung stünde, während dem es diese Kompetenzen entwickeln kann. (P1)

Schulung zwecks Beurteilung und Vermittlung von sozio-emotionalen Kompetenzen

Eine Mehrheit der Befragten wurde im Umgang mit Sehbeeinträchtigung gezielt geschult (N = 15; 65,2 %), während 34,8 Prozent (N = 8) keine entsprechende Schulung erhalten haben.

Die Heilpädagog:innen nennen verschiedene spezifische interne Schulungen und Zertifikatslehrgänge: Kurse des SZBLIND, den Certificate of Advanced Studies (CAS) in Sehbeeinträchtigung und den Studienschwerpunkt «Sehen» im Rahmen des Masterprogramms an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH). Dennoch scheint man sozio-emotionalen Kompetenzen in den verschiedenen Ausbildungsgängen wenig Aufmerksamkeit zu widmen:

Ich habe mir mein Wissen wohl vor allem durch Fachliteratur oder das Lesen von Studien aus dem Bereich der Heilpädagogik angeeignet. (P12)

Tatsächlich gibt die Mehrheit an, dass während der besuchten Ausbildungsgänge nie ein spezifisches Beurteilungsinstrument (N = 22; 95,6 %) oder Unterrichtsprogramm (N = 21; 91,3 %) vorgestellt wurde.

Diskussion

In der Fachliteratur wird auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die Schüler:innen mit Sehbeeinträchtigung aller Altersstufen beim Erwerb von sozio-emotionalen Kompetenzen haben. Dabei werden auch die Auswirkungen auf ihre soziale Inklusion thematisiert (Roe, 2019). Die befragten Heilpädagog:innen betrachten sozio-emotionale Kompetenzen als Kompetenzen, die man in der Beziehung zu Gleichaltrigen, für die selbstständige Gefühlsregulierung und bei der Anpassung an den sozialen Kontext benötigt. Sie machen ferner auf die Schwierigkeiten von Schüler:innen mit Sehbeeinträchtigung beim Erwerb dieser Kompetenzen sowie auf die damit verbundenen Auswirkungen auf deren Wohlbefinden aufmerksam. Diese Schwierigkeiten haben sowohl mit persönlichen Faktoren (die Sehbeeinträchtigung und / oder andere damit verbundene Einschränkungen) als auch mit Umweltfaktoren (ein schwer zugänglicher sozialer Kontext) zu tun. Den Heilpädagog:innen kommt eine Mediatorenrolle zu: Sie erleichtern den Zugang zum sozialen Kontext und ermöglichen so das Erlernen von sozio-emotionalen Kompetenzen (McLinden et al., 2016). Um diese Rolle wahrnehmen zu können, braucht es jedoch entsprechendes Rüstzeug in Form von Beurteilungsinstrumenten und pädagogischen Strategien.

Obwohl die meisten Heilpädagog:innen die sozio-emotionalen Kompetenzen beurteilen, nennen sie nur ein einziges spezifisches Instrument (nämlich ELDiB). Um den Unterricht an den Bedürfnissen der Schüler:innen ausrichten zu können, müssten nach Empfehlungen der Wissenschaft standardisierte Instrumente zum Einsatz kommen wie das SSIS-SEL (Elliot & Gresham, 2021) oder das SSAT-VI: R (Sacks, 2014).

Bei der Vermittlung von sozio-emotionalen Kompetenzen verfolgen die Heilpädagog:innen verschiedene Ansätze: So vermitteln einige die Inhalte während festgelegter Wochenlektionen (explizite Vermittlung), wohingegen andere auf eine fächerübergreifende Vermittlung im Rahmen unterschiedlicher Aktivitäten (implizite Vermittlung) setzen, wie es auch der Westschweizer Lehrplan vorsieht (CIIP, o. J.). In der Fachliteratur wird allerdings zum Wohl der betroffenen Schüler:innen eine explizite Vermittlung von SEK im Unterricht empfohlen (Roe, 2019). Zu diesem Zweck kommt in den Schulen der Stadt Zürich während bestimmter Wochenlektionen das Unterrichtsprogramm DENK-WEGE zum Einsatz. Dieses basiert auf dem PATHS-Curriculum[5], verfolgt einen expliziten Ansatz und lässt sich an die spezifischen Bedürfnisse von Schüler:innen mit Sehbeeinträchtigung anpassen. Im Expanded Core Curriculum (Sacks, 2014) und in der systematischen Auswertung von Caron et al. (2023) werden zudem verschiedene Beispiele für spezifische Aktivitäten genannt.

Die von den befragten Heilpädagog:innen verwendeten Vermittlungsstrategien decken sich mit denjenigen, die in Fachpublikationen wie dem Expanded Core Curriculum beschrieben werden. Darin kommen noch weitere Strategien zur Sprache wie audiovisuelle Ansätze zur Modellierung des Verhaltens oder das Einbeziehen von älteren Kindern oder Jugendlichen mit Sehbeeinträchtigung als Mentor:innen, die als Vorbild in Sachen soziale Entwicklung dienen (Sacks, 2014).

Mehrere Heilpädagog:innen wurden zwar im Umgang mit Sehbeeinträchtigung gezielt geschult. Doch es hat sich gezeigt, dass andere Heilpädagog:innen keinerlei spezifische Ausbildung auf diesem Gebiet erhalten haben. Darüber hinaus wird das Thema der sozio-emotionalen Kompetenzen gemäss den Heilpädagog:innen in den Ausbildungsgängen nicht ausreichend thematisiert und ihnen wurde nie ein Beurteilungsinstrument oder ein entsprechendes Unterrichtsprogramm vorgestellt. Die Fachliteratur verweist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung einer spezifischen Schulung zu sämtlichen Aspekten der Sehbeeinträchtigung für alle involvierten Personen – seien es Heilpädagog:innen oder Unterstützungspersonal (McKenzie & Lewis, 2008).

Als Limitation dieser Studie ist auf die freiwillige Teilnahme hinzuweisen, die zu einer Stichprobenverzerrung führen kann. Zudem wurde nur eine relativ kleine Anzahl von Personen befragt. Die erhobenen Daten sind daher mit Vorsicht zu interpretieren. Es handelt sich um keine allgemeingültigen Ergebnisse, die auf alle Heilpädagog:innen zutreffen, die Schüler:innen mit Sehbeeinträchtigung betreuen.

Fazit und Ausblick

Die Ergebnisse zeigen, dass die Heilpädagog:innen das Vermitteln von sozio-emotionalen Kompetenzen als Teil ihres Auftrags betrachten. Dieser zielt darauf ab, den Schüler:innen den Zugang zu ihrem sozialen Umfeld zu erleichtern. Im Gegensatz zu den Empfehlungen des Westschweizer Lehrplans (CIIP, o. J.) wäre für Schüler:innen mit Sehbeeinträchtigung eine (zumindest teilweise) explizite Vermittlung von sozio-emotionalen Kompetenzen wünschenswert, und zwar mittels Verwendung anerkannter, bedürfnisgerechter Unterrichtsprogramme, die während festgelegter Wochenlektionen zum Einsatz kommen. Die Heilpädagog:innen wünschen sich zu diesem Zweck anerkannte Ausbildungsgänge mit Fokus auf die Beurteilung und Vermittlung von sozio-emotionalen Kompetenzen, in denen sie das notwendige Know-how erwerben können.

Diese explorative Studie ebnet den Weg für neue Forschungsperspektiven. So wären beispielsweise eine umfassende Studie zur Beurteilung von sozio-emotionalen Kompetenzen mithilfe standardisierter Instrumente oder die Entwicklung von entsprechenden Unterrichtsprogrammen zur expliziten Vermittlung von sozio-emotionalen Kompetenzen für Schüler:innen mit Sehbeeinträchtigung denkbar.[6]

Ein weitgehend identischer Artikel wurde in französischer Sprache publiziert in der Revue suisse de pédagogie spécialisée (2023, 2, 38–45).

Alessio Barras

Diplomassistent und Doktorand

DPS – Universität Freiburg

alessio.barras@unifr.ch

Cindy Diacquenod

Lektorin

DPS – Universität Freiburg

cindy.diacquenod@unifr.ch

Valérie Caron

Lektorin

DPS – Universität Freiburg

valerie.caron@unifr.ch

Nicolas Ruffieux

Ordentlicher Professor

DPS – Universität Freiburg

nicolas.ruffieux@unifr.ch

Literatur

Bless, G. & Orthmann Bless, D. (2022). Sur la situation actuelle des enfants malvoyants / sourdaveugles en Suisse. Heilpädagogisches Institut der Universität Freiburg.

Bodrova, E. & Leong, D. J. (2007). Tools of the Mind: Vygotskian approach to early childhood education. Pearson.

Caldarella, P. & Merrell, K. W. (1997). Common dimensions of social skills of children and adolescents: a taxonomy of positive behaviors. School Psychology Review, 26 (2), 264–278. https://doi.org/10.1080/02796015.1997.12085865

Caron, V., Barras, A., van Nispen, R. M. A. & Ruffieux, N. (2023). Teaching Social Skills to Children and Adolescents with Visual Impairments: A Systematic Review. Journal of Visual Impairment & Blindness, 117 (2), 128–147. https://doi.org/10.1177/0145482X231167150

CIIP (Conférence Intercantonale De L'instruction Publique De La Suisse Romande Et Du Tessin) (o. J.). PER (Plan d’études Romand). https://portail.ciip.ch/per/domains

Creswell, J. W. & Clark Plano, V. L. (2018). Designing and Conducting Mixed Methods Research. Sage Publications.

Elliot, S. N. & Gresham, F. M. (2021). Manuel SSIS SEL – Apprentissage socio-émotionnel. Evaluation à 360° des compétences socio-émotionnelles (ECPA). Pearson.

Landis, J. R. & Koch, G. G. (1977). The Measurement of Observer Agreement for Categorical Data. Biometrics, 33 (1), 159–174. https://doi.org/10.2307/2529310

McKenzie, A. R. & Lewis, S. (2008). The role and training of paraprofessionals who work with students who are visually impaired. Journal of Visual Impairment & Blindness, 102 (8), 459–471. https://doi.org/10.1177/0145482X0810200803

McLinden, M., Douglas, G., Cobb, R., Hewett, R. & Ravenscroft, J. (2016). «Access to learning» and «learning to access»: Analyzing the distinctive role of specialist teachers of children and young people with vision impairments in facilitating curriculum access through an ecological systems theory. Journal of Visual Impairment, 34 (2), 177–195. https://doi.org/10.1177/ 0264619616643180

Paillé, P. & Mucchielli, A. (2012). L’analyse qualitative en sciences humaines et sociales. Colin.

Roe, J. (2019). Social-emotional aspects of visual impairment: A practitioner’s perspective. In J. Ravenscroft (Ed.), The Routledge Handbook of Visual Impairment (pp. 291–305). Routledge. https://doi.org/10.4324/9781315111353-19

Sacks, S. Z. (2014). Social interaction. In C. B. Allman & S. Lewis (Eds.), ECC Essentials: Teaching The Expanded Core Curriculum (pp. 324–359). AFB Press.

Sacks, S. Z. & Wolffe, K. E. (2006). Teaching social skills to students with visual impairments: from theory to practice. AFB Press.

Whitcomb, S. A. (2018). Behavioral, social, and emotional assessment of children and adolescents. Taylor & Francis.

Wolffe, K. E., Sacks, S. Z., Corn, A. L., Erin, J. N., Huebner, K. M. & Lewis, S. (2002). Teachers of Students with Visual Impairments: What Are They Teaching? Journal of Visual Impairment & Blindness, 96 (5), 293–304. https://doi.org/10.1177/0145482X0209600502

  1. Personen, die im Bildungswesen arbeiten, aber keine spezifische Ausbildung haben

  2. Der Fragebogen ist erhältlich über: alessio.barras@unifr.ch und nicolas.ruffieux@unifr.ch.

  3. Bergsson, M. (2005). Entwicklungstherapeutischer/Entwicklungspädagogischer Lernziel-Diagnose-Bogen (ELDiB). Institut für Entwicklungstherapie/Entwicklungspädagogik (ETEP Europe).

  4. DENK-WEGE. (2018). DENK-WEGE – Gewaltprävention an Schulen. https://www.gewaltprävention-an-schulen.ch

  5. https://pathsprogram.com

  6. Das Forschungsteam bedankt sich herzlich bei den Heilpädagog:innen für ihre Teilnahme an der Studie sowie bei den folgenden Personen für die Überarbeitung und Verbesserung des Fragebogens: Stefan Spring (Forschungsbeauftragter, SZBLIND); Dr. Raphaëlle Bertrand (Verantwortliche Fortbildung und Innovation, CPHV); Valérie Melloul (Pädagogische Leiterin, CPHV); Raffaella Crivelli (Heilpädagogin mit Spezialisierung auf Low Vision, Unitas). Schliesslich möchte das Forschungsteam Frau Anita Gadhammar für die Übersetzung des Artikels danken.