Zusammenfassung
Schon früh beginnt ein Kind zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Schnell machen auch wir Erwachsenen uns ein Bild über eine Person. Es können wertende Ausdrücke entstehen, die oftmals auch verletzend sind und viel negative Energien auslösen. Wichtig ist es als erwachsene Person, mir meines eigenen Handelns bewusst zu werden. Was wir von unseren Schüler:innen verlangen, müssen wir auch selbst tun. Erst wenn ich mir Gedanken mache, über meine Art zu kommunizieren und mich zu verhalten, wird eine Änderung meines eigenen Verhaltens möglich. Dies wiederum beeinflusst die Interaktion.
Résumé
Dès leur plus jeune âge, les enfants commencent à faire la différence entre le bien et le mal. Les adultes aussi se font rapidement une opinion d’une personne. Il peut en résulter des jugements blessants et générer beaucoup de négativité. En tant qu’adulte, il est important de prendre conscience de ses propres actions. Ce que nous demandons à nos élèves, nous devons l’appliquer nous-mêmes. Ce n’est qu’en réfléchissant à ma façon de communiquer et de me comporter qu’il m’est ensuite possible de modifier mon propre comportement. Cela influence à son tour les interactions.
Keywords: Kommunikation, soziale Interaktion, soziales Verhalten, Lehrer-Schüler-Beziehung / communication, interaction sociale, comportement social, relation maitre-élève
DOI: https://doi.org/10.57161/z2024-03-02
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 30, 03/2024
Ein Junge, etwa zwei Jahre alt, sitzt mit den Eltern am Tisch eines Restaurants. Die Erwachsenen diskutieren. Der Kleine beginnt zu nörgeln. Er legt demonstrativ seine Füsse auf den Tisch. Die Eltern lachen, zollen dem Sohn Anerkennung und erfreuen sich an seinem Tun. Spätestens mit vier Jahren werden sie den Jungen umerziehen müssen. Was vorher als lustig galt, ist es auf einmal nicht mehr. Der Knabe muss nun, ist dieser Schritt nicht daheim passiert, in der Krippe oder im Kindergarten lernen, dass Füsse nicht auf den Tisch gehören.
Ob ein Kind sozial so entwickelt ist, wie es seinem Alter entsprechend sein sollte, hängt stark von den Beziehungen ab, in denen es aufwächst. Aus den in diesen Beziehungen gemachten Erfahrungen entwickeln sich die soziale und emotionale Kompetenz (Petermann & Wiedebusch, 2016), die wiederum zentral sind, um sich in gesellschaftlichen Situationen zurechtzufinden. Marks (2018) merkt dazu an, dass ein Kind spätestens mit zweieinhalb Jahren damit beginnt, den Unterschied zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch zu erkennen und zu verstehen. Hat bis zu diesem Alter ein Entwicklungsschritt gefehlt oder ist er nicht altersgemäss erfolgt, dann ergeben sich unweigerlich gesellschaftliche Konsequenzen. Denn spätestens ab der offiziellen Schulzeit fällt nach aussen auf, was vorher innen (in der Familie) vernachlässigt wurde. Für die Kinder beginnt ein langer Leidensweg.
Schnell machen wir uns über andere Menschen ein Bild: «Das ist doch das Kind von …». Wettstein und Scherzinger (2022, S. 30) bringen dies folgendermassen auf den Punkt: «Wenn Menschen sich das erste Mal sehen, bilden sie sehr schnell – innerhalb von Sekunden – einen ersten Eindruck.» Dieses Wissen, diese Erfahrung tragen wir weiter in die Gesellschaft hinein, durch Austausch, Gespräch und Information. Wir neigen dazu, unsere Erfahrungen auf dem aufzubauen, was wir sehen, erleben oder wissen. Auf die Schule bezogen bedeutet das, dass «Lehrpersonen […] bereits nach drei Schultagen über ein prägnantes Bild ihrer Typen von Schülerinnen und Schüler […] verfügen» (ebd., S. 30).
Die Einteilung unserer Mitmenschen in Gut und Schlecht erhält so eine Eigendynamik und es zeigen sich Erwartungseffekte. Als Schüler habe ich das selbst erlebt: Mein Nachbar hatte in der Heftgestaltung stets eine ausgezeichnete, ich hingegen eine knapp genügende Note. Als wir unsere Hefte tauschten (er meins – ich seins), zeigte sich dasselbe Resultat: Er erhielt die gute Note, ich eine genügende. Unsere Erklärung dafür: Ich war aufmüpfig, laut, rannte herum und gehorchte oft nicht.
Auch Molnar und Lindquist (2013) weisen darauf hin, dass Störer in der Schule gerne stigmatisiert, verurteilt und damit gepeinigt werden. Schnell kursieren bei Lehrpersonen und Schüler:innen wertende Ausdrücke: der Laute, das ADHS-Kind, die Gestörte. Diese Bezeichnungen sind zumeist verletzend und lösen auf beiden Seiten – der bezeichnenden und der bezeichneten Person – viel negative Energie aus. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Schüler:innen und Lehrpersonen. Das Kind verinnerlicht: «So, wie ich handle, werde ich eingestuft.» Beim Erwachsenen: «So, wie ich denke, handle ich.» Man denke auch hier an die selbsterfüllende Prophezeiung (Rosenthal & Jacobson, 1966). Bei Lehrpersonen kann der Fehlglaube entstehen, dass ein Kind nichts lernen kann oder will. Jedoch muss festgehalten werden, dass pädagogische Tätigkeiten nur nützen, wenn sie der Entwicklungsstufe des Kindes angemessen sind (Blickenstorfer, 2007). Aus Zuschreibungen und Stigmatisierungen resultiert schliesslich eine meist sichtbare Verhaltensauffälligkeit der Kinder und Jugendlichen. Dabei haben sich im Voraus vielfach die Erwachsenen selbst verhaltensauffällig und nicht professionell verhalten.
Wenn Kinder zu spät in den Unterricht kommen, erhalten sie einen Vermerk, werden für ihren Fehler getadelt und erfahren Konsequenzen. Die Lehrperson fragt nicht danach, was hinter dem Zuspätkommen steckt. Wie oben beschrieben, weiss die Lehrperson dann nur, dass eben jenes bestimmte Kind zu spät gekommen ist. Wenn jedoch eine Lehrperson zu spät im Unterricht erscheint, hat sie eine plausible Erklärung dafür.
An meinen Vorträgen weise ich jeweils darauf hin, dass wir pünktlich beginnen. Regelmässig stelle ich fest, dass auch fünf oder zehn Minuten Verspätung bei manchen Zuhörenden noch als pünktlich gelten. Auch das Benützen von Handys während der Präsentation wird als normal angesehen. Tuscheln, Schwatzen und Lachen ebenso. Jedoch müsste bei einem solchen Verhalten stets die eigene Erwartung im Vordergrund stehen: Wie würde ich als Lehrperson handeln, wenn sich die Schüler:innen in meiner Klasse so verhielten?
Was an Weiterbildungen von Erwachsenen, die im sozialen und pädagogischen Bereich tätig sind, als soziale oder gelungene Interaktion gilt, zum Beispiel das Tragen von Mützen, wird von denselben Personen im eigenen Klassenzimmer als unangebracht angesehen. Ganz nach den Worten, die dem römischen Dichter Terenz (150 v. Chr) zugeschrieben werden: «Wenn andere das Gleiche tun, ist es nicht Dasselbe.» Doch wenn ich mir meines eigenen Handelns nicht bewusst bin, wie kann ich dann daraus eine entsprechende Haltung im Umgang mit (herausfordernden) Kindern und Jugendlichen ableiten?
Auch ich nutze am Wochenende nicht immer den Fussgängerstreifen, um eine Strasse zu überqueren. Bei der Arbeit jedoch – und dazu zählen auch Weiterbildungen – bin ich derjenige, der den Auftrag hat, mit Kindern und Jugendlichen einen Weg zu gehen. Ich habe dann eine Rolle und eine Funktion zu besetzen, derer ich mir bewusst sein muss. Wettstein und Scherzinger (2019) beschreiben diesen Umstand ausführlich. Sie zeigen auf, was in einer Klasse geschieht, wenn eine Lehrperson fünf Minuten zu spät erscheint. Die Kinder – vor allem Einzelne – übernehmen derweil das Geschehen in der Klasse. Davon erholt sich die Lektion und das ganze System nicht mehr. Zum Schluss resultieren knappe zehn Minuten Lerninhalte und diverse Strafen und Konsequenzen, die seitens der Lehrperson ausgesprochen werden.
Die Fragen, die sich Lehrpersonen stellen sollten, lauten: Bin ich gut vorbereitet? Bin ich pünktlich? Kenne ich meine Kinder und Jugendlichen? Kann ich flexibel auf sie reagieren? Bin ich entspannt genug, um in einen guten, gelingenden Unterricht und ein erfolgreiches Zusammensein einzusteigen? Welche Wirkung haben mein Handeln und meine Haltung? Zusammengefasst: Wie präsent bin ich in meinem Handeln? Omer und Schlippe (2015) unterstreichen, dass Präsenz wichtig ist und weisen damit auf eine der sieben Säulen in der Neuen Autorität hin. Im Endeffekt kommen Lehrpersonen nicht darum herum, das, was sie von ihren Schüler:innen verlangen, auch selbst zu tun. Es reicht nicht, zu hoffen, dass etwas gelingt. Wir müssen vertrauen, dass unsere Kinder können und wollen. Oder wie es Maria Montessori prägnant formulierte: «Hilf mir, es selbst zu tun.»
Wer unterrichtet, schreibt Hattie (2013), muss sich der eigenen Wirkung auf andere bewusst sein. Lehrpersonen müssen sich des eigenen Verhaltens bewusst sein, um erfolgreich zu interagieren und die Beziehung zu ihren Schüler:innen zu stärken. Dieses Bewusstsein kann erlangt werden, indem einzeln und in Gruppen reflektiert sowie offen ausgetauscht wird, und zwar ohne Angst vor Scham und eigener Verletzung (Marks, 2019). Das verlangt eine Identität der Lehrperson mit der Aufgabe, die sie ausführt. Letztlich kommt sie nicht um die Frage herum: «Gehe ich einem Job nach oder einem Beruf?» In anderen Worten: «Gehe ich einem Beruf nach, der mir immer wieder Spass bereitet? Der mich zwar herausfordert, aber auch fördert? Sehe ich Schritte, die gelingen?» Wenn diese Fragen mit Ja beantwortet werden können, ist die Berufung gefunden.
Nicht nur das Bewusstsein über das eigene Verhalten ist wichtig, damit soziale Interaktion in der Schule gelingt. Steinebach et al. (2018, S. 32) unterstreichen, dass in der Schule die Stärken von jungen Menschen angesprochen und ihnen entsprechende Möglichkeiten angeboten werden sollen: «Es gilt also, Orte zu schaffen, die positive Aktivitäten herausfordern und fördern. Junge Menschen werden nur jene Angebote nutzten, die ihre Anliegen und Bedürfnisse berücksichtigen.» Dieses Werk, aus der Perspektive der Positive Peer Culture verfasst, bezieht sich zwar inhaltlich auf Jugendliche. Doch hat es aus meiner Sicht Gültigkeit für Kinder jeden Alters, ebenso für Erwachsene. Nachfolgend ein Beispiel:
In Pausen können herausfordernde Situationen entstehen. An unserer Schule sind solche herausfordernden Momente weniger geworden, seit die Mitarbeitenden mit den Kindern und Jugendlichen Seil springen, Fussball oder Federball spielen, einen Ping-Pong-Match initiieren oder Kreisspiele machen. Egal, ob mit Kindern aus der ersten oder Jugendlichen aus der neunten Klasse: Es funktioniert! Inzwischen sind viele Mitarbeitende, die selbst nicht in der Pausenaufsicht eingeteilt sind, trotzdem präsent auf dem Areal. Sie verspüren Lust, im gelingenden Augenblick dabei zu sein und ein positives Erlebnis mitnehmen zu dürfen. So haben wir ein ganzes «Dorf» gebaut, das gemeinsam alle Kinder erzieht. Ohne grossen Aufwand und aus Überzeugung und Freude an unserem Schaffen.
Eine physische Präsenz der Lehrpersonen fordern auch Lemme und Körner (2016). Die sichtbare körperliche Anwesenheit der Lehrpersonen in der Pausenaufsicht ist für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen relevant. Omer und Haller (2019) sprechen in diesem Zusammenhang von Teampräsenz. Teampräsenz funktioniert als Sicherheitsnetz für die Schüler:innen, als Anker und als Leuchtturm: «Wir sind da, wir signalisieren euch Halt und geben euch die Wegrichtung an.»
Durch die Auseinandersetzung mit unserem Tun und unserer eigenen Biografie schaffen wir, was zuvor als unmöglich galt. Im «Dorf» gehören alle dazu, alle sind vernetzt. So geben wir uns in unserer Schule alle jeden Tag die Hand zur Begrüssung. Und unsere Schüler:innen haben verschiedene Aufgaben übernommen: Eine Schulorganisation vertritt die Wünsche und Anträge der Kinder und Jugendlichen gegenüber der Institution, ein Fünftklässler ist ein von allen akzeptierter Schuldirektor, der Reden hält oder auch Besucher:innen durch die Institution führt. In der Oberstufe ist ein Professor für Fragen des Lebens und Universums zuständig. Ein Reporter hält die gelingenden Situationen der Woche mit Bildern fest und präsentiert diese. Und eine Unterstufenschülerin ist unsere Ärztin, sie versorgt Blessuren und Schürfungen. Wenn der Stein erst mal ins Rollen gekommen ist, geht die Entwicklung weiter: Dann leisten Schüler:innen gemeinsam Sozialstunden für die ganze Institution oder Jugendliche interagieren als Pädagog:innen und erarbeiten mit Erwachsenen, die in die Rolle der Kinder schlüpfen, Alltagsszenen in kurzen Theatersequenzen. In solchen Momenten sind alle auf Augenhöhe. Alle haben eine gemeinsame Aufgabe und erleben dabei gegenseitige Unterstützung. Gelungene Interaktion bedeutet auch Integration und diese wiederum gründet schliesslich in Identität und Verwurzelung.
Schule und Interaktion weiter zu denken, bedeutet, das zu denken, was unmöglich scheint. An einem Vortrag von Louis Palmer, einem Pionier der E-Mobilität, durfte ich dies erfahren: Der Glaube, dass man mit einem Solarmobil die Welt umrunden könne, schien unmöglich, bis Palmer in den 1990er Jahren das Gegenteil bewies. Wir sollten in der Pädagogik ebenso denken. Wenn wir uns an Theorien, Wissenschaft und ans praktische Ausprobieren halten und Ideen eine Chance geben, dann werden aus Luftschlössern Realitäten. Dazu bedarf es einer intensiven Auseinandersetzung mit mir selbst und meinem Handeln.
«Verhalten ist ein Produkt von Interaktionen», meinte eine Kollegin treffend. Schulische Interaktion ist somit ein Gesamtwerk aus sozialer und gesellschaftlicher Integration. An diesem System beteiligt sind Eltern, Erziehende, Peers, Pädagog:innen, Behörden, Arbeitgeber:innen und -nehmer:innen. Kinder fordern uns heraus. Um gelingend wirken zu können, muss ich mir meiner Berufung in meinem Beruf bewusst sein. Daher ist es wichtig, dass ich mir über mein eigenes Verhalten Gedanken mache: Stimmen meine Forderung und mein Verhalten überein? Bin ich mir meines Handelns bewusst? Verlange ich Werte, die ich selbst auch teile und einhalte?
Aus solchen Fragen und Erkenntnissen lässt sich ableiten, dass wir Erwachsenen an der Entwicklung von uns selbst und jener unserer Kinder und Jugendlichen äusserst intensiv beteiligt sind. Dies wiederum leitet über in ein gemeinsames Verständnis füreinander: miteinander reden, vor allem jedoch zuhören, sich gegenseitig wahr- und ernstnehmen. Interaktion bedeutet daher immer, miteinander zu sein und zu werden. Dann erst erlebe ich soziale Interaktion als Bereicherung und Integration und werde Teil der Schule.
Paul Watzlawick meint, dass man nicht nicht kommunizieren kann. Herwig Thelen sagt, man kann nicht nicht lernen. Und ich behaupte, man kann sich nicht nicht verhalten. Schulische Interaktion betrifft im Endeffekt die ganze Menschheit; sie ist also ganzheitlich. Die Reflexion über seine Art zu kommunizieren, seinen eigenen Lernwillen und damit sein eigenes Verhalten, ermöglicht erst eine Änderung des eigenen Verhaltens. Und das wiederum beeinflusst die Interaktion. Nicht nur auf der schulischen Ebene!
Martin Jany Coach Neue Autorität Schule Friedheim, Bubikon |
Blickenstorfer, J. (2007). Denken. Deutscher Universitäts-Verlag und VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Hattie, J. (2013). Lernen sichtbar machen. Schneider.
Lemme, M. & Körner, B. (2016). Spickzettel für Lehrer. Neue Autorität in der Schule. Präsenz und Beziehung im Schulalltag. Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH.
Marks, S. (2018). Scham – die tabuisierte Emotion (2. Aufl.). Patmos.
Molnar, A. & Lindquist, B. (2013). Verhaltensprobleme in der Schule: Lösungsstrategien für die Praxis. Borgmann.
Omer, H. & Haller, R. (2019). Raus aus der Ohnmacht. Das Konzept Neue Autorität für die schulische Praxis. Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG.
Omer, H. & Schlippe, A. (2015). Stärke statt Macht (2. Aufl.). Vandenhoeck & Ruprecht.
Petermann, F. & Wiedebusch, S. (2016). Emotionale Kompetenz bei Kindern. Hogrefe.
Rosenthal, R. & Jacobson, L. (1966). Teacher’s expectancies: Determinants of pupils’ IQ gains. Psychological Reports, 19, 115–118.
Steinebach, C., Schrenk, A., Steinebach, U. & Brendtro, L. (2018). Positive Peer Culture. Ein Manual für starke Gruppengespräche. Beltz.
Wettstein, A. & Scherzinger, M. (2019). Unterrichtsstörungen verstehen und wirksam vorbeugen. Kohlhammer.
Wettstein, A. & Scherzinger, M. (2022). Beziehungen in der Schule gestalten. Kohlhammer.