Das Programm «Tuning in to Kids – sich in Kinder einfühlen (TIK)»
Zusammenfassung
Emotionale Kompetenzen sind
wichtig für eine gesunde Entwicklung. Eine konstruktive Herangehensweise, um mit Emotionen
umzugehen, ist das Emotionscoaching. Das Emotionscoaching nach Gottman ist Kern des australischen
Elternprogramms «Tuning in to Kids» (TIK). Kernziel von TIK ist es, den Eltern Metaemotionen bewusst
zu machen. Im Beitrag werden die fünf Schritte des Emotionscoachings erläutert. Nebst den
Rahmenbedingungen wird auf die Evaluation und die Weiterentwicklung von TIK eingegangen.
Résumé
Les compétences émotionnelles jouent un
rôle important, car elles permettent à l’être humain de se développer sainement. Apprendre à gérer
les émotions de manière constructive peut se faire grâce au coaching émotionnel. Selon Gottman, le
coaching émotionnel est au cœur du programme parental australien « Tuning in to Kids » (TIK – À
l’écoute des enfants). L'objectif principal du TIK est que les parents prennent conscience des
méta-émotions. Cet article décrit les cinq étapes du coaching émotionnel. Outre les
conditions-cadres, il présente également des résultats d’une évaluation et les développements
ultérieurs prévus concernant le TIK.
Keywords: Emotion, sozial-emotionale Entwicklung, Eltern-Kind-Beziehung, Erziehung, Beratung / émotion, développement socio-émotionnel, relation parents-enfant, éducation, orientation
DOI: https://doi.org/10.57161/z2023-09-03
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 29, 09/2023
Emotionale Kompetenzen sind eine wichtige Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung. Lernt ein Kind beispielsweise nicht, sich selbst zu regulieren, wird es früher oder später in sozialen Situationen anecken und auf die Ko-Regulation durch andere Personen angewiesen bleiben. Entwicklungsauffälligkeiten und auch psychische Erkrankungen haben ihre Ursache meist in einer nicht gelungenen Emotionsregulation beziehungsweise in einer inadäquaten Anpassung an die Situation (Müller & Sigrist, 2019).
Besonders im Alter von drei bis neun Jahren, in der Hauptphase der Emotionssozialisation, erwerben Kinder wichtige emotionale Kompetenzen (Cole et al., 2009). Definitionen von emotionalen Kompetenzen beinhalten übereinstimmend die Fähigkeiten, eigene Gefühle zu erkennen, auszudrücken und zu regulieren (Denham et al., 2007). In der aktuellen Forschung (Otterpohl et al., 2020) werden Wirkmechanismen beschrieben, die in der familiären Emotionssozialisation aktiv sind:
Gottman und DeClaire (1997) haben Videosequenzen mit familiären Gesprächen ausgewertet und vier Erziehungspraktiken identifiziert, wie Eltern auf kindliche Emotionen reagieren:
Das Programm «Tuning in to Kids» (TIK) ist ein Emotionstraining für Eltern. TIK wurde an der Universität Melbourne (Australien) entwickelt (Havighurst et al., 2012) und wird inzwischen in mehreren Ländern verschiedener Kulturen auf fast allen Kontinenten erfolgreich durchgeführt; beispielsweise Neuseeland, Iran, Türkei, Norwegen, USA, Chile, Russland und Israel. Im Jahr 2019 wurde es erstmals in Deutschland angeboten (Otterpohl et al., 2020), in den Jahren 2021 und 2022 auch in der Schweiz implementiert und evaluiert (Burkhardt et al., under review).
Das Kernziel von TIK ist es, elterliche Metaemotionen zu hinterfragen. Gemäss der Metaemotionstheorie (Gottman et al., 1996) hängen unsere Reaktionen auf Emotionen massgeblich davon ab, wie wir über diese Emotionen denken. Wenn wir beispielsweise gelernt haben, dass es sich nicht ziemt, Stolz, Eifersucht oder Neid zu zeigen (weil wir als Kind dafür kritisiert, getadelt oder gar bestraft wurden), werden wir uns unwohl fühlen, wenn wir uns stolz, eifersüchtig oder neidisch fühlen. Wir werden versuchen, diese Gefühle zu verstecken. Diese sogenannten Metaemotionen erlernen wir im Laufe des Lebens – und ganz besonders innerhalb der Ursprungsfamilie (Gottman et al., 1996). Sie werden wiederum von der Art und Weise beeinflusst, wie primäre Bezugspersonen auf den Emotionsausdruck reagieren. Je nachdem also, ob diese Bezugspersonen Gefühle ignorieren, bestrafen, von ihnen abzulenken versuchen (Nichtbeachten von Emotionen) oder sie zum Ausdruck ermutigen und/oder Emotionsregulationsstrategien vermitteln (Emotionscoaching), entwickeln Kinder Vorstellungen davon, wie sie selbst mit ihren Gefühlen umgehen sollen. Metaemotionen übertragen sich also über die Erziehung transgenerational. Eltern und Lehrpersonen sind in diesem Prozess wichtige Informationsquellen und sind – oft unbewusst – Vorbilder für Kinder und geben ihre Metaemotionen an diese weiter (ebd.).
Ein weiteres Kernziel von TIK ist der achtsame, kritikfreie Umgang mit eigenen und kindlichen Emotionen. Im TIK-Kurs lernen Eltern von Kindern zwischen drei und zehn Jahren und Lehrpersonen, wie sie mit den Kindern über Emotionen sprechen und diese begleiten nach dem Motto, das jeder Wunsch und jedes Gefühl erlaubt ist, aber nicht jedes Verhalten (Ginott, 1965).
Das Emotionscoaching besteht nach Gottman und DeClaire (1997) aus fünf Schritten. Die Schritte eins, zwei und fünf mögen einem aus dem lösungsorientierten Ansatz bekannt vorkommen (Baeschlin et al., 1995). Was das Emotionscoaching ausmacht, sind die beiden Schritte drei und vier: Anstatt das Gefühl nur als «Problem» zu erkennen, zum Beispiel, weil es sich durch «problematisches» Verhalten zeigt, fühlt sich die erwachsene Person in die kindliche Sichtweise ein. Von der Ausgangslage der Empathie aus werden dann die Emotionen benannt und weiter erforscht. Schliesslich wird im letzten Schritt, wenn nötig, eine Lösung gesucht:
Das Training besteht aus sechs wöchentlichen Gruppensitzungen zu je zweieinhalb Stunden und beinhaltet Psychoedukation, Gruppendiskussionen, Rollenspiele, erlebnisorientiertes Lernen und Entspannungstechniken. Idealerweise machen beide Elternteile mit. Sie werden ermutigt, sich auszutauschen, zum Beispiel über ihre Metaemotionen und deren Einfluss auf die Erziehung und auch über ihre wöchentlichen (Fort-)Schritte im Emotionscoaching. Anhand konkreter Beispiele werden die Schritte in Rollenspielen und Übungen trainiert und die Eltern tauschen sich darüber aus. Darüber hinaus werden sie ermutigt, eigene Strategien zur emotionalen Selbstfürsorge zu finden, da die elterliche Emotionsregulation für einen achtsamen Umgang unabdingbar ist.
TIK wurde in der Schweiz von der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) erstmals in der Schweiz angeboten (Burkhardt et al., under review). In einer ersten Erprobungsphase nahmen innerhalb eines Forschungsprojektes während der Jahre 2021 und 2022 insgesamt 115 Familien aus acht Schweizer Kantonen und aus Deutschland teil. Die Kurse wurden von zertifizierten Fachpersonen durchgeführt, die eine spezielle Schulung und zuvor ein Studium im pädagogischen oder psychologischen Bereich absolviert hatten. Wegen der Covid-19-Pandemie und der damit einhergehenden Einschränkungen fand das TIK in Form von zehn Online-Kursen statt. Das Projekt wurde wissenschaftlich evaluiert. Die Materialien wurden zuvor von deutschen Kolleginnen ins Deutsche übersetzt (Otterpohl et al., 2020). Zudem wurde TIK in Deutschland evaluiert.
Auch in der Schweiz hatte das Training einen langfristigen Einfluss auf die teilnehmenden Familien (Burkhardt et al., under review). Der Umgang der Eltern mit den Emotionen ihrer Kinder (im Alter von 3 bis 6 Jahren) hat sich nach dem Kurs verändert: Emotions-nichtbeachtende Erziehung nahm nach der Kursteilnahme ab, ebenso die Missbilligung von Emotionen sowie eher aggressive Erziehungsmassnahmen. Ebenso verbesserte sich in der Schweizer Studie das Verhalten der Kinder; die Effekte waren auch nach einem halben Jahr noch nachweisbar.
Viele Eltern berichten übereinstimmend, dass durch das Emotionscoaching bisher schwierige Situationen entschärft und aufgelöst werden konnten. Probleme eskalierten nicht mehr so schnell, sondern würden konstruktiv gelöst, bevor die Emotion zu stark und kaum mehr kontrollierbar werde. Gleichzeitig erlebten es viele Eltern als entlastend, dass zwar jedes Gefühl, aber nicht jedes Verhalten «erlaubt» sei und nähmen es gerne zum Anlass, die oft ungeschriebenen Regeln zu Hause einmal zu definieren und transparent zu machen.
Diese neue Einstellung gegenüber Emotionen (den eigenen und denen der Kinder) braucht jedoch eine gewisse Übung. Dreiviertel der befragten Schweizer Eltern fanden die Prinzipien und die fünf Schritte des Emotionscoachings leicht verständlich, aber schwierig anzuwenden. Das Umlernen von Gewohnheiten, derer man sich oft gar nicht bewusst ist, braucht Zeit und stete Übung.
Nebst der Verbesserung der emotionalen Kompetenz konnte in wissenschaftlichen Evaluationen eine Abnahme von internalisierenden und externalisierenden Störungen sowie Verhaltensauffälligkeiten nachgewiesen werden: Sowohl eher depressive und ängstliche Störungen (internalisierend) als auch hyperaktive und aggressive Verhaltensweisen (externalisierend) nehmen bei den Kindern ab. Neben eindrücklichen Wirknachweisen von TIK in Australien gibt es inzwischen auch Evidenz aus Deutschland, Iran, der Türkei, Hongkong, USA und Norwegen (Bjork et al., 2021; Chan et al., 2021; Edrissi et al., 2019; Otterpohl et al., 2020). TIK ist damit sowohl zur Prävention als auch als indizierte Massnahme geeignet.
Eine Weiterentwicklung von TIK ist der whole school approach (Kehoe, 2023), bei dem neben Eltern und Kindern auch die Lehrpersonen und andere schulische Fachpersonen gleichzeitig in Emotionscoaching geschult werden. Nachweislich wirken Interventionen am besten, wenn sie von der Schule mitgetragen werden (Bambara et al., 2009). Eltern und Lehrpersonen werden zu kompetenten Partner:innen. An der HfH werden deshalb nun TIK-Weiterbildungen für pädagogische und therapeutische Fachpersonen angeboten, die mit Kindern im Vor- und Primarschulalter arbeiten.
Ab 2024 ist hierzu auch ein Forschungsprojekt der HfH geplant: Im ersten Schritt wird eine Machbarkeitsstudie durchgeführt, um eine Übertragbarkeit der australischen Materialien und Prozesse in der Schweiz zu überprüfen. Im zweiten Schritt ist eine Wirksamkeitsstudie geplant, die unter anderem auch spezielle Einflüsse sichtbar machen soll. Welchen Einfluss hat TIK auf die Gesundheit der Lehrpersonen, zum Beispiel bezüglich Burn-out-Prophylaxe, wenn Lehrpersonen ihre eigenen emotionalen Kompetenzen weiterentwickeln? Welchen Einfluss hat das Training auf die Beziehung zu den Schulkindern? Und welchen Einfluss haben Lehrpersonen verglichen mit den Eltern auf die kindliche Emotionssozialisation? Lassen sich diese Einflüsse überhaupt trennen? Diese und weitere Fragen sollen geklärt werden.
Betrachtet man die Erfahrungen mit Emotionscoaching in der Schule in anderen Ländern, so besteht auch für die Schweiz die berechtigte Hoffnung, dass alle Beteiligten vom Emotionscoaching profitieren werden.
Dr. phil. Susan C. A. Burkhardt Dipl.-Psych. Advanced Researcher Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich |
Baeschlin, K., Baeschlin, M. & Wehrli, M. (1995). Der lösungsorientierte Ansatz als Handlungsmodell für den pädagogischen Alltag eines Schulheims. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete VHN, 64, 182–193.
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Otterpohl, N., Buchenau, K., Havighurst, S., Stiensmeier-Pelster, J. & Kehoe, C. (2020). Tuning in to Kids. Ein Elterntraining zur Förderung der Emotionssozialisation im Vorschulalter. Kindheit und Entwicklung, 29 (1), 52–60. https://doi.org/10.1026/0942-5403/a000300