Multiprofessionelle Zusammenarbeit am Beispiel der Grafomotorik

Diagnostisches und entwicklungsbezogenes Fachwissen aus der Psychomotorik unterstützt die Unterrichtsentwicklung

Judith Sägesser Wyss, Michelle N. Maurer und Michael Eckhart

Zusammenfassung
Dieser Artikel liefert ein Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen Psychomotoriktherapeut:in und Lehrperson. Diagnostisches und fachspezifisches Wissen aus der Heilpädagogik, Psychomotorik und Grafomotorik kann die Lehrpersonen unterstützen in der Gestaltung des Unterrichts für heterogene Klassen. An einem Fallbeispiel wird dargelegt, wie die Diagnostik mit GRAFOS-2 in die Unterrichtsplanung und -umsetzung einfliessen und durch situationsbezogene Beobachtungen im Schulalltag ergänzt werden kann. Dabei teilt sich ein multiprofessionelles Team die Verantwortung für die Unterrichtsgestaltung.

Résumé
Cet article fournit un exemple de collaboration entre psychomotriciennes ou psychomotriciens et enseignantes ou enseignants. Les connaissances diagnostiques et spécifiques à la pédagogie spécialisée, à la psychomotricité et à la graphomotricité peuvent aider les enseignantes et enseignants dans l’organisation de leurs cours pour des classes hétérogènes. Une étude de cas montre comment le diagnostic avec GRAFOS-2 peut être intégré dans la planification et la mise en œuvre de l'enseignement et comment il peut être complété par des observations in situ dans le quotidien scolaire. Dans cette situation, une équipe multiprofessionnelle se partage la responsabilité de l'organisation de l'enseignement.

Keywords: Kooperation, Schule, Unterricht, Planung, Heterogenität, Psychomotorik, Grafomotorik, Schreiben, diagnostischer Test / coopération, école, enseignement, planification, hétérogénéité, psychomotricité, habiletés graphomotrices, écriture, test diagnostique

DOI: https://doi.org/10.57161/z2023-08-06

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 29, 08/2023

Creative Common BY

Inklusionsorientierte Schulen durch starke pädagogische Teams

Der Dachverband der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH) nennt in einem jüngst aktualisierten Positionspapier[1] Gelingensbedingungen für die inklusionsorientierte Entwicklung der Schweizer Schulen (LCH, 2023). Dabei wird die multiprofessionelle Zusammenarbeit – eine Stärke der Schweizer Volksschule – als wichtiges Element genannt (ebd.). Der LCH fordert von Kantonen, Gemeinden und Schulen unter anderem genügend Ressourcen für die multiprofessionelle Zusammenarbeit. Damit werden Voraussetzungen geschaffen für die Nutzung von diagnostischen und fachspezifischen Kompetenzen der Heilpädagogischen Fachpersonen (Schulische Heilpädagog:in, Logopäd:in und Psychomotoriktherapeut:in) für die Unterrichtsentwicklung.

Im Fokus dieses Artikels steht die multiprofessionelle Zusammenarbeit zwischen Psychomotoriktherapeut:in und Lehrperson im Bereich Grafomotorik und Handschrifterwerb. Sie ist unter anderem auch Gegenstand des Forschungsprojekts «grafset»[2], das an der PHBern durchgeführt und vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanziert wird. Im Rahmen dieses Projektes wird Inklusion als Vision betrachtet, in deren Richtung wir uns bewegen können beziehungsweise sollen (Sahli Lozano et al., 2017).

Rahmenmodell der Zusammenarbeit Lehrperson − Psychomotoriktherapeut:in

Besuchen Schüler:innen mit und ohne Beeinträchtigungen dieselbe Klasse, erfordert dies viel von der Lehrperson: Sie muss sowohl die Gemeinschaft der Klasse im Blick haben als auch die individuellen Voraussetzungen jedes einzelnen Kindes (Eckhart, 2010). Die Lehrperson verbindet ihre Beobachtungen mit dem fachdidaktischen und didaktischen Wissen. Oftmals unterscheiden sich die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Kinder markant: Es hat Kinder in der Klasse, welche mit den Aufgaben und Materialien nicht abgeholt werden, weil sie damit über- oder unterfordert sind. Dies kann zu einer anspruchsvollen und möglicherweise für Lehrperson und Kinder unbefriedigenden Situation führen. Damit alle Kinder ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten entsprechend gefördert werden können, ist die multiprofessionelle Zusammenarbeit zentral.

Das Rahmenmodell in Abbildung 1 veranschaulicht, wie mittels multiprofessioneller Zusammenarbeit das fachdidaktische und didaktische Wissen der Lehrperson (s. Abb. 1, linke Seite) mit dem Fachwissen aus der Psychomotorik (s. Abb. 1, rechts unten) verbunden werden muss. Dabei ist zu beachten, dass auch die multiprofessionelle Zusammenarbeit aufgebaut werden muss (s. Abb. 1, rechts oben). Das Fachwissen aus der Psychomotorik beinhaltet erstens diagnostische Kompetenzen, welche die Evaluation des Unterstützungsbedarfs eines Kindes ermöglichen. Zweitens umfasst es auch Wissen über die Entwicklung basaler grafomotorischer Kompetenzen. Es ist wichtig zu wissen, wie sich die Kompetenzen im Bereich der Grafomotorik entwickeln. Nur so können die schulischen Angebote für Kinder mit Schwierigkeiten angepasst werden.

Abbildung 1: Rahmenmodell zur inklusiven multiprofessionellen Zusammenarbeit (aus: GRAFINK; Sägesser Wyss et al., 2021)

Das Rahmenmodell zur inklusiven multiprofessionellen Zusammenarbeit besteht aus vier Teilen: 
1. Didaktik für den Unterricht mit heterogenen Klassen: Bewusste didaktische Gestaltung des Unterrichts ermöglicht Teilhabe aller Kinder am Lerngegenstand. 
2. Multiprofessionelle Zusammenarbeit: Gemeinsame Verantwortung und unterschiedliche fachliche Hintergründe ermöglichen spezifische Unterrichtsentwicklung.
3. Fachdidaktische Grundlagen Handschrifterwerb: Alle Kinder profitieren von Erkenntnissen aus der fachspezifischen Forschung.
4. Fachwissen Psychomotorik: Fachwissen betreffend grafomotorischer Förderung ermöglicht individuelle Anpassung im Alltag. 
Teil 1 und 2 sind Umsetzungs- und Handlungswissen, Teil 3 und 4 fachspezifisches und fachdidaktisches Wissen.

© Hogrefe AG, mit freundlicher Genehmigung des Hogrefe Verlages Bern

Entwicklungsorientierte Diagnostik am Beispiel von GRAFOS-2

Eine Diagnostik im inklusiven Setting ist stets mehrperspektivisch und bedarf der Zusammenarbeit im multiprofessionellen Team (Schäfer & Rittmeyer, 2021). Der Fokus dieser inklusiven Diagnostik liegt auf der Entwicklung gut angepasster Lernsituationen für alle Kinder, wodurch eine Einteilung der Kinder in verschiedene Kategorien vermieden werden kann (Eggert, 2007; Wocken, 2015). Entsprechend soll mittels Diagnostik im inklusiven Setting nicht bloss evaluiert werden, wer im Bereich der Psychomotorik «ein Problem» hat. Vielmehr soll festgestellt werden, welche Förderangebote in einem Fach bereitgestellt werden müssen, damit alle Kinder ihrer Entwicklung entsprechend lernen können (s. Abb. 1, links). Obwohl die Psychomotoriktherapeut:innen für den Bereich der Grafomotorik spezialisiert sind und allfällige diagnostische Verfahren durchführen, verantworten sie den diagnostischen Prozess gemeinsam mit den Lehrpersonen (s. Abb. 1, rechts). In die Planung des Unterrichts und das Festlegen von Förderschwerpunkten fliessen die Beobachtungen und Perspektiven aller Beteiligten ein. Ausgewählt werden diejenigen diagnostischen Instrumente, welche am besten zur Frage passen, die sich in Bezug auf die Unterstützung eines Kindes stellen.

Das Instrument GRAFOS-2 ist ein Instrument zur Erfassung der grafomotorischen Entwicklung bei Kindern zwischen 4 und 9 Jahren (Sägesser Wyss et al., im Druck; Sägesser Wyss & Eckhart, 2016). Der GRAFOS-2 unterstützt die multiprofessionelle Zusammenarbeit in der Diagnostik und Förderung im Bereich des Handschrifterwerbs und der grafomotorischen Förderung im Zyklus 1. Der GRAFOS-2 besteht aus drei Teilen:

  1. Screening;
  2. Beobachtungsbogen für die Durchführung im Klassenzimmer;
  3. Differentialdiagnostik für Kinder mit Schwierigkeiten und die Durchführung in der Einzelsituation.

Im Screening werden die Kinder aufgefordert, eine Aufgabe zu bearbeiten, die eingebunden ist in eine Tiergeschichte. Die Kinder zeichnen für ausgewählte Tiere spezifische Formen in einer Flagge (s. Abb. 2 und 3). Diese Flaggen benötigen die Tiere für die Teilnahme an einem «Fest der Tiere».

Abbildung 2: Screeningbogen 1 (aus: GRAFOS-2; Sägesser Wyss et al., im Druck; Sägesser Wyss & Eckhart, 2016)

Ein Bild, das verschiedene Waldtiere enthält; eine Eule, einen Specht, einen Igel, einen Frosch, einen Fuchs, eine Spinne, eine Schnecke und eine Schildkröte. Bei jedem Tier hat es ein Feld mit kleinen Häuschen und einer vorgegebenen Form (Kreis, Dreieck, vertikaler Strich etc.) zum weiter ausfüllen.

© Hogrefe AG, mit freundlicher Genehmigung des Hogrefe Verlages Bern

Abbildung 3: Screeningbogen 2 (aus: GRAFOS-2; Sägesser et al., im Druck)