Diagnostik: weniger ist mehr, oder?

Romain Lanners

DOI: https://doi.org/10.57161/z2023-08-00

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 29, 08/2023

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Viele Faktoren beeinflussen die Diagnostik im Bildungsbereich, was wiederum zu zahlreichen Spannungsfeldern führt. Diagnostik ist verbunden mit dem Anspruch auf Leistungen in Form von einfachen oder verstärkten (sonder-)pädagogischen Massnahmen im Rahmen von Schulischer Heilpädagogik, Logopädie, Psychomotorik oder Schulpsychologie. Das Standardisierte Abklärungsverfahren (SAV) fokussiert nicht nur die einzelnen Lernenden, sondern auch ihr Umfeld, da Schwächen in der Umwelt die Entwicklung hemmen können. Leider wird diesem Aspekt aber in der Praxis zu wenig Beachtung geschenkt: Die Schwierigkeiten werden nur an den einzelnen Lernenden festgemacht und «behandelt»; nur selten werden Massnahmen ergriffen, um die Umwelt zu verändern. Häufig werden die benötigten Massnahmen also falsch verstanden und ausschliesslich im Einzelsetting ausserhalb der Klasse angeboten. Dabei sind indirekte Massnahmen wie Beratung und Unterstützung der Lehrpersonen oder der Eltern und Angebote in kleinen Gruppen, innerhalb oder ausserhalb der Klasse, genauso effizient und zudem viel nachhaltiger.

Indem heute häufiger und genauer auf die Kompetenzen der Lernenden geschaut wird, werden auch mehr Abweichungen identifiziert. So hatte die Einführung des Lehrplans 21 ungewollt zur Folge, dass wegen zu hoch gesteckten Entwicklungszielen mehr Lernende als beeinträchtigt diagnostiziert werden. (Vorübergehende) Schwächen oder Verhaltensweisen werden wegen der gestiegenen Erwartungen seitens Schule oder Elternhaus als förderbedürftig oder als problematisch wahrgenommen und der somit falsch diagnostizierte Förderbedarf steigt.

Auch das Angebot beeinflusst den Diagnostikprozess. Denn Angebot schafft Nachfrage: Je mehr Plätze in Sonderklassen (Kleinklassen oder Förderklassen) oder in Sonderschulklassen existieren, umso grösser ist die Nachfrage an separativer Schulung und umso häufiger die Zuweisung in separative Settings; und dies unabhängig vom realen Förderbedarf der Lernenden. Die Bergkantone mit grossen Wegstrecken zur nächsten Institution beispielsweise kennen mehr integrative Klassen als grössere Agglomerationen mit ihrem historisch gewachsenen Angebot an vielfältigen separativen Angeboten.

Diagnostik im Bildungsbereich hängt also von vielen Faktoren ab und ist somit keine exakte Wissenschaft, auch wenn die meisten Tests und Verfahren den wissenschaftlichen Gütekriterien genügen. Aktuell riskiert die Diagnostik, instrumentalisiert zu werden, um dem Ruf nach mehr Klein- oder Förderklassen gerecht zu werden. In diesem schwierigen Kontext führt ein Mehr an Diagnostik zu einem Mehr an Separation, obwohl wir uns im Jahr 2007 mit dem Sonderpädagogik-Konkordat das Prinzip «Integration vor Separation» auf die Fahne geschrieben haben.

Dr. phil. Romain Lanners

Direktor

SZH/CSPS

romain.lanners@szh.ch