Umfassende Diagnosen helfen, situationsgerecht zu handeln
Zusammenfassung
Die Zahl von Kindern und Jugendlichen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) nimmt weiter zu. Die Wartelisten für eine Abklärung sind lang: Diagnostische Möglichkeiten werden differenzierter, aber auch komplexer. Müssen die Massnahmen im Gleichschritt immer weiter anwachsen? Zweifel sind angebracht, wie der Beitrag argumentiert. Anhand der sechs Leitprinzipien der «National Guideline for the Assessment and Diagnosis of Autism Spectrum Disorders in Australia» und eines Fallbeispiels leiten wir Empfehlungen für den Umgang mit der Diagnose Autismus-Spektrum ab.
Résumé
Le nombre d'enfants et de jeunes ayant des troubles du spectre autistique (TSA) ne cesse d’augmenter. Les listes d'attente pour une évaluation sont longues et les possibilités de diagnostic deviennent plus différenciées, mais aussi plus complexes. Les mesures pédagogiques spécialisées doivent-elles continuer à augmenter au même rythme ? Il est permis d'en douter, comme l'argumente cet article. À l'aide des six principes directeurs du « National Guideline for the Assessment and Diagnosis of Autism Spectrum Disorders in Australia » (directive nationale australienne pour l'évaluation et le diagnostic des troubles du spectre autistique) et d'une étude de cas, nous formulons des recommandations pour une bonne gestion du diagnostic dans le spectre de l’autisme.
Keywords: Autismus-Spektrum-Störung (ASS), diagnostischer Test, Diagnose, Förderung, besonderer Bildungsbedarf / trouble du spectre de l'autisme (TSA), test diagnostique, diagnostic, encouragement, besoins éducatifs particuliers
DOI: https://doi.org/10.57161/z2023-08-03
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 29, 08/2023
Die Situation von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) hat sich in den letzten 20 Jahren auch in der Schweiz stark verändert (Thommen, 2019; Eckert et al., 2015). Eine augenfällige Folge ist, dass es scheinbar immer mehr Personen mit ASS gibt. Denn immer mehr Kinder und Jugendliche – und inzwischen auch Erwachsene – erhalten die Diagnose ASS oder sind zumindest für eine Abklärung angemeldet. Aktuell müssen dafür Wartezeiten zwischen sechs und zwölf Monaten in Kauf genommen werden.
Aufgrund der hohen Relevanz lohnt es sich, grundsätzliche Fragen zur Diagnostik zu stellen: Welche Trends in der psychologischen, medizinischen und klinischen Diagnostik gibt es? Welche Ursachen stecken hinter dem Zuwachs? Wann und für wen sind Diagnosen hilfreich? Wie gelingt im Frühbereich und in der Schule ein guter Umgang mit einer erhaltenen Autismus-Spektrum Diagnose?
Zur klinischen Diagnose gehört nach dem internationalen Goldstandard ein ganzes Bündel diagnostischer Zugänge. Dessen Kernbestandteile sind:
Die klinische Diagnose ist also aufwändig. Auch Komorbiditäten wie ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) oder Angststörungen müssen abgeklärt werden. Die Kinder müssen in allen standardisierten Verfahren die Cut-off-Werte für ASS erreichen. Diese Abklärungen benötigen drei bis fünf Konsultationen respektive mindestens einen Arbeitstag von Fachexpert:innen. Sie werden über die Krankenkassen als ambulante Leistungen finanziert. Strukturierte Elterninterviews werden allerdings aus Zeitgründen wenig in der Praxis verwendet.
Die Forschung zur Autismusdiagnose bewegt sich eher weg von der Erfassung von Verhaltensmustern. Stattdessen werden zur Objektivierung der Diagnose neurobiologische Muster erforscht. Ein Beispiel sind die Aktivierungsmuster von Gehirnarealen beim Zeigen von emotional ansprechenden Bildern, ein anderes atypische Augenbewegungen (Bochet et al., 2021). Auch Künstliche Intelligenz (KI) spielt zunehmend eine Rolle (Nogay & Adeli, 2020). Dies könnte die Zukunft der funktionellen klinischen Diagnostik stark verändern.
Es ist sinnvoll, Diagnostik viel umfassender zu verstehen. Als ein Beispiel dafür möchten wir die australische «National Guideline for the Assessment and Diagnosis of Autism Spectrum Disorders» vorstellen (Autism CRC, 2023). Das ist unseres Wissens die aktuellste Fassung der Diagnostik-Guidelines. Die Praxis orientiert sich an ihr und verwandten Guidelines. Gemäss diesen Richtlinien wird die Funktionsfähigkeit der Person beurteilt: kognitive Fähigkeiten, Sprech- und Sprachfunktionen, Fähigkeiten des täglichen Lebens, soziale Interaktionen und Beziehungen sowie Fähigkeitsniveaus und Unterstützungsbedarf in Schule oder Arbeit. Zudem findet eine medizinische Einschätzung statt, neurobiologische Muster können ein Teil davon sein.
Getragen wird der diagnostische Prozess von sechs Leitprinzipien (siehe Abb. 1). Diese sind insofern interessant, weil sie die Versorgungsaspekte (beste Evidenz für jede und jeden, gleichberechtigter Zugang für alle) mit einer Ressourcenperspektive kombinieren (Personen- und Familienzentrierung, holistische Sichtweise mit Umfeldressourcen, Bedarfsorientierung und Erkennen von Stärken).
Damit wird die ASS-Diagnostik zu einem umfassenden Prozess, der eine rein klinisch verstandene Diagnosefindung übersteigt. Die Diagnostik läuft individualisiert ab und es werden auch Aspekte wie das Umfeld, die Bedürfnisse des Kindes und der Familie sowie mögliche Ressourcen eingeschlossen. So entstehen Ansatzpunkte für die Heilpädagogik. Zudem wird diese Form der Diagnosefindung zu einem kooperativen Prozess aller Beteiligten, wie wir im nächsten Abschnitt an einem Fallbeispiel skizzieren.
Abbildung 1: Die sechs Leitprinzipien der «National Guideline for the Assessment and Diagnosis of Autism Spectrum Disorders in Australia» (Quelle: Autism CRC, 2023)
Anmerkung: eigene Übersetzung aus dem Englischen
Dardan erhielt seine erste Diagnose im Alter von 2½ Jahren. Die Eltern, beide mit Migrationshintergrund, vertrauten ihrem Kinderarzt. Sie fassten den Mut, ihm zu schildern, dass Dardan keine verständlichen Worte rede und immer mit den gleichen Dingen spiele. Er verweigere fast alle Nahrungsmittel. Der Arzt stellte in Konsultation mit einer spezialisierten Psychologin die ICD-10-Diagnose «Frühkindlicher Autismus» und initiierte die Betreuung durch eine erfahrene Heilpädagogische Früherzieherin. Bei zwei Hausbesuchen pro Woche wurden die für die Eltern wichtigen Themen wie geregeltes Essen und Dardans Spielentwicklung konkret erfahrbar gemacht. Die Früherzieherin unterstützte die Eltern in der Verarbeitung der Diagnose und vermittelte ihnen Veränderungsmöglichkeiten und Zuversicht. Auf ihr Anraten erhielt Dardan nach einer IV-Anmeldung für GG-Ziffer 405 (Frühkindlicher Autismus) zusätzlich Ergotherapie. Die Ergotherapeutin betreute ihn und die Familie noch über den Eintritt in den Regelkindergarten hinaus.
In diesem Beispiel fallen verschiedene Dinge auf. Es sind meist Pädiater:innen, die Kinder mit ASS erkennen und Folgeschritte in die Wege leiten (Moser et al., 2021). Zudem haben die Eltern von Dardan Vertrauen zu ihrem Kinderarzt gefasst. Das ist bemerkenswert, da Kinderärzt:innen berichten, dass sie «regelmässig […] elterlichen Widerständen gegenüber Entwicklungsabklärungen und sonderpädagogischen Massnahmen […] begegnen» (ebd., S. 219).
Interessant ist der Sprung von der Diagnostik zur Massnahme, vom Individuum zum Unterstützungssystem. Der Diagnostik liegt die Frage zugrunde, ob Dardan zum autistischen Spektrum zählt. Mit der Antwort werden weiterführende Massnahmen legitimiert und die eigentliche Arbeit kann beginnen. Wieder spielt dafür der Kinderarzt die entscheidende Rolle: Er initiiert die Heilpädagogische Früherziehung.
Die Diagnose führt also zu Entscheidungen. Dieser Sprung von der Diagnostik zur Massnahme, vom Kind zum Unterstützungssystem ist der eigentliche Clou: Eine Massnahme, ohne dass abgeklärt ist, ob sie notwendig und indiziert ist, ist nicht vertretbar.
Bevor wir das Fallbeispiel weiterverfolgen, können wir innehalten und einige kritische Fragen anbringen. Warum wurde zum Beispiel nicht Logopädie oder eine Autismusfachstelle beigezogen? Warum wurde keine intensive Frühintervention initiiert?[1] Die Antwort: Der Pädiater schätzte es so ein, dass diese Massnahmen weder zum Kind noch zur Familie passten.
Das Fallbeispiel macht klar, dass es keinen eindeutigen Weg von der Diagnose zur Massnahme gibt. Der Weg ist vielmehr abhängig vom sozialen System und dem Erfahrungs- und Systemwissen der beteiligten Akteur:innen. Das heisst: Die Diagnose selbst und das Unterstützungssystem sind dynamisch. Das sieht man auch gut daran, wie es im Fallbeispiel mit Dardan weiterging.
Dardan besuchte den Regelkindergarten zuerst während zwei Stunden pro Woche. Nach einem halben Jahr waren es bereits vier Vormittage pro Woche. Auch eine Schulische Heilpädagogin wurde involviert. Sie nahm Dardan einmal pro Woche in eine Kleingruppe. Auch im zweiten Kindergartenjahr sprach er ausser «Flugzeug» und «nein» kein deutsches Wort. Er erhielt darum nun auch Logopädie. Die Logopädin führte einen Piktogramm-basierten Talker ein, mit dem sich Dardan zum ersten Mal ausdrücken konnte. Weil er den Ablauf im Kindergarten immer besser kannte und viele Lieder melodisch mitsang, wurde entschieden, dass er für ein drittes Kindergartenjahr bleiben konnte. Dardan engagierte sich zunehmend mit anderen Kindern, begann mehr zu sprechen, hatte aber immer wieder intensive Phasen der Verweigerung: An solchen Tagen schaffte die Mutter es nicht, ihn zum Kindergarten zu bringen, oder er blieb in der Garderobe sitzen und war nicht dazu zu bewegen, einzutreten.
Die deshalb hinzugezogene Beraterin einer Autismus-Fachstelle schätzte Dardan nach einer Beobachtung im Kindergarten kognitiv deutlich schwächer ein als das bisherige Umfeld. Sie empfahl eine heilpädagogische Schule. Die Schulische Heilpädagogin und die Ergotherapeutin schätzten es anders ein: Sie sahen Dardan eher in der Regelkasse, denn er begann, Buchstaben und ganze Wörter zu schreiben und sie dann auszusprechen.
Daraufhin initiierte die Schulpsychologin einen zweiten Diagnoseprozess in einem für ASS-Diagnostik spezialisierten Zentrum. Die dortige Psychologin sprach eine Stunde mit den Eltern und führte dann einen Teil des Goldstandard-Assessments durch (den ADOS-2 und den WISC-V mit dem Jungen, jedoch kein ADI-R). Danach gab es ein Auswertungsgespräch mit den Eltern, der Ergotherapeutin und der Logopädin. Dardan wurde mit einem IQ von 75 eingestuft, die Diagnose ASS (Frühkindlicher Autismus) bestätigt und den Eltern mitgeteilt, sie sollten ihre Erwartungen reduzieren. Mit der Empfehlung einer heilpädagogischen Schule war die Konsultation zu Ende.
Für diesen zweiten Diagnoseprozess gibt es einen guten Grund: Mit der Schule ist ein neues Unterstützungsumfeld hinzugekommen. Der Entwicklungsstand des Kindes ist nicht mehr derselbe, sein Unterstützungsumfeld auch nicht. Die zweite umfangreiche Abklärung soll den Schulbehörden (oder Schulverantwortlichen) Aufschluss geben über die angemessene Schulform.
Nach dem zweiten Diagnoseprozedere waren die Eltern ratlos. Sie sahen ihr Kind anders: Sie hatten gelernt, die Fortschritte und Ressourcen zu sehen. Die Eltern zweifelten jetzt an ihrer eigenen Einschätzung und fragten sich, ob sie falsch lagen und wem sie nun vertrauen sollten. Sie fühlten sich hilflos. Aus diesem Dilemma heraus formulierten sie, sie wollten zumindest eine Schule in der Nähe ihres Wohnortes und wären mit einem langen täglichen Transportweg für Dardan nicht einverstanden.
Aufschlussreich ist, dass sich die Unsicherheit aus dem System auf die Eltern überträgt.
Da es in der Nähe keine heilpädagogische Schule gab, wählte die Schulpsychologin schliesslich eine kleine, nicht heilpädagogisch begleitete Schule, mit dem Hinweis, Dardan sei dort zwar wahrscheinlich kognitiv überfordert. In der Kleingruppe mit sechs Kindern, einem liebevollen, strukturierten Umfeld und viel Interaktion blühte Dardan jedoch auf. Er begann über den «Umweg» des Lesens zu sprechen und ist nun in der dritten Klasse. Niemand fragt derzeit, welchen IQ er hat. Zu Verweigerungen kommt es fast nicht mehr. Die Schule wird weiter von der Autismus-Beratungsstelle unterstützt. Die Ergotherapeutin hat organisiert, dass Dardan bei der Pfadi Trotz Allem, die auf Kinder mit Beeinträchtigungen ausgerichtet ist, schnuppern kann. Es hat ihm gefallen. Die Eltern sind sehr stolz auf ihren Sohn.
Statt zu sagen, «Dardan braucht eine heilpädagogische Schule», wäre es konstruktiver gewesen, zu benennen, welche Voraussetzungen das Setting erfüllen soll: Entgegen den Vorstellungen, die teilweise durch die Schweizer Landschaft getragen werden, ist eine moderne, inklusive Pädagogik für die meisten Kinder mit ASS absolut geeignet. Es gibt fach- und sachkundige Unterstützung durch Fachstellen und Support-Institutionen, welche die Schulen hervorragend unterstützen können. Auch das zeigt das Fallbeispiel.
Was sind also die Eckpunkte für einen sachdienlichen Umgang mit der Diagnose Autismus-Spektrum? Entlang der Australischen Guidelines seien die aus unserer Sicht zentralen Aspekte benannt.
Eins sollte deutlich geworden sein: Der Umgang mit Kindern mit ASS ist in erster Linie eine Systemfrage und kann nicht ausschliesslich am Individuum festgemacht werden. Der entscheidende Punkt ist es, von der Diagnose ASS nicht direkt auf das Erfordernis nach einer hoch spezialisierten Unterstützung zu schliessen – wie es die grosse Aufmerksamkeit im Feld vielleicht nahelegt. Denn kein direkter Weg führt von der Diagnose zur Massnahme, und nicht jedes Kind, das mit der Diagnose ASS kommt, braucht ein spezielles Setting. Unterstützungsbedarf ja – doch er muss ebenso gut im System angesiedelt sein und darf nicht automatisch nur dem Kind zugeschrieben werden.
Prof. Dr. Christian Liesen Institut für Sozialmanagement Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) Soziale Arbeit, Zürich | Dr. Beate Krieger Institut für Ergotherapie Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) Gesundheit, Winterthur |
Autism CRC (2023). National Guideline for the Assessment and Diagnosis of Autism Spectrum Disorders in Australia. Autism Cooperative Research Centre. https://www.autismcrc.com.au/access/national-guideline
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Die bereits auf Deutsch erhältlichen Merkblätter sind kostenlos abrufbar: https://www.canchild.ca/en/resources/canchild-german/familienzentrierter-ansatz ↑