Vom Umgang mit Diagnosen im Autismus-Spektrum

Umfassende Diagnosen helfen, situationsgerecht zu handeln

Christian Liesen und Beate Krieger

Zusammenfassung
Die Zahl von Kindern und Jugendlichen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) nimmt weiter zu. Die Wartelisten für eine Abklärung sind lang: Diagnostische Möglichkeiten werden differenzierter, aber auch komplexer. Müssen die Massnahmen im Gleichschritt immer weiter anwachsen? Zweifel sind angebracht, wie der Beitrag argumentiert. Anhand der sechs Leitprinzipien der «National Guideline for the Assessment and Diagnosis of Autism Spectrum Disorders in Australia» und eines Fallbeispiels leiten wir Empfehlungen für den Umgang mit der Diagnose Autismus-Spektrum ab.

Résumé
Le nombre d'enfants et de jeunes ayant des troubles du spectre autistique (TSA) ne cesse d’augmenter. Les listes d'attente pour une évaluation sont longues et les possibilités de diagnostic deviennent plus différenciées, mais aussi plus complexes. Les mesures pédagogiques spécialisées doivent-elles continuer à augmenter au même rythme ? Il est permis d'en douter, comme l'argumente cet article. À l'aide des six principes directeurs du « National Guideline for the Assessment and Diagnosis of Autism Spectrum Disorders in Australia » (directive nationale australienne pour l'évaluation et le diagnostic des troubles du spectre autistique) et d'une étude de cas, nous formulons des recommandations pour une bonne gestion du diagnostic dans le spectre de l’autisme.

Keywords: Autismus-Spektrum-Störung (ASS), diagnostischer Test, Diagnose, Förderung, besonderer Bildungsbedarf / trouble du spectre de l'autisme (TSA), test diagnostique, diagnostic, encouragement, besoins éducatifs particuliers

DOI: https://doi.org/10.57161/z2023-08-03

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 29, 08/2023

Creative Common BY

Einleitung

Die Situation von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) hat sich in den letzten 20 Jahren auch in der Schweiz stark verändert (Thommen, 2019; Eckert et al., 2015). Eine augenfällige Folge ist, dass es scheinbar immer mehr Personen mit ASS gibt. Denn immer mehr Kinder und Jugendliche – und inzwischen auch Erwachsene – erhalten die Diagnose ASS oder sind zumindest für eine Abklärung angemeldet. Aktuell müssen dafür Wartezeiten zwischen sechs und zwölf Monaten in Kauf genommen werden.

Aufgrund der hohen Relevanz lohnt es sich, grundsätzliche Fragen zur Diagnostik zu stellen: Welche Trends in der psychologischen, medizinischen und klinischen Diagnostik gibt es? Welche Ursachen stecken hinter dem Zuwachs? Wann und für wen sind Diagnosen hilfreich? Wie gelingt im Frühbereich und in der Schule ein guter Umgang mit einer erhaltenen Autismus-Spektrum Diagnose?

Aktuelles Vorgehen bei einer Autismus-Diagnostik

Zur klinischen Diagnose gehört nach dem internationalen Goldstandard ein ganzes Bündel diagnostischer Zugänge. Dessen Kernbestandteile sind:

Die klinische Diagnose ist also aufwändig. Auch Komorbiditäten wie ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) oder Angststörungen müssen abgeklärt werden. Die Kinder müssen in allen standardisierten Verfahren die Cut-off-Werte für ASS erreichen. Diese Abklärungen benötigen drei bis fünf Konsultationen respektive mindestens einen Arbeitstag von Fachexpert:innen. Sie werden über die Krankenkassen als ambulante Leistungen finanziert. Strukturierte Elterninterviews werden allerdings aus Zeitgründen wenig in der Praxis verwendet.

Trends in der Autismus-Diagnostik

Die Forschung zur Autismusdiagnose bewegt sich eher weg von der Erfassung von Verhaltensmustern. Stattdessen werden zur Objektivierung der Diagnose neurobiologische Muster erforscht. Ein Beispiel sind die Aktivierungsmuster von Gehirnarealen beim Zeigen von emotional ansprechenden Bildern, ein anderes atypische Augenbewegungen (Bochet et al., 2021). Auch Künstliche Intelligenz (KI) spielt zunehmend eine Rolle (Nogay & Adeli, 2020). Dies könnte die Zukunft der funktionellen klinischen Diagnostik stark verändern.

Es ist sinnvoll, Diagnostik viel umfassender zu verstehen. Als ein Beispiel dafür möchten wir die australische «National Guideline for the Assessment and Diagnosis of Autism Spectrum Disorders» vorstellen (Autism CRC, 2023). Das ist unseres Wissens die aktuellste Fassung der Diagnostik-Guidelines. Die Praxis orientiert sich an ihr und verwandten Guidelines. Gemäss diesen Richtlinien wird die Funktionsfähigkeit der Person beurteilt: kognitive Fähigkeiten, Sprech- und Sprachfunktionen, Fähigkeiten des täglichen Lebens, soziale Interaktionen und Beziehungen sowie Fähigkeitsniveaus und Unterstützungsbedarf in Schule oder Arbeit. Zudem findet eine medizinische Einschätzung statt, neurobiologische Muster können ein Teil davon sein.

Getragen wird der diagnostische Prozess von sechs Leitprinzipien (siehe Abb. 1). Diese sind insofern interessant, weil sie die Versorgungsaspekte (beste Evidenz für jede und jeden, gleichberechtigter Zugang für alle) mit einer Ressourcenperspektive kombinieren (Personen- und Familienzentrierung, holistische Sichtweise mit Umfeldressourcen, Bedarfsorientierung und Erkennen von Stärken).

Damit wird die ASS-Diagnostik zu einem umfassenden Prozess, der eine rein klinisch verstandene Diagnosefindung übersteigt. Die Diagnostik läuft individualisiert ab und es werden auch Aspekte wie das Umfeld, die Bedürfnisse des Kindes und der Familie sowie mögliche Ressourcen eingeschlossen. So entstehen Ansatzpunkte für die Heilpädagogik. Zudem wird diese Form der Diagnosefindung zu einem kooperativen Prozess aller Beteiligten, wie wir im nächsten Abschnitt an einem Fallbeispiel skizzieren.

Abbildung 1: Die sechs Leitprinzipien der «National Guideline for the Assessment and Diagnosis of Autism Spectrum Disorders in Australia» (Quelle: Autism CRC, 2023)

Die Grafik zeigt die sechs diagnostischen Leitprinzipien des Australischen CRC. 
Evidenzbasiert: Die Leitlinie empfiehlt einen evidenzbasierten Ansatz, bei dem die klinische Entscheidungsfindung auf der Grundlage der besten verfügbaren Forschungsergebnisse erfolgt.
Individuell und familienzentriert: Die Leitlinie empfiehlt einen individuellen und familienzentrierten Ansatz, bei dem die abklärenden Personen mit der Person und ihrer Familie zusammenarbeiten und deren besondere Bedürfnisse und Stärken ermitteln.
Ganzheitlicher Rahmen: Die Leitlinie empfiehlt die Anwendung eines ganzheitlichen Rahmens, bei dem der Einzelne in seinem persönlichen Umfeld, seinen Aktivitäten und seiner Umgebung beurteilt wird und die Überweisung zur Unterstützung auf der Grundlage der Funktionsweise und des Bedarfs erfolgt.
Fokussierung auf die Stärken und Ressourcen der Person: In der Leitlinie wird ein stärkenorientierter Ansatz für die Beurteilung empfohlen. Dieser Ansatz konzentriert sich auf die Identifizierung der Stärken, Fähigkeiten, Interessen, Ressourcen und Unterstützungssysteme der Person und ihrer Betreuungsperson(en) und misst diesen ebenso viel Bedeutung bei wie der Identifizierung von Einschränkungen.
Gleichheit des Zugangs: Die Leitlinie erkennt an, dass alle Personen Zugang zu einer rechtzeitigen und gründlichen Abklärung haben müssen, unabhängig von Alter, Geschlecht, kulturellem Hintergrund, sozioökonomischem Status oder geografischer Lage.
Lebensperspektive: Die Leitlinie empfiehlt einen lebensumspannenden Ansatz für die Beurteilung, der die gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen und Möglichkeiten des Einzelnen berücksichtigt.

Anmerkung: eigene Übersetzung aus dem Englischen

Von der Diagnose zur Förderung: ein Fallbeispiel

Dardan erhielt seine erste Diagnose im Alter von 2½ Jahren. Die Eltern, beide mit Migrationshintergrund, vertrauten ihrem Kinderarzt. Sie fassten den Mut, ihm zu schildern, dass Dardan keine verständlichen Worte rede und immer mit den gleichen Dingen spiele. Er verweigere fast alle Nahrungsmittel. Der Arzt stellte in Konsultation mit einer spezialisierten Psychologin die ICD-10-Diagnose «Frühkindlicher Autismus» und initiierte die Betreuung durch eine erfahrene Heilpädagogische Früherzieherin. Bei zwei Hausbesuchen pro Woche wurden die für die Eltern wichtigen Themen wie geregeltes Essen und Dardans Spielentwicklung konkret erfahrbar gemacht. Die Früherzieherin unterstützte die Eltern in der Verarbeitung der Diagnose und vermittelte ihnen Veränderungsmöglichkeiten und Zuversicht. Auf ihr Anraten erhielt Dardan nach einer IV-Anmeldung für GG-Ziffer 405 (Frühkindlicher Autismus) zusätzlich Ergotherapie. Die Ergotherapeutin betreute ihn und die Familie noch über den Eintritt in den Regelkindergarten hinaus.

In diesem Beispiel fallen verschiedene Dinge auf. Es sind meist Pädiater:innen, die Kinder mit ASS erkennen und Folgeschritte in die Wege leiten (Moser et al., 2021). Zudem haben die Eltern von Dardan Vertrauen zu ihrem Kinderarzt gefasst. Das ist bemerkenswert, da Kinderärzt:innen berichten, dass sie «regelmässig […] elterlichen Widerständen gegenüber Entwicklungsabklärungen und sonderpädagogischen Massnahmen […] begegnen» (ebd., S. 219).

Interessant ist der Sprung von der Diagnostik zur Massnahme, vom Individuum zum Unterstützungssystem. Der Diagnostik liegt die Frage zugrunde, ob Dardan zum autistischen Spektrum zählt. Mit der Antwort werden weiterführende Massnahmen legitimiert und die eigentliche Arbeit kann beginnen. Wieder spielt dafür der Kinderarzt die entscheidende Rolle: Er initiiert die Heilpädagogische Früherziehung.

Die Diagnose führt also zu Entscheidungen. Dieser Sprung von der Diagnostik zur Massnahme, vom Kind zum Unterstützungssystem ist der eigentliche Clou: Eine Massnahme, ohne dass abgeklärt ist, ob sie notwendig und indiziert ist, ist nicht vertretbar.

Bevor wir das Fallbeispiel weiterverfolgen, können wir innehalten und einige kritische Fragen anbringen. Warum wurde zum Beispiel nicht Logopädie oder eine Autismusfachstelle beigezogen? Warum wurde keine intensive Frühintervention initiiert?[1] Die Antwort: Der Pädiater schätzte es so ein, dass diese Massnahmen weder zum Kind noch zur Familie passten.

Das Fallbeispiel macht klar, dass es keinen eindeutigen Weg von der Diagnose zur Massnahme gibt. Der Weg ist vielmehr abhängig vom sozialen System und dem Erfahrungs- und Systemwissen der beteiligten Akteur:innen. Das heisst: Die Diagnose selbst und das Unterstützungssystem sind dynamisch. Das sieht man auch gut daran, wie es im Fallbeispiel mit Dardan weiterging.

Dardan besuchte den Regelkindergarten zuerst während zwei Stunden pro Woche. Nach einem halben Jahr waren es bereits vier Vormittage pro Woche. Auch eine Schulische Heilpädagogin wurde involviert. Sie nahm Dardan einmal pro Woche in eine Kleingruppe. Auch im zweiten Kindergartenjahr sprach er ausser «Flugzeug» und «nein» kein deutsches Wort. Er erhielt darum nun auch Logopädie. Die Logopädin führte einen Piktogramm-basierten Talker ein, mit dem sich Dardan zum ersten Mal ausdrücken konnte. Weil er den Ablauf im Kindergarten immer besser kannte und viele Lieder melodisch mitsang, wurde entschieden, dass er für ein drittes Kindergartenjahr bleiben konnte. Dardan engagierte sich zunehmend mit anderen Kindern, begann mehr zu sprechen, hatte aber immer wieder intensive Phasen der Verweigerung: An solchen Tagen schaffte die Mutter es nicht, ihn zum Kindergarten zu bringen, oder er blieb in der Garderobe sitzen und war nicht dazu zu bewegen, einzutreten.

Die deshalb hinzugezogene Beraterin einer Autismus-Fachstelle schätzte Dardan nach einer Beobachtung im Kindergarten kognitiv deutlich schwächer ein als das bisherige Umfeld. Sie empfahl eine heilpädagogische Schule. Die Schulische Heilpädagogin und die Ergotherapeutin schätzten es anders ein: Sie sahen Dardan eher in der Regelkasse, denn er begann, Buchstaben und ganze Wörter zu schreiben und sie dann auszusprechen.

Daraufhin initiierte die Schulpsychologin einen zweiten Diagnoseprozess in einem für ASS-Diagnostik spezialisierten Zentrum. Die dortige Psychologin sprach eine Stunde mit den Eltern und führte dann einen Teil des Goldstandard-Assessments durch (den ADOS-2 und den WISC-V mit dem Jungen, jedoch kein ADI-R). Danach gab es ein Auswertungsgespräch mit den Eltern, der Ergotherapeutin und der Logopädin. Dardan wurde mit einem IQ von 75 eingestuft, die Diagnose ASS (Frühkindlicher Autismus) bestätigt und den Eltern mitgeteilt, sie sollten ihre Erwartungen reduzieren. Mit der Empfehlung einer heilpädagogischen Schule war die Konsultation zu Ende.

Für diesen zweiten Diagnoseprozess gibt es einen guten Grund: Mit der Schule ist ein neues Unterstützungsumfeld hinzugekommen. Der Entwicklungsstand des Kindes ist nicht mehr derselbe, sein Unterstützungsumfeld auch nicht. Die zweite umfangreiche Abklärung soll den Schulbehörden (oder Schulverantwortlichen) Aufschluss geben über die angemessene Schulform.

Nach dem zweiten Diagnoseprozedere waren die Eltern ratlos. Sie sahen ihr Kind anders: Sie hatten gelernt, die Fortschritte und Ressourcen zu sehen. Die Eltern zweifelten jetzt an ihrer eigenen Einschätzung und fragten sich, ob sie falsch lagen und wem sie nun vertrauen sollten. Sie fühlten sich hilflos. Aus diesem Dilemma heraus formulierten sie, sie wollten zumindest eine Schule in der Nähe ihres Wohnortes und wären mit einem langen täglichen Transportweg für Dardan nicht einverstanden.

Aufschlussreich ist, dass sich die Unsicherheit aus dem System auf die Eltern überträgt.

Da es in der Nähe keine heilpädagogische Schule gab, wählte die Schulpsychologin schliesslich eine kleine, nicht heilpädagogisch begleitete Schule, mit dem Hinweis, Dardan sei dort zwar wahrscheinlich kognitiv überfordert. In der Kleingruppe mit sechs Kindern, einem liebevollen, strukturierten Umfeld und viel Interaktion blühte Dardan jedoch auf. Er begann über den «Umweg» des Lesens zu sprechen und ist nun in der dritten Klasse. Niemand fragt derzeit, welchen IQ er hat. Zu Verweigerungen kommt es fast nicht mehr. Die Schule wird weiter von der Autismus-Beratungsstelle unterstützt. Die Ergotherapeutin hat organisiert, dass Dardan bei der Pfadi Trotz Allem, die auf Kinder mit Beeinträchtigungen ausgerichtet ist, schnuppern kann. Es hat ihm gefallen. Die Eltern sind sehr stolz auf ihren Sohn.

Statt zu sagen, «Dardan braucht eine heilpädagogische Schule», wäre es konstruktiver gewesen, zu benennen, welche Voraussetzungen das Setting erfüllen soll: Entgegen den Vorstellungen, die teilweise durch die Schweizer Landschaft getragen werden, ist eine moderne, inklusive Pädagogik für die meisten Kinder mit ASS absolut geeignet. Es gibt fach- und sachkundige Unterstützung durch Fachstellen und Support-Institutionen, welche die Schulen hervorragend unterstützen können. Auch das zeigt das Fallbeispiel.

Empfehlungen für den Umgang mit der Diagnose Autismus-Spektrum

Was sind also die Eckpunkte für einen sachdienlichen Umgang mit der Diagnose Autismus-Spektrum? Entlang der Australischen Guidelines seien die aus unserer Sicht zentralen Aspekte benannt.

  1. Evidenzbasierte Diagnostik. ASS ist eine klinisch-medizinische Diagnose. Sie sollte von Fachpersonen nach bester Evidenz gestellt werden. Es muss aber auch klar sein, um was es bei einer medizinischen Abklärung geht. Wer gibt den Auftrag und weshalb? Wer bezahlt die Abklärung? Welche Konsequenzen hat sie? Dass Unterstützungsleistungen eine Diagnose voraussetzen, scheint ein Grund für den aktuellen Anstieg an Abklärungen zu sein. Dies führt das System derzeit eindeutig an seine Kapazitätsgrenzen und vielleicht auch zu einer Zunahme an Diagnosen.
  2. Individuell und familienzentriert. ASS-Diagnosen sind auf ein Verständnis des individuellen Kindes und mit einem Fokus auf die Eltern und Lebensbedingungen der Familie zu generieren. Deshalb kann es auch auf die Diagnose ASS keine allgemein festgelegten Massnahmen geben. Stattdessen braucht es einen möglichen Massnahmenkatalog, aus dem die Eltern mit Unterstützung der Fachpersonen auswählen können. Richtungsweisend ist deshalb die Frage: Was braucht dieses Kind? Was wünscht und braucht diese Familie? Um das zu verstehen, müssen sich alle Fachpersonen (Heilpädagogische Früherzieher:innen, Lehrpersonen und Schulische Heilpädagog:innen, Therapeut:innen und Ärzt:innen) auf die Familien einlassen, sie unterstützen und in ihren Entscheidungen stärken (Pozniak et al., 2023). Gute Hilfestellungen bieten beispielsweise die Merkblätter des Familienzentrierten Ansatzes von CanChild, die sich aktuell in deutscher Übersetzung befinden.[2]
  3. Ganzheitlicher Rahmen. An vielen Orten in der Schweiz steht glücklicherweise schon ein Massnahmenkatalog zur Verfügung. Hier kommt der ganzheitliche Rahmen der Diagnose-Guidelines als Entscheidungshilfe ins Spiel:
  4. Bei jungen Kindern ist die Massnahme ausschliesslich an den individuellen Bedürfnissen des Kindes und der Familie ausgerichtet: Von der im Fallbeispiel genannten Minimallösung (zweimal pro Woche Heilpädagogische Früherziehung zuhause) bis zur frühen Intensivbehandlung mit mindestens 15 Stunden wöchentlich über zwei Jahre in einem Zentrum sollte alles möglich sein; wobei aber nicht in jedem Fall alles nötig ist. Der Kinderarzt im Fallbeispiel hat dies richtig eingeschätzt. Er hat den Schwerpunkt auf die Stärkung der Eltern, die Entwicklungsbegleitung des Jungen und die Kompetenz der Heilpädagogischen Früherzieherin und der Ergotherapeutin gelegt.
  5. Ab Kindergarteneintritt geht es zusätzlich auch um die Fähigkeit, sich in eine Gruppe einzufügen. Das bedingt ein Vertrauen darin, dass und wie Kinder mit ASS den Eintritt in Gruppen- und Klassen-Settings schaffen. Oft wird übervorsichtig agiert – zu Lasten des Kindes. Dienste, Organisationseinheiten und Fachpersonen, die Eltern verunsichern, sie durch Therapiedruck, durch ständig wechselnde Massnahmen oder durch den Ausdruck von fachlicher Unsicherheit belasten, handeln nicht im Sinne der Kinder mit ASS.
  6. Orientierung an Stärken und Ressourcen. Zu einer umfangreichen Diagnose gehört es, die Stärken der Kinder mit ASS zu erkennen. Dazu gehören Interessen, Durchhaltevermögen, Regelgenauigkeit, Wahrnehmungsleistungen und vieles mehr. Genau dort setzt ressourcenorientiertes Arbeiten an. Die einzelne Person mit ihren Stärken zeigt an, in welche Richtung es gehen soll. Das Erkennen von Stärken und Ressourcen gehört zu den Kernkompetenzen der Heilpädagogik. Sie darf von vermeintlichem Spezialwissen, wie bei ASS zu handeln ist, nicht überschrieben werden.
  7. Gleicher Zugang. Die Guidelines stellen auch Gleichheit in den Vordergrund. Gleichermassen fair sollte der Zugang zur Diagnostik sein: unabhängig davon, an welchem Ort die Kinder in der Schweiz wohnen oder wie sie versichert sind. Gleich soll aber vor allem auch das Ernstnehmen der alltäglichen Belastung der Familien sein, unabhängig davon, wie sich die Familienkonstellation, der kulturelle Hintergrund oder die sozioökonomische Situation der Familie zeigt.
  8. ASS in der Lebensperspektive. Mit der Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung endet für die Familie das Fragen, warum das Kind so ist, wie es ist; gleichzeitig beginnt aber das Leben mit ASS. Das ist weniger für das Kind, sondern für die Eltern und das betreuende Umfeld von Bedeutung. Auf diesem Weg gilt es, mit heilpädagogischer Unterstützung die ersten Schritte zu gehen, lebenslang zu lernen und immer mehr Kompetenzen aufzubauen.

Fazit

Eins sollte deutlich geworden sein: Der Umgang mit Kindern mit ASS ist in erster Linie eine Systemfrage und kann nicht ausschliesslich am Individuum festgemacht werden. Der entscheidende Punkt ist es, von der Diagnose ASS nicht direkt auf das Erfordernis nach einer hoch spezialisierten Unterstützung zu schliessen – wie es die grosse Aufmerksamkeit im Feld vielleicht nahelegt. Denn kein direkter Weg führt von der Diagnose zur Massnahme, und nicht jedes Kind, das mit der Diagnose ASS kommt, braucht ein spezielles Setting. Unterstützungsbedarf ja – doch er muss ebenso gut im System angesiedelt sein und darf nicht automatisch nur dem Kind zugeschrieben werden.

Prof. Dr. Christian Liesen
Dozent (Senior Researcher)

Institut für Sozialmanagement

Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) Soziale Arbeit, Zürich

christian.liesen@zhaw.ch

Dr. Beate Krieger
Dozentin (Senior Lecturer)

Institut für Ergotherapie

Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) Gesundheit, Winterthur

beate.krieger@zhaw.ch

Literatur

Autism CRC (2023). National Guideline for the Assessment and Diagnosis of Autism Spectrum Disorders in Australia. Autism Cooperative Research Centre. https://www.autismcrc.com.au/access/national-guideline

Bochet, A., Franchini, M., Kojovic, N., Glaser, B. & Schaer, M. (2021). Emotional vs. Neutral Face Exploration and Habituation: An Eye-Tracking Study of Preschoolers With Autism Spectrum Disorders. Frontiers in Psychiatry, 11, 568997. https://doi.org/10.3389/fpsyt.2020.568997

Bölte, S. & Poustka, F. (2004). Diagnostische Beobachtungsskala für Autistische Störungen (ADOS): Erste Ergebnisse zur Zuverlässigkeit und Gültigkeit. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 32 (1), 45–50. https://doi.org/10.1024/1422-4917.32.1.45

De Bildt, A., Sytema, S., Zander, E., Bölte, S., Sturm, H., Yirmiya, N., Yaari, M., Charman, T., Salomone, E., LeCouteur, A., Green, J., Bedia, R. C., García Primo, P., van Daalen, E., de Jonge, M. V., Guðmundsdóttir, E., Jóhannsdóttir, S., Raleva, M., Boskovska, M., Rogé, B., et al. (2015). Autism Diagnostic Interview-Revised (ADI-R) algorithms for toddlers and young preschoolers: application in a non-US sample of 1,104 children. Journal of Autism and Developmental Disorders, 45, 1–16.

Eckert, A., Liesen, C., Thommen, E. & Zbinden Sapin, V. (2015). Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene: Frühkindliche Entwicklungsstörungen und Invalidität. Forschungsbericht Nr. 8/15. Bundesamt für Sozialversicherungen BSV.

Hadders-Algra, M. (2022). Emerging signs of autism spectrum disorder in infancy: Putative neural substrate. Developmental Medicine and Child Neurology, 64 (11), 1344–1350.

Krieger, B., Liesen, C. & Becker, H. (2018). Intensive Frühinterventionen bei Kindern mit frühkindlichem Autismus. Eine Übersicht zur bestehenden Evidenz und möglichen moderierenden Faktoren. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 24 (11–12), 40–46.

Krieger, B., Piškur, B., Schulze, C., Jakobs, U., Beurskens, A. & Moser, A. (2018). Supporting and hindering environments for participation of adolescents diagnosed with autism spectrum disorder: a scoping review. PLOS ONE, 13 (8), e0202071. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0202071

Moody, E. J., Reyes, N., Ledbetter, C., Wiggins, L., DiGuiseppi, C., Alexander, A., Jackson, S., Lee, L.-C., Levy, S. E. & Rosenberg, S. A. (2017). Screening for Autism with the SRS and SCQ: Variations across Demographic, Developmental and Behavioural Factors in Preschool Children. Journal of Autism and Developmental Disorders, 47 (11), 3550–3561. https://doi.org/10.1007/s10803-017-3255-5

Liesen, C., Krieger, B. & Becker, H. (2018). Evaluation der Wirksamkeit der intensiven Frühinterventionsmethoden bei frühkindlichem Autismus. Forschungsbericht Nr. 9/18. Bundesamt für Sozialversicherungen BSV.

Liesen, C., Krieger, B. & Becker, H. (2019). Aussichtsreiche Therapien für Kinder mit frühkindlichem Autismus. Soziale Sicherheit CHSS, 2, 24–27.

Moser, M., Jenni, O. & von Rhein, M. (2021). Versorgung von Vorschulkindern mit Entwicklungsstörungen im Kanton Zürich. Primary and Hospital Care: Allgemeine Innere Medizin, 21 (7), 218–220.

Nogay, H. & Adeli, H. (2020). Machine learning (ML) for the diagnosis of autism spectrum disorder (ASD) using brain imaging. Reviews in the Neurosciences, 31 (8), 825–841.

Osterling, J., Dawson, G. & Munson, J. (2002). Early recognition of 1-year old infants with autism spectrum disorders versus mental retardation. Development and Psychopathology, 14 (2), 239–251.

Pozniak, K., King, G., Chambers, E., Martens, R., Earl, S., Kraus de Camargo, O., McCauley, D., Teplicky, R. & Rosenbaum, P. (2023). What do parents want from healthcare services? Reports of parents’ experiences with pediatric service delivery for their children with disabilities. Disability and Rehabilitation. https://doi.org/10.1080/09638288.2023.2229733

Stephenson, K. G., Beck, J. S., South, M., Norris, M. & Butter, E. (2021). Validity of the WISC-V in Youth with Autism Spectrum Disorder: factor structure and measurement invariance. Journal of Clinical Child and Adolescent Psychology, 50 (5), 669–681.

Thommen, E. (2019). Aktuelle Überlegungen zum Autismus. Soziale Sicherheit CHSS. https://sozialesicherheit.ch/de/aktuelle-ueberlegungen-zum-autismus

  1. Bei Kindern mit frühkindlichem Autismus tut sich in der Schweiz gerade viel: Nach einer langen Pionierphase werden intensive Frühinterventionen regional vielfältig etabliert (Liesen et al., 2018, 2019; Krieger et al., 2018); siehe auch den laufenden Pilotversuch «Intensive Frühintervention bei Kindern mit frühkindlichem Autismus» des Bundesamtes für Sozialversicherungen BSV.

  2. Die bereits auf Deutsch erhältlichen Merkblätter sind kostenlos abrufbar: https://www.canchild.ca/en/resources/canchild-german/familienzentrierter-ansatz