DOI: https://doi.org/10.57161/z2023-06-09
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 29, 06/2023
Rico hat es sich gemütlich eingerichtet in seinem Zugabteil und hängt seinen Gedanken nach. Er ist auf dem Weg nach Bern, wo Nadine bereits ungeduldig auf ihn wartet. Das weiss er. Bereits zum dritten Mal haben sich die beiden zu einem Date in Bern verabredet. «Date» – so ganz neutral – heissen die Begegnungen, in denen er sich als Sexualbegleiter mit Frauen mit Behinderungen trifft, die ihn gebucht haben. Nadine ist eine charmante Frau, die vor zwei Jahren einen Unfall erlebt hat und seitdem querschnittgelähmt ist.
Nadine glaubt, dass sie durchaus Chancen hätte, eine echte Beziehung zu führen, mit Verliebtheit und Erotik, Tragödien und Versöhnung, Sex und Rock’n’Roll. Aber sie schämt sich ihres neuen, behinderten Körpers. Sie hat ihn noch nicht wirklich angenommen, diesen Körper, mit all den sexuellen Möglichkeiten, die ihr geblieben sind, obwohl sie vom Bauchnabel abwärts nichts mehr spürt.
Plötzlich schlängelt sich der Zug heftig über eine Weiche und Rico muss sich Halt suchen. Eine Weiche. So etwa will er auch sein. So einfach und doch so wirkungsvoll. Vielleicht gelingt es ja Nadine, mit seiner Hilfe ein anderes Gleis zu nutzen, ein anderes Ziel zu erreichen. Er will jedenfalls versuchen, sie zu stärken. In seiner Ausbildung zum Sexualbegleiter hat er gelernt, was die Essenz der Sexualbegleitung ist: Empowerment. Rico will nur die Weiche sein für Nadine, fahren muss sie selbst.
So etwas Revolutionäres müsste ihm auch mal einfallen, denkt er. Rico ist Maschinentechniker. Was wäre die Eisenbahn ohne die Erfindung der Weiche? Rico ist zufrieden mit seinem Erstberuf. Das Einzige, was ihn stört, ist die Berechenbarkeit all dessen, was er kreiert. Das muss ja so sein. Maschinen müssen berechenbar sein. Trotzdem fasziniert ihn die Unberechenbarkeit des Lebens: Lebenswege, Schicksale, Krisen, Verwirrungen und Lösungen, Ekstase und Entspannung, Sexualität, Beziehungen. Mit vielen Regelsystemen kennt sich Rico aus und repariert sie, wenn sie nicht mehr rund laufen. Das kriegt er hin. Aber Menschen? Rico wollte Menschen begegnen, gerade wenn deren Leben mal ins Stocken kommt.
Er suchte einen Ausgleich zu seinem Beruf. Eine Anzeige suchte Berührer:innen – so machte er eine Ausbildung bei Nina de Vries[1] unter der Leitung der Fachstelle Behinderung und Sexualität (FABS).
Nun hat Rico schon viele Lebensgeschichten begleitet. Er hat vielen Menschen geholfen, ihre erotische Kompetenz zu erweitern. Vielleicht gelingt es ihm auch bei Nadine. Sie geniesst es, wenn er ihren Körper massiert und ihr sagt, wie schön er sei. Sie kann ihm nicht glauben, aber ihre Zweifel schwinden. Rico spürt das. Langsam glaubt sie, dass es Männer gibt, die einen Körper erotisch finden, obwohl die Beine ganz dünn geworden sind. Rico sagt ihr, dass die Liebe den Blick verändert. Wenn sich ein Mann in sie verliebe, dann seien ihre Beine erotisch für ihn, ob sie sie selbst mag oder nicht. «Aber warum sollte ein Mann mich lieben?», fragt Nadine. «Es zählt die Gesamtpersönlichkeit», antwortet er.
Es ist so einfach zu reden, bei zärtlicher Berührung. Vielleicht gelingt es Rico, mit Nadine gemeinsam zu trauern über all die Fähigkeiten, die sie verloren hat, und sich dann zu freuen über all die neuen Möglichkeiten. Vielleicht gelingt es ihm, ihr einige dieser neuen Möglichkeiten zu zeigen, über die sie sich freuen kann. Die eigene Behinderung ist noch ihr Feind. Rico will Nadine helfen, sich mit ihrer Behinderung anzufreunden.
Nadine wird ihn heute nicht fragen, warum er selbst nicht in sie verliebt ist, denn das hat sie bereits getan. Er ist ein Surrogat und will das auch bleiben. Er hat ihr gesagt, dass er glücklich verheiratet ist und eine stabile Beziehung führt. Er hat ihr von seiner Frau Monika erzählt.
Und wieder reisst Rico ein Weichenfeld aus seinen Gedanken. Er ist in Bern angelangt. Auf dem Bahnsteig fällt ihm Nadine in ihrem Rollstuhl sofort auf. Sie hat sich keck rausgeputzt und guckt verschmitzt. Sie ist schön, als Gesamtpersönlichkeit. Und Rico ist sich klar bewusst: Sexualbegleitung macht man nur mit Liebe – oder man macht sie besser nicht.
Initiative SexualBegleitung – kurz InSeBe® – ist eine durch fachliche Ausbildung qualifizierte, professionelle erotisch/sexuelle Dienstleistung, die sich an Menschen mit Behinderungen richtet. Wir begeistern uns für das Leben, insbesondere für das Leben mit Behinderungen in seinen wunderbaren, vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten. Deshalb begleiten wir Menschen mit Behinderungen auf ihrem Weg zur persönlichen Entfaltung und zur sexuellen Selbstbestimmung. Weitere Informationen über InSeBe® finden Sie hier: www.insebe.ch.
Erich Hassler |