«Ich bin die ganze Zeit Mann, männlich genug»

Behinderung, Sexualität und das männliche Selbstbild im Kontext differenter Körper

Ingy El Ismy und Sven Jennessen

Zusammenfassung
Inwieweit wirken gesellschaftliche Männlichkeits- und Behinderungsbilder auf das körperliche Selbstbild von Männern mit körperlicher Beeinträchtigung? Dieser Frage ging die Autorin im Rahmen ihrer Masterarbeit mithilfe von fünf narrativ geführten Interviews mit Männern mit körperlicher Beeinträchtigung nach (El Ismy, 2023). Hierbei war der Fokus auf den Lebensbereich «Sexualität, Partnerschaft und Beziehung» gerichtet. So wurde der Einfluss gesellschaftlicher Machtstrukturen auf Sexualität, Partnerschaft und Vorstellungen von körperlicher und sexueller Funktionalität im Kontext von Männlichkeit sichtbar.

Résumé
Dans quelle mesure les représentations sociales de la masculinité et du handicap ont-elles un impact sur l'image corporelle que les hommes ayant un handicap physique ont d'eux-mêmes ? L'autrice s'est penchée sur cette question dans le cadre de son travail de master à partir de cinq entretiens narratifs avec des hommes concernés (El Ismy, 2023). L'accent a été mis sur le domaine « sexualité, couple et relation ». Il a été mis en avant que les structures sociales influencent la sexualité et le couple, ainsi que les représentations de la masculinité en relation avec la fonctionnalité physique et sexuelle.

Keywords: Sexualität, Körperbehinderung, Selbstbild, Mann / sexualité, handicap physique, conception de soi, homme

DOI: https://doi.org/10.57161/z2023-06-07

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 29, 06/2023

Creative Common BY

Einleitung

Im Kontext der Frauen-, Queer- und Behindertenbewegungen der 1970er Jahre gewann der Körper in der soziologischen Forschung zunehmend an Bedeutung. Diese Auseinandersetzung führte in den 1990er Jahren als body turn zu einem Paradigmenwechsel in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften, durch welchen der Körper gesellschaftlich und wissenschaftlich gerahmt und in den Diskursen von Kultur, Politik, Technologie, Wirtschaft oder Medien berücksichtigt wurde (Gugutzer et al., 2017). Daraus ergeben sich Fragen nach Normativitätsdefinitionen und Normalitätsvorstellungen, die differente Körper klassifizieren, kodieren und soziokulturell ordnen. Weil Körper zudem stets vergeschlechtlicht sind, als diese wahrgenommen werden und sowohl Geschlecht als auch Behinderung gesellschaftliche Ungleichheits- und Machtverhältnisse implizieren, bedarf auch dieser Umstand der Analyse. Köbsell (2010) verdeutlicht in einer Gegenüberstellung stereotyper Zuschreibungen von männlichen, weiblichen und behinderten Körpern (siehe Tab. 1), dass weibliche und behinderte Körper vor dem Hintergrund behinderungs-, geschlechtertheoretischer und körpersoziologischer Konzepte Parallelen aufzeigen.

Die Merkmale männlich und behindert scheinen demzufolge eher widersprüchlich und nicht vereinbar. Wie erleben also Männer ihren differenten Körper im Zusammenspiel mit Männlichkeitsbildern, soziokulturell geprägten Männerkörpern und Vorstellungen von beeinträchtigten Körpern? Und welchen Einfluss haben diese Erfahrungen auf ihre Sexualität und das Erleben von Partnerschaft und Beziehung?

Tabelle 1: Stereotype Zuschreibungen (Köbsell, 2010, S. 23 [Hervorheb. im Orig.])

männlich

behindert

weiblich

  • stark
  • aktiv
  • unabhängig
  • selbstständig
  • mutig
  • «hart»
  • potent
  • attraktiv
  • rational
  • Geist
  • schwach
  • passiv
  • abhängig
  • unselbstständig
  • hilfsbedürftig
  • kindlich
  • machtlos
  • unattraktiv
  • Körper
  • schwach
  • passiv
  • abhängig
  • unselbstständig
  • hilfsbedürftig
  • kindlich
  • machtlos
  • attraktiv
  • emotional
  • Körper

Der männliche behinderte Körper zwischen «Behindert-Sein» und «Mann-Sein»

Männlichkeit und Behinderung im Kontext von «Doing Gender», «Doing Dis_ability» und der Konstruktion des körperlichen Selbstbildes

Die Erziehungs- und Sozialwissenschaftlerin Claudia Bruner (2005, S. 33) stellt fest, dass «Körper […] unweigerlich vergeschlechtlicht, sozial klassifiziert, ethnisch und kulturell codiert sowie Normalitäts- und Ästhetikdiskursen unterworfen [sind]. So werden unterschiedliche und unterschiedene Körper laufend hervorgebracht und verändert. Im Zuge dieser Herstellungsprozesse von Körpern manifestieren sich gesellschaftliche Macht- und Dominanzverhältnisse». Körper werden demnach stets produziert und reproduzieren gleichzeitig gesellschaftliche Dynamiken und Strukturen.

Bereits im Jahr 1990 hat der Anthropologe Robert F. Murphy Behinderung als «emasculation of a more direct and total nature» (Gerschick & Miller, 1995, S. 183), also als eine «totale Entmannung» definiert, weil dadurch kulturelle Attribute von Männlichkeit wie Stärke, Aktivität oder Kraft bedroht sind (Gerschick & Miller, 1995, S. 183f.). Männer mit Körperbehinderungen erleben daher «embattled identities» (Gerschick & Miller, 1995, S. 185), das heisst umkämpfte Identitäten: Der Männerkörper wird als stark, mutig, aggressiv und unabhängig gelesen, während der behinderte Körper mit Schwäche, Passivität und Abhängigkeit assoziiert wird (Gerschick & Miller, 1995). Die hegemoniale Männlichkeitsnorm umfasst demzufolge Aspekte wie Sexualität, Unabhängigkeit, Sportlichkeit und berufliche Leistung (ebd.). «Heterosexualität, Gesundheit und Leistungsfähigkeit (gelten) in alltagstheoretischen und wissenschaftlichen Diskursen als relativ beständige Indikatoren für ‹Normalität›» (Windisch, 2014, S. 59). Robert McRuer (2002) – Vertreter der Queer Disability Studies – prägt hierfür den Begriff der «Ablebodied heterosexuality» (Windisch, 2014, S. 59) im Sinne einer körpernormierten Heterosexualität als hegemoniale Norm. Damit wird die Stabilisierung der patriarchalen und hegemonialen Männlichkeit als Machtposition deutlich, die zugleich einen engen Bezug zum Körper aufweist (Windisch, 2014). Männliche Körper mit Behinderungen stehen diesen Strukturen und gesellschaftlichen Erwartungen entgegen und werden als abweichende «körperliche […] Variationen nach einem hierarchischen Gefälle abgeleitet» (Raab, 2010a, S. 149). Weiter betont der Psychologe Lothar Sandfort (2007) aus einer erfahrungsbasierten Perspektive, dass Männer mit körperlichen Beeinträchtigungen vor allem im Kontext von Arbeit, Sexualität und Partnerschaft nicht als Konkurrenz wahrgenommen werden.

Qualitative Studie: Methodik

Empirische Grundlage dieses Beitrags sind narrative Interviews (Schütze, 1983), die im Mai 2021 mit fünf Männern mit einer körperlichen Beeinträchtigung geführt wurden (El Ismy, 2023). Die Interviewten sind zum Zeitpunkt der Befragung zwischen 32 und 37 Jahre alt. Sie nutzen einen Rollstuhl aufgrund einer infantilen Zerebralparese in Form einer beinbetonten Tetraspastik oder Spina bifida seit der Kindheit beziehungsweise unfallbedingt seit 14 bis 20 Jahren. Zur Auswertung wurde die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2019) herangezogen, wonach induktiv (aus den Interviewdaten) und deduktiv (aus vorliegenden Theorien und Forschungsdaten) Auswertungskategorien gebildet wurden. Die Kategorie «Der männliche Körper mit Körperbeeinträchtigung im Kontext von Sexualität, Partnerschaft und Beziehung» hat bei der Auswertung der Forschungsdaten einen hohen Stellenwert eingenommen und erwies sich als bedeutungsvollster und rahmender Schwerpunkt der Arbeit.

Diskussion der Ergebnisse

Der able-bodied-Körper wird betrachtet als Norm- und Normalwert in einer Gesellschaft, die Leistung, Optimierung und Funktionalität als Richtwerte zur interpersonellen Differenzierung heranzieht.

In den Interviews merken die Männer explizit an, dass ihr körperliches Selbstbild nur dann Thema ist, wenn es um Sexualität, Intimität und Partnerschaft geht. Es wird deutlich, dass das männliche Geschlecht, Körpernormativitäten und Sexualität scheinbar in einem engen Verhältnis stehen und Männer ihre Körper besonders im sexuellen Kontext als different wahrnehmen. Sexualität wird somit als Bereich beschrieben, bei dem Männlichkeit definiert und der Sexualfunktion eine tragende Rolle zugeschrieben wird (Connell, 2015; Mehlmann, 2012).

Zusätzlich wird sichtbar, dass die Interviewpartner mit soziokulturellen Vorgaben zum Normkörper und den damit verbundenen Anforderungen konfrontiert sind. Sie beschreiben eine Hierarchisierung ihres Körpers im inter- sowie intrageschlechtlichen Gefüge (Pfeiffer, 2016). Die Befragten machen aufgrund ihres differenten Körpers die Erfahrung, dass die «nicht-behinderte» Gesellschaft eine Verbindung zwischen dem äusseren Erscheinungsbild, weiteren personalen Eigenschaften und der sonstigen sozialen Realität herleitet und die Befragten infolgedessen stigmatisiert.

Vor allem das weibliche Fremdbild gilt in heterosexuellen Beziehungen als Orientierungsrahmen, um zwischen Männern mit und ohne körperliche Beeinträchtigungen auf sexueller Ebene zu differenzieren. Dem männlichen Körper mit Beeinträchtigung wird den Befragten zufolge Sexualität entweder abgesprochen oder ihr Körper wird als sexuell «anders» betrachtet. Die Interviewpartner betonen, dass zusätzlich zum eigenen Verständnis der Sexualität auch das Verständnis des Gegenübers und die Kommunikationsfähigkeit von Partner:innen entscheidend dafür sind, wie Sexualität er- und gelebt wird. Vor allem die Sicht und das Urteil von Frauen spielen eine bedeutsame Rolle für die Selbsteinschätzung (Popowich Sheldon et al., 2011). Ein Interviewpartner beschreibt, dass er erst mit einer unterstützenden und offenen Lebenspartnerin lernte, verschiedene Unterstützungsmittel und Sexspielzeuge auszuprobieren. Nach zwei Jahren kam er zum Schluss:

Nur weil das [der Sex, Anm. d. Verf.] jetzt geht, bin ich nicht jetzt erst Mann, sondern ich brauchte eben das Gegenüber […]. Ich bin die ganze Zeit Mann, männlich genug. Ja, ich habe es halt nur später begriffen. Also im Endeffekt bin ich jetzt halt so schlau, dass ich sage, okay, auch Sex, das erste Offensichtliche, wo man Mann ist, hat auch nichts damit [mit dem Mann-Sein, Anm. d. Verf.] zu tun. (IP[1] 3_28.05.2021)

Die in Tabelle 1 aufgelisteten Körpererwartungen, welche mit Leistungs- und Performanzdruck auf Frauen und Männer einhergehen, werden auch in den Interviews aufgegriffen. Ein Interviewteilnehmer ist zum Beispiel der Ansicht, dass

die Gesellschaft […] eigentlich schizophren ist. Bestimmte Frauen […] wollen irgendwie einen starken, kräftigen Macho-Mann, der sie verteidigen kann und auch meinetwegen entsprechend befriedigen kann. Und zwei Jahre später wollen sie aber […] denselben Mann mit stahlharten Muskeln […] mit einem kleinen Bierbauch, damit er ein weicher Papa wird. Das ist […] bescheuert. Das geht nicht. Also entweder bist du der coole Macker oder du bist der kleine Teddybär, der alle mag. So ist meine Erfahrung. […] Und ich meine, wir Männer sind ja wahrscheinlich nicht viel anders. Am Anfang wollen wir die krasse heiße Lady haben […] mit dem schwarzen Kleid für einen Abendball […] und ein paar Tage später wollen wir die liebe Mutti haben, die alles versteht. […] So oder so entspricht man als Rollstuhlfahrer, egal ob Mann oder Frau, einfach nicht dem Wunschbild, ja? (IP 2_25.05.2021).

Die Aussage macht heteronormative Vorstellungen von attraktiven Geschlechterkörpern sowie die damit verbundenen erwarteten dichotomen Geschlechterrollen sichtbar. Die Forschungsteilnehmer betonen, dass diese starren Soll-Werte Handlungsmöglichkeiten eingrenzen und Männer mit körperlichen Beeinträchtigungen aus dem Sexualitätsdiskurs ausgrenzen. Zwei Interviewpartner, die jeweils seit ihrem jungen Erwachsenenalter einen Rollstuhl nutzen, berichten, dass sie nach ihren Unfällen zunächst damit konfrontiert waren, ihre Sexualität und sexuellen Körperfunktionen wiederzuentdecken. Ein Interviewpartner erzählt, dass ihn der Rollstuhl und die Querschnittslähmung während der Rehabilitation wenig berührt haben. Er habe sich eher Sorgen um seine Potenz und Sexualität gemacht. Er fühlte sich zu diesem Zeitpunkt gekränkt und «als Mann tatsächlich dann wirklich […] echt behindert» (IP 4_28.05.2023), sodass er in seiner Freizeit zunächst intensiv nach Potenzmitteln suchte und diese ausprobierte (ebd.).

Das Fremdbild potenzieller Sexualpartner:innen äussert sich – in heteronormativen Kontexten – durch Misserfolge in intergeschlechtlichen Auseinandersetzungen und schreibt sich in das Selbstbild ein. Einige Interviewpartner berichten, dass sie eine Entmannung auf sexueller Ebene erleben, wenn Frauen ihnen gegenüber Äusserungen tätigen wie: «Ich wollte dir einfach nur jetzt schon mal sagen, mir geht‘s hier nur um Freundschaft» (IP 2_25.05.2021).

Eine Verschiebung von Norm- und Normalitätsgrenzen ist für die Interviewteilnehmenden notwendig, um das körperliche Selbstbild zu erweitern und positive wie auch negative Erfahrungen integrieren zu können (El Ismy, 2023). Der von Gerschick und Miller (1995, S. 202) beschriebene Prozess des «letting go of behavioral expectations and gender practices as a way to gain greater strength and control over one's life» [das Loslassen von Verhaltenserwartungen und geschlechtsspezifischen Praktiken als Weg zu mehr Stärke und Kontrolle über das eigene Leben] wird in folgender Aussage eines Interviewpartners sichtbar:

[Ein] Mann muss ja funktionieren, auch untenrum so ungefähr. Daran merkt man dann wieder, dass ein bestimmtes Rollenbild einen einschränkt, einen sozusagen in eine bestimmte Bahn lenkt. So muss es halt sein, und man muss kommen. Man muss die Frau befriedigen bis zum Höhepunkt, was kompletter Schwachsinn ist. […] Also nur weil die Frau nicht gekommen ist, bedeutet es ja nicht, dass es nicht schön für sie war (IP 1_26.05.2021).

Gleichzeitig sehen sich die Befragten im Vergleich stets mit Macht- und Ungleichheitsdynamiken zu Männern ohne Behinderungen konfrontiert. Funktionalität und Leistungsfähigkeit auf körperlicher sowie sexueller Ebene werden hierarchisiert: «Ich bin zwar ein Mann, ne? Das war klar, aber ich bin einfach nicht zu gebrauchen […] in gewissen Situationen» (IP 3_28.05.2021). Er zeigt auf, wie bedeutsam sexuelle Leistungsfähigkeit und Potenz als vermeintlich ausschlaggebende Merkmale des Männerkörpers sind, um sich als Mann «bestätigt zu fühlen» (IP2_25.05.2021). Die befragten Männer beschreiben eine Konkurrenz, die bei Männern ohne Behinderungen deutlich wird und die Definition eines hegemonialen Männerkörpers aufrechterhält. Dieser Normkörper wird Baur und Luedtke (2008) zufolge mit Status, Anerkennung und (sexuellen) Interaktionen mit Frauen belohnt. Rollstuhlfahrer würden den Interviewpartnern zufolge «nie Gefahr aus[strahlen]» (IP 2_25.05.2021) und keine Konkurrenz für Männer ohne Behinderungen darstellen. Die Aussage unterstreicht, dass Menschen ohne Behinderungen sich sexuelle Bedürfnisse und Wünsche bei Menschen mit Behinderungen oft nicht vorstellen können (Ortland, 2008). Behinderung wird somit dem «Anderen» oder «Abweichenden» zugewiesen. Gerschick und Miller (1995, S. 192) schreiben, dass Männer mit Behinderungen scheinbar als «‹really nice person›, but not like a guy per se» wahrgenommen werden. Vor allem ein Interviewpartner berichtet von paternalistischem Verhalten ihm gegenüber. Dies erklärt er damit, dass zusätzliche körperliche Auffälligkeiten wie sein «leicht schiefe Körperhaltung» (IP 5_24.05.2021) und sein Assistenzbedarf ausschlaggebend seien für zusätzliche Interaktionsschwierigkeiten. Die Sichtbarkeit und Auffälligkeit der körperlichen Abweichung führt zu zusätzlicher Ausgrenzung und Stigmatisierung, insbesondere im Kontext von Partnerschaft und Sexualität und zeigt damit ebenso auf, dass auch die unterschiedlichen Körper innerhalb der Gruppe von Männern mit Körperbehinderungen unterschiedlich bewertet und hierarchisiert werden. Die Sichtbarkeit der körperlichen Abweichung führe zu zusätzlicher Ausgrenzung und Stigmatisierung, insbesondere im Kontext von Partnerschaft und Sexualität: Wenn Frauen beispielsweise mit ihm tanzen, habe er das Gefühl, dass sie «dem armen Kleinen, Behinderten, mal eine Freude [machen wollen], obwohl sie genau wissen, dass sie nie einen Schritt weitergehen würden» (IP 5_24.05.2021). Sie stellen übergriffige Fragen, wie «Bist du eigentlich schon mal von einer Frau geküsst worden?» (ebd.) oder sagen, dass sie ihn küssen werden, «damit [ihn] auch mal eine Frau geküsst hat» (ebd.) (El Ismy, 2023, S. 68f.).

Ausblick: Intersektionale Zugänge

Die Interviews verdeutlichen, dass der Körper des Mannes Kommunikationsmittel für soziale Strukturen und Abbild von Ungleichheitsdynamiken ist. Differente körperliche Realitäten bedeuten unterschiedliche soziale Realitäten für die jeweiligen Körper, deren Wahrnehmung, Deutung und Interaktion mit der Umwelt. Offensichtlich wurde, dass able-bodied-Körper den Norm- und Normalwert der Gesellschaft setzen. Im Besonderen zeigt sich, dass ein intersektionaler körpersoziologischer Zugang unabdingbar ist, wenn Behinderung und Sexualität thematisiert werden. Die Dimensionen Geschlecht, Behinderung und Körper müssen in einer Wechselwirkung gedacht und analysiert werden. Zudem ist die Dekonstruktion der normativ gesetzten «‹able-bodied heterosexuality›-Hegemonie» (Raab, 2010b, S. 80) als «vermeintlich absolute Definition von männlicher Sexualität und Körperlichkeit» (El Ismy, 2023, S. 83) zu reflektieren. Die Interviewpartner haben darüber hinaus die Rolle von Attraktivitäts- und Schönheitskonstruktionen deutlich gemacht, welche im Kontext differenter Körper beachtet werden müssen.

Schlussfolgernd sind Austausch- und Begegnungsräume für Männer mit (Körper-)Behinderungen denkbar, in denen die Dimensionen Sexualität, Männlichkeit, Männerkörper und Selbstbild thematisiert werden können. Im Forschungsprojekt ReWiKs[2] («ReWiKs: Sexuelle Selbstbestimmung und Behinderung – Reflexion, Wissen, Können als Bausteine für Veränderungen») der Humboldt-Universität zu Berlin in Kooperation mit der katho NRW beschäftigen sich Forscher:innen mit der sexuellen Selbstbestimmung von Menschen mit Lernschwierigkeiten in Wohneinrichtungen. Im Projektbereich «FREiRAUM: Sexualität + ICH» tauschen sich Menschen, die Wohnangebote der Eingliederungshilfe nutzen, offen über Erfahrungen, Bedürfnisse und Wünsche zu den Themenfeldern Sexualität, Partnerschaft, Liebe und Selbstbestimmung aus (Bössing et al., 2022). Dieses Format ist bundesweit implementiert und verfügt über geschlechtergemischte und Frauen-Gruppen. Aus diesen Gruppen ist zudem ein hoher Bedarf und der Wunsch nach Männer-Gruppen ersichtlich geworden, die eine geschlechterspezifische Auseinandersetzung mit dem Geschlecht, dem Körperbild und Sexualität im Rahmen eines Erzählraums ermöglichen.

Ingy El Ismy

Wissenschaftliche Mitarbeiterin

Humboldt-Universität zu Berlin

Institut für Rehabilitationswissenschaften

Abteilung «Pädagogik bei Beeinträchtigungen der körperlich-motorischen Entwicklung»

ingy.el.ismy@hu-berlin.de

Prof. Dr. Sven Jennessen

Leitung der Abteilung «Pädagogik bei Beeinträchtigungen der körperlich-motorischen Entwicklung»

Humboldt-Universität zu Berlin

Institut für Rehabilitationswissenschaften

sven.jennessen@hu-berlin.de

Literatur

Baur, N. & Luedtke, J. (Hrsg.) (2008). Die soziale Konstruktion von Männlichkeit. Hegemoniale und marginalisierte Männlichkeiten in Deutschland. Budrich.

Bössing, C., Büttner, S., El Ismy, I. & Prchal, K. (2022). Erzählte Behinderung im Freiraum: Sexualität + ICH. Ein Beitrag über erzählte Liebe als erzähltes Leben. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 28 (7–8), 30–35.

Bruner, C. F. (2005). Körper und Behinderung im Diskurs: empirisch fundierte Anmerkungen zu einem kulturwissenschaftlichen Verständnis der Disability Studies. Psychologie und Gesellschaftskritik, 29 (1), 33–53. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-18794

Connell, R. (2015). Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten (4. Aufl.). Springer VS.

El Ismy, I. (2023). Das männliche Selbstbild im Kontext von Körperbehinderungen. AG Schriftenreihe des Institutes für Rehabilitationswissenschaften. https://doi.org/10.18452/26022

Gerschick, T. J. & Miller, A. S. (1995). Coming to Terms. Masculinity and Physical Disability. In D. Sabo & D. F. Gordon (Eds.), Men's Health and Illness: Gender, Power, and the Body (pp. 183–204). SAGE Publications.

Gugutzer, R., Klein, G. & Meuser, M. (2017). Vorwort. In R. Gugutzer, G. Klein & M. Meuser (Hrsg.), Handbuch Körpersoziologie. Band 1: Grundbegriffe und theoretische Perspektiven (S. V–VIII). Springer VS.

Köbsell, S. (2010). Gendering Disability: Behinderung, Geschlecht und Körper. In J. Jacob, S. Köbsell & E. Wollrad (Hrsg.), Gendering Disability. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht (S. 17–33). transcript.

Mayring, P. (2019). Qualitative Inhaltsanalyse. In U. Flick, E. von Kardorff & I. Steinke (Hrsg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch (S. 468–475) (13. Aufl.). Rowohlt Taschenbuch Verlag.

McRuer, R. (2002). Compulsory Able-Bodiedness and Queer/Disabled Existence. In S. L. Snyder, B. J. Brueggemann & R. Garland-Thomson (Eds.), Disability Studies. Enabling the Humanities (pp. 88–109). Modern Language Association of America.

Mehlmann, S. (2012). Das mann-menschliche Individuum. Paradoxe Konstruktionslogiken moderner Männlichkeit. In B. Riegraf, D. Spreen & S. Mehlmann (Hrsg.), Medien – Körper – Geschlecht. Diskursivierungen von Materialität (S. 177–199). transcript.

Ortland, B. (2008). Partnerschaft und Sexualität bei Erwachsenen mit Körperbehinderungen. In S. Jennessen (Hrsg.), Leben geht weiter… Neue Perspektiven der sozialen Rehabilitation körperbehinderter Menschen im Lebenslauf (S. 81–103). Juventa Verlag.

Pfeiffer, Z. S. (2016). Doing Gender. Wie werden Menschen zu Mädchen und Jungen gemacht? In K. Fereidooni & A. P. Zeoli (Hrsg.), Managing Diversity. Die diversitätsbewusste Ausrichtung des Bildungs- und Kulturwesens, der Wirtschaft und Verwaltung (S. 53–65). Springer VS.

Popowich Sheldon, A., Renwick, R. & Yoshida, K. K. (2011). Exploring Body Image and Self-Concept of Men With Acquired Spinal Cord Injuries. American Journal of Men’s Health, 5 (4), 306–317. https://doi.org/10.1177/1557988310375714

Raab, H. (2010a). Fragmentierte Körper – Körperfragmente. In N. Degele, S. Schmitz, M. Mangelsdorf & E. Gramespacher (Hrsg.), Gendered Bodies in Motion (S. 143–162). Budrich UniPress.

Raab, H. (2010b). Shifting the Paradigm: «Behinderung, Heteronormativität und Queerness». In J. Jacob, S. Köbsell & E. Wollrad (Hrsg.), Gendering Disability. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht (S. 73–94). transcript.

Sandfort, L. (2007). Mannhaft erobern! In J. Jacob & E. Wollrad (Hrsg.), Behinderung und Geschlecht – Perspektiven in Theorie und Praxis. Dokumentation einer Tagung (S. 99–108). BIS-Verlag der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

Schütze, F. (1983). Biographieforschung und narratives Interview. Neue Praxis, 3, 283–293. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-53147

Windisch, M. (Hrsg.) (2014). Behinderung – Geschlecht – Soziale Ungleichheit. Intersektionelle Perspektiven. transcript.

  1. Die Abkürzung IP steht für Interviewpartner.

  2. Link zur Webseite des ReWiKs-Projekts: https://hu.berlin/rewiks