«Ich möchte auch Liebe leben»

Menschen mit Behinderungen und ihre Bezugspersonen erzählen über Sex, Liebe und Beziehung

Noëlle Fetzer, Damaris Gut und Katja Wey

Einführung
Können Menschen mit Behinderungen ihre Sexualität selbstbestimmt leben? Auf der Suche nach Antworten reisen wir ins Lukashaus, eine Institution in Grabs (SG). Einen Tag lang unterhalten wir uns mit sieben Nutzer:innen des Lukashauses, zwei Müttern von Menschen mit Behinderungen, zwei Sexualpädagog:innen und mit dem Geschäftsleiter der Institution. Der Redebedarf über Behinderung und Sexualität ist gross – wir hören zu.

Introduction
Les personnes en situation de handicap peuvent-elles vivre leur sexualité de manière autonome ? En quête de réponses, nous nous rendons au Lukashaus, une institution située à Grabs (SG). Pendant une journée, nous nous entretenons avec sept bénéficiaires, deux mères de personnes en situation de handicap, deux sexopédagogues et le directeur de l'institution. Le besoin de parler de handicap et sexualité est considérable – nous écoutons.

Keywords: Sexualität, zwischenmenschliche Beziehungen, Selbstbestimmung, Sexualbegleitung, Institution / sexualité, relations interpersonnelles, autodétermination, assistance sexuelle, institution

DOI: https://doi.org/10.57161/z2023-06-03

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 29, 06/2023

Creative Common BY

«Ich brauche einfach ein bisschen mehr Liebe»

Die Wünsche von Menschen mit Behinderungen bezüglich Liebe und Sexualität sind vielfältig und individuell. Oft werden sie in der Gesellschaft jedoch nicht wahrgenommen oder überhört. Die Nutzer:innen[1] des Lukashauses erzählen von ihren Wünschen und ihren Realitäten.

Linda*[2] (56 Jahre): Mein Partner sollte ein gutmütiger Mensch sein. Und er sollte geduldig sein. Ich möchte nichts überstürzen, sondern eine Beziehung langsam angehen. Es ist mir wichtig, dass ich eine Person Schritt für Schritt kennenlernen kann. Mir ist auch ein achtsamer Umgang wichtig, man soll sich gegenseitig schätzen und ehrlich sein.

Jonas* (24 Jahre): Ich wünsche mir eine Partnerin, die ähnlich ist wie ich. Die die gleichen Hobbys hat und einen ähnlichen Charakter. Es wäre toll, wenn sie an Geschichte interessiert wäre. Und sportlich sollte sie sein.

Anna* (44 Jahre): Mein Freund und ich sind seit elf Jahren zusammen, waren aber zwischendurch manchmal getrennt.

Yvonne & Bernhard* (39 und 58 Jahre): Da wir nicht heiraten können, haben wir ein Fest organisiert, eine Zeremonie. Wir haben gefeiert, dass wir nun mehr als 20 Jahre zusammen sind. Für unsere Zukunft wünschen wir uns, dass wir zusammen ins Kino gehen können, etwas trinken oder in den Ausgang.

Marion (Sexualpädagogin): Die Nutzer:innen wünschen sich betreffend dem Thema Liebe und Sexualität einfach nur Normalität.

Tim* (36 Jahre): Mein Wunsch ist es, Händchen zu halten. Und ich wünsche mir jemanden, den ich umarmen kann. Ich brauche einfach ein bisschen mehr Liebe. Meine Freundin sollte die gleichen Interessen haben wie ich. Und es wäre super, wenn sie Auto fährt. Dann könnten wir gemeinsam irgendwo hinfahren.

Caroline* (41 Jahre): Ich hatte einen Freund, der hatte auch eine Hirnverletzung. Ich habe mich von ihm getrennt, weil unsere Beziehung nicht funktioniert hat. Deswegen bin ich jetzt Single und auf der Suche nach der Liebe. Ich wünsche mir einen Partner, der ehrlich, aufrichtig und flexibel ist. Er sollte offen für Neues sein. Das wäre mir wichtig, denn ich bin eine spontane Frau.

Das Lukashaus ist eine Institution mit Hauptsitz in Grabs (SG). Zum Lukashaus gehören insgesamt über 290 Menschen mit und ohne Behinderungen. Das Lukashaus gilt als Kompetenzzentrum für die Anliegen von Menschen mit komplexen Behinderungen in der Region und stellt eine Bildungsplattform rund um das Thema Behinderung und Sozialraum zur Verfügung. Das Lukashaus bietet bedarfs- und bedürfnisorientierte integrative Angebote in den Bereichen Wohnen, Beschäftigung und Bildung. Die Angebote richten sich mehrheitlich an erwachsene Menschen mit komplexen Behinderungen, psychischen und körperlichen Behinderungen sowie Sinnesbehinderungen und Verhaltensauffälligkeiten. Das Lukashaus begleitet auch Menschen in einer gesicherten Abteilung (Intensivwohngruppe/Beschäftigung).

«Mal an eine Kontaktparty gehen zu können, fände ich cool»

Die Suche nach einem passenden Gegenüber ist für alle Menschen an unterschiedliche Wünsche und Vorstellungen geknüpft und manchmal auch mit Gefühlen der Frustration verbunden. Wie blicken die Menschen im Lukashaus auf die Partner:innensuche? Und welche Möglichkeiten haben sie, um jemanden kennenzulernen?

Jonas* (24 Jahre): Es ist schon eher schwierig heutzutage, jemanden zu finden, der ähnlich tickt wie ich selbst. In manchen Momenten hätte ich gern eine Beziehung, in anderen nicht. Das Schöne an einer Beziehung ist, dass man jemanden zum Reden hat, wenn es einem schlecht geht. Nicht so schön ist es, wenn man sich streitet.

Linda* (56 Jahre): Ich bin nicht auf der Suche nach einem Partner. Aber wenn es das Schicksal will, dass ich mal einen Freund habe, dann wäre das nicht so schlimm (lacht). Ich schrieb auf Facebook mit einigen Leuten, aber die wohnen weit entfernt. Ich bin meistens mit dem Herbie [Anm. d. Red.: Name des Elektro-Rollstuhls] unterwegs und da treffe ich auch Leute. Weil ich eine Behinderung habe, habe ich immer ein wenig Bammel, ob sich ein Partner auf mich einlassen kann. Aber ich lasse es auf mich zukommen.

Caroline* (41 Jahre): Ich bin auf der Suche nach einem Partner, aber nicht konkret. Meine Kollegen haben Tinder und so, aber ich kann nicht schreiben. Ich habe einen grossen Freundeskreis, aber ich lerne keine neuen Menschen kennen. Ich fühle mich ein wenig verloren. Deswegen möchte ich zur Schatzkiste [Anm. d. Red.: Die Schatzkiste Argovia ist eine Partnervermittlung für Menschen mit Behinderungen]. Mal an eine Kontaktparty gehen zu können, fände ich cool.

Tim* (36 Jahre): Ich habe schon Freundinnen gehabt, die lernte ich durch die Schatzkiste kennen. Jetzt suche ich eine Freundin. Vielleicht lerne ich sie im Ausgang kennen. Früher war ich schüchtern, jetzt nicht mehr. Damals hätte ich mich nicht getraut, jemanden anzusprechen.

Jonas* (24 Jahre): Auf Social Media bin ich eher zurückgezogen. Ich denke, ich lerne jemanden im Ausgang kennen.

Markus (Sexualpädagoge): Der Ausgang ist ein grosses Thema für die Nutzer:innen. Es geht darum, aus der Wohngruppe herauszukommen und die Nutzer:innen zu durchmischen. Wir schauen, dass verschiedene Gruppen miteinander in den Ausgang gehen. Die Region schränkt uns ein wenig ein. Wie kommen wir zum Beispiel an eine Kontaktparty in St. Gallen? An solchen Dingen kann es schon scheitern.

Caroline* (41 Jahre): Ich finde es schön, viele Freundschaften zu haben, aber ich hätte gerne mal wieder ein Schätzli. Meine Freunde können nicht alle meine Bedürfnisse abdecken. Kürzlich hat sich eine Freundin von mir verliebt, sie hat Schmetterlinge im Bauch und erzählt mir davon. Ich höre zu und bestärke sie in ihrer Verliebtheit, aber ich bin immer noch allein. Ich habe sogar meinen besten Freund und eine Freundin verkuppelt. Ich war quasi der Amorpfeil. Jetzt möchte ich mich auch verlieben. Ich habe keine Geduld mehr. Ich kann auf Websites keinen Freund kennenlernen, weil ich im geschützten Rahmen lebe. Und bedienen kann ich die Websites auch nicht ohne Hilfe, meine Hirnverletzung steht mir im Weg. Ich hatte viel Geduld und bin eine liebe Person, nun möchte ich aber auch einmal an der Reihe sein und mich verlieben können. Deswegen möchte ich zur Schatzkiste, um meinen «Mr. Right» zu finden.

Gruppenfoto mit den Gesprächspartner:innen vor dem Lukashaus (© Lukashaus Stiftung)
Das Bild zeigt acht der interviewten Personen von hinten. Zwei Frauen sitzen im Rollstuhl. Gemeinsam halten sie Bilder mit Herzen in die Höhe. Im Hintergrund ist das Lukashaus zu sehen.

«Der Umgang mit Sexualität und Menschen mit Behinderungen hat sich gewandelt»

Die Mehrheitsgesellschaft ohne Behinderungen hat gegenüber dem Thema Behinderung und Sexualität immer noch Vorurteile.