DOI: https://doi.org/10.57161/z2023-06-00
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 29, 06/2023
«Alle Menschen sollten die gleichen Rechte haben – egal ob mit oder ohne Behinderungen. Denn alle Menschen sind gleich. Ob mit oder ohne Behinderungen, die Liebe soll für alle erlebbar sein.» Mit leiser Stimme sagt das meine Interviewpartnerin[1] – eine Frau mit Behinderung mittleren Alters – und schaut mir dabei direkt in die Augen. Sie macht einen müden Eindruck auf mich. Nach unserem Gespräch kann ich ihre Müdigkeit und ihre schwindende Geduld nachvollziehen. Sie kennt ihr Recht auf selbstbestimmte Sexualität – ihr Recht darauf, ihre Sexualität ihren Vorlieben und Fähigkeiten entsprechend zu leben. Aber bei der Umsetzung trifft sie auf verschiedenste Herausforderungen. In unserem Gespräch erzählt sie mir, dass es für sie schwierig ist, andere Menschen kennenzulernen. Eine Dating-Applikation am Handy kann sie nicht bedienen und die Covid-19-Pandemie erschwerte es, andere Menschen zu treffen. Zudem erfahre sie immer wieder Ablehnung von Menschen, welche ihr ihre sexuellen Bedürfnisse absprechen oder diese ignorieren. Hinzu kommen Erfahrungen von sexuellem Missbrauch aus der Vergangenheit – Narben, die nicht verheilt sind. Ihre Erfahrungen zeigen, dass unzureichende Barrierefreiheit, gesellschaftliche Vorurteile oder mangelnde Aufklärung den Zugang zu selbstbestimmter Sexualität erschweren.
Meine Interviewpartnerin ist einer von vielen Menschen, denen es ähnlich ergeht. Viele stossen auf Ablehnung, machen negative Erfahrungen und fühlen sich in ihren Anliegen bezüglich ihrer Sexualität nicht ernst genommen. Glücklicherweise interviewe ich auch Menschen mit Behinderung, die ihre Sexualität selbstbestimmt ausleben. Viele werden von ihrem Umfeld unterstützt. Die Art, wie sie ihre Sexualität selbstbestimmt gestalten und ausleben, ist individuell: Manche leben sie im Rahmen einer Partnerschaft, andere nehmen Dienstleistungen wie die Sexualbegleitung in Anspruch. So vielfältig wie die sexuellen Bedürfnisse von Menschen ist auch die Art, sie selbstbestimmt auszuleben. Entscheidend dafür ist eine umfassende sexuelle Bildung, welche die Vielfalt von sexuellen Orientierungen und Identitäten einschliesslich derer von Menschen mit Behinderungen berücksichtigt.
Wir als Gesellschaft sollten anerkennen, dass Sexualität ein grundlegendes Menschenrecht ist. Ein Recht, das Menschen mit und ohne Behinderung uneingeschränkt geniessen sollten. Es ist an der Zeit, Vorurteile abzubauen, Tabus zu durchbrechen und eine akzeptierende Umgebung zu schaffen, in der jeder Mensch seine Sexualität frei und selbstbestimmt leben kann. Indem wir die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen respektieren und die Vielfalt der sexuellen Ausdrucksformen anerkennen, haben wir die Möglichkeit, eine gerechtere und tolerantere Gesellschaft mitzugestalten.
Das Bedürfnis, über Behinderung und Sexualität zu schreiben oder zu sprechen, ist durchaus vorhanden und zudem äusserst vielfältig – das habe ich bei der Arbeit an dieser Ausgabe festgestellt. Die Beiträge dieser Ausgabe bilden den Themenschwerpunkt «Behinderung und Sexualität» in seiner Breite ab. Doch bitte, überzeugen Sie sich selbst!
Noëlle Fetzer Wissenschaftliche Mitarbeiterin SZH/CSPS |
Das vollständige Interview finden Sie in dieser Ausgabe und trägt den Titel: «Ich möchte auch Liebe leben». ↑