Inklusive Freizeit – wir sind fast am Ziel! Oder doch nicht?

Olivier Maridor

Zusammenfassung
Menschen mit Behinderungen geniessen bereits ein beschränktes Angebot an massgeschneiderten Freizeitaktivitäten. Bis zu einer autonomen Teilhabe in der Gesellschaft hat die Schweiz noch einen weiten Weg vor sich. Der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) verfolgt das Ziel einer vollständigen Zugänglichkeit und Inklusion im Kultur- und Freizeitbereich gemeinsam mit den zuständigen Akteuren. Der SBV bietet Kurse an im Bereich von Freizeit und Kultur und unterstützt andere Veranstaltende darin, ihre Angebote für Menschen mit Sehbehinderungen zugänglich zu gestalten. Der Artikel zeigt den Bedarf einer barrierefreien Organisation von Veranstaltungen und Aktivitäten und präsentiert Lösungsansätze für eine bessere Zugänglichkeit.

Résumé
Actuellement, les personnes en situation de handicap bénéficient d'une offre de loisirs adaptés limitée. La Suisse a encore un long chemin à parcourir avant de parvenir à une participation autonome dans la société. En collaboration avec les actrices et acteurs compétents, la Fédération suisse des aveugles et malvoyants (FSA) poursuit l'objectif d'une accessibilité et d'une inclusion totales dans la culture et les loisirs. D’une part, la FSA propose des cours dans le domaine des loisirs et de la culture. D’autre part, elle aide les autres organisations à rendre leurs offres accessibles aux personnes ayant un handicap visuel. Après avoir mis en évidence la nécessité d'organiser des événements et des activités accessibles, l’article présente des solutions pour améliorer l'accessibilité des loisirs.

Keywords: Behinderung, Sehschädigung, Inklusion, Freizeit, Kultur, Barrierefreiheit / handicap, déficience visuelle, inclusion, loisir, culture, accessibilité

DOI: https://doi.org/10.57161/z2023-05-06

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 29, 05/2023

Creative Common BY

Rechte der Menschen mit Behinderungen in der Freizeit und Kultur

Im Schweizer Recht gibt es nur wenige Vorschriften in Bezug auf eine gleichberechtigte Zugänglichkeit von Veranstaltungen im Bereich von Freizeit und Kultur. Seit die Behindertenrechtskonvention (BRK) und somit auch der Artikel 30 «Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport» ratifiziert wurde, besteht ein grosser Nachholbedarf auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene. Die Messlatte der Anforderungen an die Vertragsstaaten ist hoch gesetzt; das Ziel für die Schweiz ist noch weit entfernt, trotzdem ist es erreichbar.

In verschiedenen Teilbereichen gibt es Bestimmungen, die die Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen regeln. Beim Fernsehen wird beispielsweise eine angemessene Menge an Fernsehinhalten verlangt, die in geeigneter Form für Menschen mit Sinnesbehinderungen angeboten werden (Bundesgesetz über Radio und Fernsehen / RTVG, Art. 7, Abs. 3; Radio- und Fernsehverordnung / RTVV, Art. 7-8). Eine Vereinbarung mit der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG SSR) definiert seit 2008 dieses Ziel genauer: Der Artikel 65 der Verordnung des EDI über die Filmförderung (FiFV) verlangt bei gewissen vom Bund subventionierten Filmen eine Audiodeskription in mindestens einer Landessprache. Die architektonischen Normen wie insbesondere SIA 500[1] definieren in vielen Details, wie ein öffentlich genutztes Gebäude (beispielsweise einer Freizeit- oder Kultureinrichtung) für Menschen mit Behinderungen eingerichtet werden muss, damit die Betroffenen sich darin hindernisfrei orientieren und das Angebot ohne Barrieren nutzen können.

Freizeit- und Kulturangebote für blinde und sehbehinderte Personen

Kulturveranstaltungen und Freizeitaktivitäten für Menschen mit Behinderungen werden hauptsächlich von spezialisierten Institutionen angeboten. Allein der SBV stellt eine grosse Palette solcher Dienstleistungen zur Verfügung (siehe Infobox). Zahlreiche spezialisierte Vereine, Stiftungen und Gesellschaften bieten blinden- und sehbehindertengerechte Aktivitäten an im Sport-, Erholungs- und Kulturbereich – beispielsweise Blindpower, Ecoute Voir oder Hörfilm Schweiz. Organisiert werden zum Beispiel Ski-Camps, Tandemfahrten, Torball- oder Showdown-Turniere, Jogging- oder Wandertouren, Segeltrips, Entspannungsferien, Schlemmerexkursionen, Kulturveranstaltungen sowie touristische Freizeitaktivitäten. Die betroffenen Menschen erwartet ein massgeschneidertes Angebot mit speziell ausgebildetem Betreuungspersonal. Somit könnte man meinen, dass das Ziel der zugänglichen Freizeit weitgehend erreicht ist. Oder doch nicht?

Kinder mit Sehbeeinträchtigungen (ohne andere Behinderungen) werden seit rund 30 bis 40 Jahren kaum noch in spezialisierten Institutionen geschult, sondern in die Regelschule ihres Wohnorts eingegliedert. Daher sind sie in ihrer Freizeit von Anfang an besser in die Gesellschaft integriert als Kinder in spezialisierten Institutionen. Kinder, die die Regelschule besucht haben, verlangen auch im Erwachsenenalter ein inklusives Leben, weil sie nur so ihr Netzwerk aus Schule, Nachbarschaft und Familie weiterhin pflegen können. Entsprechend haben (separative) Sondereinrichtungen oder -anbieter wie zum Beispiel (Schul-)Heime oder geschützte Werkstätten zunehmend Mühe, jungen Nachwuchs für die Teilnahme an ihren Veranstaltungen zu finden. Ähnlich ist die Situation bei Menschen im Seniorenalter, die ihr Sehvermögen erst spät verlieren: Möglicherweise möchten sie ihre bisherigen Freizeitaktivitäten beibehalten. Es ist zum Teil eine grosse Herausforderung, die herkömmlichen Freizeitangebote auf die Bedürfnisse der Betroffenen anzupassen, damit eine vollständige Inklusion ermöglicht wird. An dieser Stelle kommt die Interessenvertretung des SBV zum Tragen. Sie kennt die Bedürfnisse der Betroffenen, berät die Anbietenden und überprüft Angebote auf ihre Zugänglichkeit.

Infobox: Der SBV, eine Mitglieder- und Dienstleistungsorganisation

Olivier Maridor hat eine Sehbehinderung und ist ein Fachmitarbeiter der Interessenvertretung beim Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV). Er trägt die Verantwortung für das Dossier «zugängliche Kultur und Freizeit sowie Audiodeskription». Der SBV ist eine nationale Selbsthilfeorganisation und wurde im Jahre 1911 von drei betroffenen Menschen gegründet. Die wichtigsten Ziele sind seit jeher die Interessenvertretung von Menschen mit Sehbehinderungen, die Sensibilisierung und die Integration in der Gesellschaft. In der Zwischenzeit hat sich der SBV in ein Dienstleistungsunternehmen mit über 100 Angestellten an verschiedenen Standorten entwickelt. Die Interessenvertretung und die Sensibilisierung gibt es auf nationaler wie auf regionaler Ebene. Der SBV verfügt über sechs Beratungsstellen, fünf Bildungs- und Begegnungszentren sowie 23 Kreativgruppen. Angeboten werden unter anderem Job Coachings, Sprachkurse und Aktivitäten im Bereich Musik, Tanz und Kultur, Sport und Bewegung, Gesundheit und Wohlbefinden, Kochen, Spiel und Kreativität. Weitere Informationen zum Freizeitangebot unter www.sbv-fsa.ch/kultur-freizeit.

Inklusive Freizeit und Kultur als Ziel – Bedarf und Lösungsansätze

Um die Freizeit zu geniessen, benötigt jeder Mensch gewisse Bedingungen, damit die gewünschte Aktivität interessant und zugänglich wird. Es ist möglich, dass eine Aktivität, die nur den visuellen Sinn anspricht, blinde Menschen nicht besonders interessiert – je nach Ausgestaltung des Angebots kann aber durchaus ein Interesse bestehen oder entstehen. Oder mit anderen Worten: Das Angebot fördert die Nachfrage.

In vielen Fällen können andere Sinne einbezogen werden. Idealerweise ersetzen die anderen Sinne den fehlenden oder beeinträchtigten Sehsinn. Die entsprechenden Lösungsansätze sind oft recht einfach und günstig. Beispielsweise sind die schriftlich und auf Papier ausgedruckten Informationen, denen wir in der Freizeit begegnen, meistens auch digital vorhanden: die Speisekarte im Restaurant, die Gästeinformation im Hotelzimmer, die Kundeninformation im Wellness- oder Sportzentrum, die Besucherinformation in der Messe, die Information zum Exponat im Museum, der Tierbeschrieb im Zoo und vieles mehr. Wenn alle diese (häufig im Internet) publizierten Informationen barrierefrei gestaltet sind – wenn sie ohne Einschränkungen lesbar sind für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen mithilfe ihrer technischen Hilfsmittel –, dann werden sie auch für diese Personengruppe zugänglich. Häufig reicht ein QR-Code auf dem gedruckten Dokument, der die entsprechende elektronische Information verlinkt. Dann können Smartphone-Nutzende die Informationen mittels Sprachausgabe an ihrem Gerät abhören.

Auch dank tastbaren Elementen können viele rein visuelle Zeichen und Objekte für Menschen mit Sehbehinderungen nutzbar gemacht werden. Beispiele sind Bedienfelder in Liftanlagen, an den Getränke- oder Esswarenautomaten, an der Kraftmaschine im Fitnesscenter oder in der interaktiven Ausstellung. Viele Spielsachen sind schon mit taktilen Orientierungspunkten versehen oder können mit relativ wenig Aufwand entsprechend angepasst werden. Grosse Reliefschrift und Braille-Schrift machen Beschriftungen und die Signaletik an Handläufen, Türen und Zugängen für alle lesbar. Voraussetzung ist allerdings, dass diese von den betroffenen Personen leicht gefunden werden. Ein 3D-Modell erlaubt auch das haptische Entdecken eines Monuments oder eines Kunstwerks, das nicht berührt werden darf.

Akustische Signaltöne oder eine Sprachausgabe (Text to speech) ergänzen idealerweise visuelle Informationen nach dem Zwei-Sinne-Prinzip. Für Menschen mit einem geringen Sehrest sind optimale Farbkontraste, Schriftgrössen und Beleuchtungswerte äusserst relevant; dabei müssen auch Reflexions- und Blendungseffekte beseitigt werden. Sehbehindertengerechte Markierungen von Glastüren, Stufen und Schwellen sind ebenfalls wichtige Faktoren, die die Mobilitätssicherheit wesentlich erhöhen. Dank solchen Anpassungen und Optimierungen können Freizeit- und Kultureinrichtungen so zugänglich gemacht werden, dass betroffene Menschen sie autonom nutzen können.

Inklusive Freizeit und Kultur als Ziel – Bedarf und Lösungsansätze

Bei vielen Freizeitaktivitäten können diverse Elemente weder angefasst noch gehört, geschmeckt oder gerochen werden: im Kino oder beim Fernsehen, bei einer Aufführung, im Museum, bei der Stadtführung, im Fussballstadion oder an vielen anderen Orten. Solche Aktivitäten sind häufig nur sichtbar und das Gesehene ist oft zwingende Voraussetzung für das Verständnis. Wenn eine betroffene Person zentrale Elemente einer Aktivität schlecht oder gar nicht sieht, muss der fehlende Sehsinn kompensiert werden. Dafür eignet sich besonders die Audiodeskription (AD). Die hierfür ausgebildeten Fachleute beschreiben mündlich kurz und prägnant, was sie sehen, damit die Person mit Sehbeeinträchtigung stets nachvollziehen kann, was im Film, auf der Bühne oder auf dem Sportfeld gerade geschieht. Die AD ist kostenintensiv, weil dafür eine längere Vorbereitungszeit notwendig ist. Eine Person muss das Gesehene mit exakten Beschreibungen erlebbar machen. Trotzdem sollte die AD in dieser Form deutlich stärker gefördert und öfter eingesetzt werden, denn die Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) und automatisierter Bilderkennung sind noch weit davon entfernt, die Qualität der AD zu erreichen.

Bei Filmen und Sendungen wird die AD auf einer zusätzlichen Tonspur aufgenommen. Bei sehr technisierten Veranstaltungen wie beispielsweise bei Musicals oder Lichtspektakeln kann die AD ebenfalls im Voraus aufgenommen und dann zum richtigen Zeitpunkt abgespielt werden. In allen anderen Bereichen wie Theater, Oper, bei touristischen Führungen, Museumsbesichtigungen, Sportanlässen und weiterem kann die AD teilweise im Voraus vorbereitet werden, muss aber mit einer gewissen Spontaneität gesprochen werden. Zum Beispiel haben Schauspielende auf der Bühne nicht immer dieselben Dialogpausen oder die Sportkommentatorin kann nicht im Voraus wissen, was auf dem Platz abläuft. Um die AD gut hören und verstehen zu können und damit anderen Personen in der Nähe nicht gestört werden, nutzen blinde und sehbehinderte Menschen ein Funkempfangsgerät oder ein Smartphone mit spezifischen Applikationen sowie Kopfhörern.

Sensibilisierung durch Betroffene macht alles menschlicher

Die Zugänglichkeit zu den Einrichtungen und zum Angebot im Freizeit- und Kulturbereich beschränkt sich nicht auf die Schwellenlosigkeit für rollstuhlfahrende Gäste oder auf allfällige weitere architektonische Optimierungen. Der Faktor Mensch ist dabei ebenso wichtig: Kann ein Mensch mit Behinderungen den Veranstaltungsort selbstständig finden, sich in der Anlage autonom fortbewegen und zurechtfinden oder benötigt er hierfür eine Assistenz? Wenn eine Begleitperson notwendig ist, wird diese von den Betreibenden/Veranstaltenden zur Verfügung gestellt oder müssen sich Menschen mit Behinderungen selbst darum kümmern? Erhält eine unerlässliche Begleitperson eine Reduktion auf den Eintrittspreis? Wenn Assistenz angeboten wird, weiss die Person, wie sie einen Menschen mit Behinderung begleiten und betreuen soll? Gewisse blinde Personen sind mit ihrem Blindenführhund unterwegs; gibt es eine Möglichkeit, den Hund in den Räumen mitzuführen oder kann er am Empfang betreut werden? Für solche und weitere Fragen kommt jeweils die Interessenvertretung des SBV ins Spiel. Die entsprechenden Informationen können anlässlich einer Sensibilisierung vor Ort oder allenfalls per Telefon vermittelt werden. Hierzu wird das Personal, das für die Einrichtung der Räumlichkeiten verantwortlich ist, geschult. Es finden etwa Rollenspiele statt, bei denen sich die Teilnehmenden in die Situation eines Menschen mit Behinderungen versetzen können, und die Personen vor Ort werden über die Bedürfnisse und Rechte der betroffenen Menschen aufgeklärt. Wenn möglich werden blinde und sehbehinderte Personen in diese Schulungen miteinbezogen.

Abschliessend bleibt anzumerken, dass eine blinden- und sehbehindertengerechte Kulturveranstaltung oder Freizeitaktivität von den betroffenen Personen nicht unbedingt autonom und selbstbestimmt besucht werden kann. Die Betreibenden oder Veranstaltenden müssen verstehen, dass sie auf weitere Kriterien achten müssen. Zu beachten sind etwa die Informationen bei den Ausschreibungen zum Anlass oder zur Aktivität (z. B. barrierefreier Werbeflyer, Audiodeskription ja/nein, etc.), das Ticketingsystem, die Orientierung und die Mobilität auf dem Weg zur und innerhalb der Anlage, die allfällige Bewirtschaftung vor Ort. Die Schweizerische Fachstelle «Kultur Inklusiv»[2] von Pro Infirmis Schweiz berät und sensibilisiert Kulturveranstaltende über verschiedene Massnahmen zur Umsetzung einer behinderungsübergreifenden inklusiven Kultur.

Die Arbeit von uns Fachpersonen der Interessenvertretung beim SBV gleicht einer Wanderung in den Bergen, mit steilen Steigungen und flacheren Ebenen: Das Ziel scheint oft näher gerückt zu sein, und doch ist es noch längst nicht erreicht.

Olivier Maridor

Fachspezialist Interessensvertretung und Dossierverantwortlicher Freizeit und Kultur

Schweizer Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV-FSA)

olivier.maridor@sbv-fsa.ch

Literatur

Bundesgesetz über Radio und Fernsehen (RTVG) vom 24. März 2006 (Stand am 1. Januar 2022). Art. 7, Abs. 3. https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2007/150/de#art_7

Radio- und Fernsehverordnung (RTVV) vom 9. März 2007 (Stand am 1. Januar 2023). Art. 7-8. https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2007/151/de#art_7

Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention, BRK), vom 13. Dezember 2006, durch die Schweiz ratifiziert am 15. April 2014, in Kraft seit dem 15. Mai 2014, SR 0.109.

UN-Behindertenrechtskonvention (o.J.). Teilnahme am kulturellen Leben. Praetor Verlag. Abgerufen am 24. April 2023 von www.behindertenrechtskonvention.info/teilnahme-am-kulturellen-leben-3939

Verordnung des EDI über die Filmförderung (FiFV) vom 21. April 2016 (Stand am 29. Januar 2021). Art. 65. Abgerufen am 24. April 2023 von www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2016/291/de#art_65

  1. Vgl. SIA 500 «Hindernisfreie Bauten» unter https://hindernisfreie-architektur.ch/normen_publikationen/sia-500/

  2. www.kulturinklusiv.ch