Zugang zu Kultur mittels inklusiver Netzwerke

Ein Praxisprojekt der Fachstelle «Kultur inklusiv»

Andrea Schönhofer

Zusammenfassung
Ein zentrales Anliegen der Fachstelle «Kultur inklusiv» von Pro Infirmis ist es, Menschen mit Behinderungen einen Zugang zu Kulturangeboten zu ermöglichen. Hierfür hat die Fachstelle den Aufbau von Netzwerken in mehreren Schweizer Regionen angestossen. Diese autonomen regionalen Netzwerke bestehen aus Kulturexpert:innen, die sich in ihrer Region für eine inklusive Gestaltung von Kulturangeboten einsetzen. Im folgenden Beitrag wird, im Anschluss an eine kurze theoretische Einordnung des Themas, das laufende inklusive Praxisprojekt beschrieben.

Résumé
L'une des principales préoccupations du service « Culture inclusive » de Pro Infirmis est de permettre aux personnes en situation de handicap d'accéder aux offres culturelles. Pour ce faire, le service a initié la mise en place de réseaux dans plusieurs régions de Suisse. Ces réseaux régionaux autonomes sont composés d’expertes et d'experts culturels qui s'engagent à la conception d’offres culturelles inclusives dans leur région. Après une brève présentation théorique, l’article décrit un projet pratique en cours.

Keywords: Behinderung, Inklusion, Freizeit, Kultur, Netzwerkarbeit, Partizipation / handicap, inclusion, loisir, culture, travail en réseau, participation

DOI: https://doi.org/10.57161/z2023-05-05

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 29, 05/2023

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Hintergrund

Eine mögliche Freizeitgestaltung ist der Besuch von kulturellen Veranstaltungen. Die Schweizer Kulturlandschaft ist vielfältig: Vom Konzert- oder Ausstellungsbesuch über Lesungen bis hin zum Tanzworkshop ist alles möglich. Jedoch ist es nicht für alle selbstverständlich, vom kulturellen Angebot profitieren zu können. Menschen mit Behinderungen sind in verschiedenen Bereichen mit Barrieren konfrontiert. Hier setzt die Arbeit der Fachstelle Kultur inklusiv an. Diese setzt sich dafür ein, Kulturangebote für Menschen mit Behinderungen zugänglicher zu gestalten, indem sie Kulturinstitutionen aller Sparten und Grössen sensibilisiert, berät und vernetzt.[1]

Das aktuell laufende Projekt «Netzwerkaufbau inklusive Kultur» soll die Schaffung bedürfnisgerechter Kulturangebote in ausgewählten Regionen der Schweiz vorantreiben. In einem partizipativen Prozess mit mehreren Workshops entwickeln dabei Expert:innen mit und ohne Behinderungen aus den Bereichen Kultur und Soziales Ideen für eine inklusive Zukunft im Kulturbereich. Menschen mit Behinderungen sollen dabei eine Stimme erhalten, um kulturelle Freizeit gemäss ihren Vorlieben, Wünschen und Bedürfnissen mitgestalten zu können.

Begrifflichkeiten: Inklusion – soziales Modell von Behinderung

«Inklusion» von Menschen mit Behinderungen meint gemäss Behindertenrechtskonvention die Möglichkeit zur uneingeschränkten Teilhabe an allen Aktivitäten des gesellschaftlichen Lebens (BRK, o. J.). Dieser Vision verpflichtet sich auch die Fachstelle Kultur inklusiv. Sie sieht Behinderungen im Sinne des sozialen Modells (DISTA, o. J.) nicht als individuelles Schicksal an, sondern als Resultat gesellschaftlicher Ausschlussprozesse. Diese Prozesse drängen Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen an den Rand der Gesellschaft und reduzieren sie auf ihre Einschränkungen. Dabei sind Menschen mit Behinderungen aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen Fachpersonen für Inklusion. Ihre persönliche Lebensgeschichte befähigt sie zur Identifikation und somit auch zur Mithilfe beim Abbau von bestehenden Barrieren. Dementsprechend sollten sie als Expert:innen eine ihren Kompetenzen und Fähigkeiten entsprechende Rolle bei der Planung und Durchführung inklusiver Projekte einnehmen.

Die Fachstelle Kultur inklusiv ist ein Projekt, welches Mitte 2014 im Kanton Bern unter der Trägerschaft der Fachstelle Gleichstellung von Menschen mit Behinderung der Stadt Bern ins Leben gerufen wurde. Im Jahr 2016 übernahm Pro Infirmis die Trägerschaft. Damals begann die etappenweise Ausweitung auf die ganze Schweiz. Ursprünglich als vierjähriges Projekt angelegt, beschloss Pro Infirmis 2019 eine Verlängerung um weitere vier Jahre. Seither wurde das Angebot sukzessive erweitert, sodass das fünfköpfige, mittlerweile selbstorganisierte Team heute Kulturinstitutionen, Kulturförderstellen und Menschen mit Behinderungen fachlich unterstützt. Die Vergabe des Labels Kultur inklusiv an Kulturinstitutionen, welche sich einem nachhaltigen, mehrjährigen Prozess hin zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen verpflichten, ist ebenfalls Teil der Arbeit der Fachstelle.

Arten von Behinderungen und damit verbundene Barrieren

Je nach Art der Einschränkung existieren unterschiedliche Barrieren in Bezug auf die Zugänglichkeit von Kulturangeboten. Wichtig bei der Planung und Umsetzung ist das konsequente Mitdenken der unterschiedlichen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen. Bauliche Gegebenheiten stellen für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen ein Hindernis dar, wogegen für Menschen mit psychischen Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Umgang Stolpersteine liegen können. Kognitive Einschränkungen erschweren den Zugang zu komplexen inhaltlichen Themen und Sinnesbehinderungen verändern das Erleben aufgrund reduzierter oder fehlender Eindrücke. Eine weitere, oft unausgesprochene Barriere kann der finanzielle Aspekt sein, da Kulturangebote meist kostenpflichtig sind. Dadurch erhöhen sich die Hürden für einen Kulturbesuch zusätzlich. Ebenfalls ein Hindernis sind organisatorische Anforderungen, sei es die Planung der Anreise, das allfällig notwendige Organisieren einer Assistenzperson oder auch «nur» das Aushalten der Schlange vor der Billettkasse.

Netzwerkaufbau inklusive Kultur

Herzstück des «Netzwerkaufbaus inklusive Kultur» ist die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen als Expert:innen in eigener Sache. Die Projektleitung wurde aus diesem Grund von einer Mitarbeiterin der Fachstelle Kultur inklusiv im Tandem mit einer Mitarbeiterin von Sensability für die Deutschschweizer Projekte in St. Gallen (2022) und Zürich (2023) beziehungsweise ID GEO für das Westschweizer Projekt in Neuenburg (2022–2023) bestritten. ID GEO und Sensability sind Vereine, welche mehrheitlich von Menschen mit Behinderungen geführt werden. Sie werden als bezahlte Kursleitende und Expert:innen in eigener Sache eingesetzt, insbesondere zur Sensibilisierung von Arbeitgebenden. Andere Mandate sind ebenfalls möglich.

In einem Prozess, der über drei bis vier Workshops hinweg dauerte, wurde Handlungsbedarf formuliert und nach Lösungen gesucht, um Kulturangebote künftig inklusiv gestalten zu können. Für die inhaltliche Zusammenstellung der Workshops holte sich die Fachstelle Kultur inklusiv Unterstützung von Design-Thinking-Spezialist:innen von Design.Denken für die Projekte in St. Gallen und Zürich sowie vom Living Lab Handicap für das Neuenburger Projekt. Design Thinking ist eine Problemlösetechnik, welche kreative und innovative Lösungsprozesse anstossen soll. Ein Problem – im aktuellen Projekt die eingeschränkte Zugänglichkeit von Kulturangeboten für Menschen mit Behinderungen – wird erst gemeinsam mit der Zielgruppe analysiert, um anschliessend in einem ergebnisoffenen, kollaborativen Prozess Lösungswege zu erarbeiten.

An den Workshops diskutierten je rund 35 Personen: Vertretende von Kulturinstitutionen, der Kulturförderung, Institutionen aus dem Sozialbereich sowie Menschen mit Behinderungen begegneten sich auf Augenhöhe, sprachen über Bedürfnisse, Wünsche und Barrieren in der Kulturlandschaft.

Hauptaugenmerk lag auf der Schaffung von Austauschmöglichkeiten. Die Workshops fanden monatlich an einem Nachmittag statt und dauerten jeweils rund vier Stunden. Die Pausenzeiten ermöglichten informellen Austausch und dienten der Vernetzung. Jedes regionale Netzwerkprojekt wurde mit einem Netzwerktreffen für alle Interessierten aus der Region abgeschlossen.

Zugänglichkeitsmassnahmen während der Projekte

Bei der Planung und Umsetzung der Workshops sowie der regionalen Netzwerktreffen galt es, allen Teilnehmenden zu ermöglichen, ihre persönliche Perspektive einzubringen. Zugänglichkeit beginnt dabei nicht erst beim Anlass, sondern schon in der Planungsphase. Die Bestimmung barrierefreier, gut erreichbarer Veranstaltungsorte war eine Herausforderung für das Projektteam. Barrierefreie Verbindungen im öffentlichen Verkehr, Parkplätze und sanitäre Anlagen für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen sind (noch) keine Selbstverständlichkeit.

Vor und während des Projekts wurde auf eine möglichst barrierefreie Kommunikation geachtet. Wenn möglich wurde in Dokumenten und E-Mails einfache oder Leichte Sprache[2] eingesetzt. Die Projektleitenden waren im Vorfeld für Fragen präsent, assistierten beim Anmeldeprozess und standen im Fall von Anliegen oder Bedenken unterstützend zur Verfügung.

Partizipative Projekte sind in der Vorbereitung wie auch in der Durchführung zeit- und personalintensiv, weswegen eine sorgfältige Planung erforderlich ist. Eine ausreichende Anzahl Assistenzpersonen vor Ort erlaubte es, flexibel auf Anregungen und Bedürfnisse reagieren zu können. Expert:innen mit und ohne Behinderungen, die als Selbstvertretende oder im Rahmen einer selbstständigen Tätigkeit an den Workshops teilgenommen haben, erhielten eine Aufwandsentschädigung. Dies waren mehrheitlich Teilnehmende, welche mit einer Behinderung leben. Sie sollten dadurch eine finanzielle Wertschätzung für ihr Mitdenken und ihre Inputs erhalten. Damit während der Workshops alle zu Wort kommen konnten, musste ein ausreichend grosses Zeitbudget (einschliesslich Pausen) eingerechnet werden.

Alle Workshops und Treffen wurden relaxed[3] gestaltet, das heisst, es stand ein Rückzugsraum zur Verfügung und die Teilnehmenden hatten jederzeit die Möglichkeit, die Veranstaltung zu verlassen. Ein Lernprozess aus den drei Projekten war, dass die Unterscheidung von Vertretenden aus der Kultur, dem Sozialbereich sowie von Menschen mit Behinderungen nicht immer einfach ist. Verschiedene Teilnehmende kamen zum Schluss, dass sie sich mehreren Rollen zugehörig fühlen. Der Fokus wurde auf die Kompetenzen und Fähigkeiten der einzelnen Personen gelegt, ohne dabei die individuellen Bedürfnisse aus den Augen zu verlieren.

Vereinsgründung «Kultur für alle» St. Gallen

Als ein «handfestes» Outcome aus dem ersten Netzwerkprojekt in der Ostschweiz ist die Gründung des Vereins Kultur für alle zu nennen. Teilnehmende der Workshops haben sich zu einem Verein zusammengeschlossen, der sich für eine inklusive Kultur in der Ostschweiz einsetzen möchte. Die Fachstelle Kultur inklusiv steht dem Vorstand im Hintergrund noch beratend zur Verfügung. Die Vision ist jedoch ein unabhängiges, regionales Netzwerk für inklusive Kultur in der Ostschweiz. Das Projekt in Neuenburg wurde mit einem Netzwerktreffen Ende Januar 2023 abgeschlossen. Auch hier zeichnet sich eine eigenständige, regionale Fortsetzung der Bemühungen um eine inklusive Kulturlandschaft ab.

Die Netzwerkprojekte sollen nachhaltige Veränderungen in der Kulturlandschaft bewirken, sodass Menschen mit Behinderungen konsequent im Kulturbereich mitgedacht werden, als Publikum wie auch als Kunstschaffende, Kulturexpert:innen und Mitarbeitende. Die Vereinsgründung in St. Gallen, wie auch Fortführung des Netzwerks in Neuenburg zeigen, dass dies geglückt ist.

Andrea Schönhofer

MSc Psychologie

Koordination Kultur inklusiv Bern

schoenhofer@kulturinklusiv.ch

Literatur

DISTA (Disability Studies Austria) (o. J.). Soziales Modell von Behinderung. dista.uniability.org/glossar/soziales-modell-von-behinderung [Zugriff am 12.06.2023]

UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) (o. J.). Teilnahme am kulturellen Leben. Praetor. www.behindertenrechtskonvention.info/teilnahme-am-kulturellen-leben-3939

  1. Für nähere Angaben zu den Leistungen der Fachstelle: www.kulturinklusiv.ch

  2. www.buero-leichte-sprache.ch/

  3. diversity-arts-culture.berlin/woerterbuch/relaxed-performance