Inklusive Freizeit in der Kinder- und Jugendarbeit

Sichtweisen der Fachpersonen aus der Praxis und der Jugendlichen mit geistigen Behinderungen

Noemi Heister, Stefanie Köb und Peter Zentel

Zusammenfassung
In diesem Artikel werden die Ergebnisse einer Studie zur Freizeitgestaltung von Jugendlichen mit geistigen Behinderungen vorgestellt. In Interviews wurden Fachkräfte der Behindertenhilfe, der Kinder- und Jugendarbeit sowie Jugendliche mit geistigen Behinderungen befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Teilhabe von Jugendlichen mit geistigen Behinderungen eingeschränkt ist. Die Angebote der Behindertenhilfe sind meist nicht inklusiv und eher fürsorglich geprägt. Ein Ansatz, um Freizeitangebote inklusiver zu gestalten, liegt in der regionalen Vernetzung der Behindertenhilfe mit der Kinder- und Jugendarbeit. Dadurch können Expertise, Angebote und Ressourcen gegenseitig sicht- und nutzbar gemacht werden.

Résumé
Cet article présente les résultats d'une étude sur les loisirs des jeunes ayant une déficience intellectuelle. Lors d'entretiens, des spécialistes des domaines du handicap, de l'enfance et de la jeunesse, ainsi que des jeunes ayant une déficience intellectuelle ont été interrogés. Les résultats montrent que la participation des jeunes ayant une déficience intellectuelle est limitée. Les offres d’accompagnement des personnes en situation de handicap ne sont généralement pas inclusives, mais ont plutôt un caractère surprotecteur. Une approche permettant de rendre les loisirs plus inclusifs consiste à mettre en réseau au niveau régional l’accompagnement des personnes en situation de handicap avec les prestations destinées aux enfants et aux jeunes. Ainsi, les connaissances, les offres et les ressources sont mieux connues par les différents partenaires et peuvent être utilisées mutuellement.

Keywords: kognitive Beeinträchtigung, Partizipation, soziale Interaktion, Inklusion, Freizeit, Barrierefreiheit / déficience intellectuelle, participation, interaction sociale, inclusion, loisir, accessibilité

DOI: https://doi.org/10.57161/z2023-05-02

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 29, 05/2023

Creative Common BY

Freizeit und Jugendliche mit geistigen Behinderungen – ein Literaturüberblick

Der Artikel 30 der Behindertenrechtskonvention (BRK) fordert die Vertragsstaaten dazu auf, Massnahmen zu ergreifen, um eine gleichberechtigte, selbstbestimmte und vielfältige Freizeitgestaltung von Menschen mit Behinderungen in sozialer Partizipation zu sichern. Gleichzeitig vergrössert sich der Freizeitsektor stetig. Trotzdem nehmen Kinder und Jugendliche mit geistigen Behinderungen immer noch nicht selbstbestimmt und gleichberechtigt teil an Bildung, Kultur, Freizeit und Sport. In der Theorie werden verschiedene Faktoren genannt, die das Freizeit(er)leben von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit geistigen Behinderungen einschränken können. Dazu zählen Teilhabefaktoren auf persönlicher und struktureller Ebene wie zum Beispiel eingeschränkte Bewegungs-, Mobilitäts- und Kommunikationsfähigkeiten, reduzierte (selbstbestimmte) freie Zeit, mangelnde finanzielle Ressourcen oder geringe soziale Vernetzung beziehungsweise wenige Freundschaften. Weitere mögliche Gründe sind die Art, Schwere und Sichtbarkeit der Behinderung, geringe Quantität und Qualität der Freizeitangebote unter Beachtung des Sozialraumes, Einstellungen von Freizeitanbietenden hinsichtlich Menschen mit geistiger Behinderung und Inklusion sowie die Abhängigkeit von Schul- und Berufsausbildung (Markowetz, 2000; Schröder, 2006; Tillmann, 2015; Schuck, 2019; Heister & Köb, 2022).

Jugendliche mit geistigen Behinderungen haben grundsätzlich die gleichen Vorlieben und Wünsche für Freizeitaktivitäten wie ihre Peers ohne Behinderung (Melboe & Ytterhus, 2017). Jedoch fehlt ihnen der Zugang zu institutionell organisierten Freizeitaktivitäten. Aus diesem Grund können sie ihre Präferenzen nur eingeschränkt ausleben, was sich negativ auf ihr Wohlbefinden auswirkt (Badia et al., 2013). Insgesamt scheint das Freizeiterleben im Sozialraum für Jugendliche reduziert zu sein (Markowetz, 2000).

Schröder (2006) untersuchte in ihrer Dissertation das Freizeitverhalten und -erleben von Jugendlichen mit geistigen Behinderungen. Dazu befragte sie die Jugendlichen sowohl zu ihren ausgeübten Freizeitbeschäftigungen als auch zu ihren Freizeitpartner:innen und -orten. Sie stellt fest, dass das Freizeitleben im gesellschaftlich-öffentlichen Sozialraum für Kinder und Jugendliche mit geistigen Behinderungen herausfordernd zu sein scheint. Die befragten Jugendlichen nennen als häufigste Freizeitbeschäftigungen sportliche und mediale Aktivitäten. Soziale Interaktionen mit Peers kommen jedoch nur selten zustande. Die Studie zeigt, dass sich etwa 59 Prozent der befragten Jugendlichen in ihrer Freizeit langweilen. Zudem verbringen 33 Prozent der befragten Jugendlichen ihre Freizeit nicht mit Freund:innen und etwa 24 Prozent sind nicht in den Sozialraum integriert.

Weitere Studien zeigen, dass Freizeitaktivitäten von Jugendlichen mit geistigen Behinderungen vorwiegend einen eher passiven Charakter aufweisen und von medialer Art sind. Es handelt sich dabei zum Beispiel um Aktivitäten wie Fernsehen oder Musik hören (Buttimer & Tierney, 2005; Badia et al., 2013). Oftmals gehen die Jugendlichen ihren Freizeitbeschäftigungen allein und im häuslichen Umfeld nach (Buttimer & Tierney, 2005; Badia et al., 2013). Als häufigste Teilhabebarrieren für den Lebensbereich Freizeit nennen die Eltern der befragten Jugendlichen fehlende Freundschaften, das Gefühl des «Nicht-Willkommen-Seins» und fehlende freizeitorientierte Handlungskompetenzen wie zum Beispiel eingeschränkte soziale, kommunikative und mobilitätsbezogene Kompetenzen (Buttimer & Tierney, 2005).

Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit

Kinder- und Jugendarbeit (KJA) ist ein Angebot, das sich an alle Kinder und Jugendlichen wendet – unabhängig von ihren individuellen Merkmalen und Voraussetzungen. «Dies ist ein weitreichender Anspruch, denn Jugend ist vielfältig. Teil dieser Vielfalt sind auch Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen bzw. Behinderungen» (Mairhofer et al., S. 92). Folglich ist Inklusion ein wichtiges Ziel der Kinder- und Jugendarbeit, gleichzeitig aber auch eine Herausforderung (AGJ, 2019). Die Umsetzung von Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit kann dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche ohne Behinderung positive Kontakte mit Menschen mit Behinderung schliessen und negative Einstellungen ihnen gegenüber abbauen (Mairhofer et al., 2022). Die nach Rauschenbach et al. (2010) beschriebenen Potenziale der Integration, Vergemeinschaftung, Verantwortung und Bildung der Kinder- und Jugendarbeit implizieren grundsätzlich ein hohes Inklusionspotenzial, müssen aber auch in der Praxis umgesetzt werden (u. a. Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe, 2019). Es besteht bisher jedoch ein deutlicher Kontrast zwischen den Initiativen beziehungsweise den Inklusionsprojekten und den empirischen Befunden zur inklusiven Kinder- und Jugendarbeit (Meyer, 2020). Obwohl in der Praxis bereits viele Inklusionsprojekte umgesetzt werden, zeichnen die wenigen Studien zum Thema Inklusion ein ähnliches Bild. Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass Jugendliche mit geistigen Behinderungen wenig oder gar nicht bei regelmässigen Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit anzutreffen sind.

Freizeitgestaltung von Jugendlichen mit geistigen Behinderungen in Heidelberg

Im Jahr 2020 startete das von der Stiftung Aktion Mensch geförderte Praxisforschungsprojekt «Mit den Augen von Jugendlichen – Was braucht inklusive Kinder- und Jugendarbeit?» An diesem Projekt sind die HAW Hamburg, die Bundesvereinigung Lebenshilfe sowie die Pädagogische Hochschule Heidelberg beteiligt. Es will dazu beitragen, dass die Interessen und Bedürfnisse junger Menschen mit geistigen Behinderungen von der Kinder- und Jugendarbeit berücksichtigt werden. Im Projekt wird die Kinder- und Jugendarbeit multiperspektivisch beleuchtet. Dafür wurden sowohl Fachkräfte der Kinder- und Jugendarbeit, der Behindertenhilfe als auch Jugendliche mit geistigen Behinderungen hinsichtlich der Bedarfe, Wünsche und Forderungen einer inklusiven Kinder- und Jugendarbeit befragt. Nachfolgend werden die zwei Heidelberger Teilstudien des Projektes zusammengefasst und vorgestellt. Zunächst werden die Ergebnisse der Interviews mit drei Mitarbeitenden der Kinder- und Jugendarbeit sowie der Behindertenhilfe präsentiert. Anschliessend werden die Sichtweisen, Freizeitwünsche, -bedürfnisse und -interessen von den zehn befragten Jugendlichen mit geistigen Behinderungen vorgestellt.

Sichtweisen von Expert:innen der Kinder- und Jugendarbeit und der Behindertenhilfe

Aus der Befragung der Fachpersonen der Kinder- und Jugendarbeit lassen sich verschiedene Erkenntnisse ableiten. Ein zentrales Ergebnis ist, dass die Fachkräfte sowohl der Behindertenhilfe als auch der Kinder- und Jugendarbeit ihre Angebote als grundsätzlich offen für alle, also inklusiv verstehen. Jedoch werden die inklusiven Angebote nicht entsprechend genutzt. Nur wenige Jugendliche ohne Behinderung besuchen die inklusiven Veranstaltungen der Behindertenhilfe und umgekehrt nehmen an den regelmässigen Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit nur selten Jugendliche mit Behinderungen teil. Die Fachkräfte sehen zwei Gründe dafür: Erstens müssen die Eltern den Zugang zu den Angeboten ermöglichen, das heisst, sie müssen die Angebote der Kinder- und Jugendarbeit kennen und diese als Freizeitgestaltung für ihre Kinder in Erwägung ziehen. Das passiert nach Aussage der Fachkräfte der Kinder- und Jugendarbeit noch zu selten. Zweitens bietet die Behindertenhilfe nur selten Angebote an, die ausschliesslich an Jugendliche gerichtet sind. «Also man muss schon sagen, die meisten Angebote im Treffbereich sind eher für Erwachsene. Für Kinder und Jugendliche haben wir ein paar ‹Treffs›, die wir auch anbieten», so die Aussage einer Fachkraft der Behindertenhilfe. Insgesamt scheint es eher wenig Freizeitangebote für Jugendliche mit geistigen Behinderungen zu geben. Zudem wird aus Perspektive der Kinder- und Jugendarbeit berichtet, dass viele inklusive Angebote zeitlich befristet sind.

Viele inklusive Ferienprogramme werden von Trägern der Kinder- und Jugendarbeit ausgerichtet, in Kooperation mit der Stadt oder seltener in Kooperation mit der Behindertenhilfe. Eine Fachperson erzählt von einem inklusiven Malkurs in den Sommerferien. Um diesen durchführen zu können, wurden Assistent:innen über einen Verein der Behindertenhilfe akquiriert.

Und da ist Inklusion auch immer sehr gefragt. Wir haben jetzt aktuell in den Sommerferien zum Beispiel einen Kurs dabei, da sind alleine drei Jugendliche mit Behinderung drin. Den haben wir dann natürlich auch personell ein bisschen aufgestockt.

Fachkräfte der Kinder- und Jugendarbeit berichten weniger von der Inklusion als von der Integration einzelner Besucher:innen mit Behinderung: «Nur machen wir heute Einzelintegration, weil so viele Jugendliche mit Behinderung kommen nicht gleichzeitig.» Insgesamt wird deutlich, dass die vorhandenen inklusiven Angebote den Bedarf nicht decken, wie die Aussage einer Fachkraft der Kinder- und Jugendarbeit zeigt:

Also was mir fehlt, ist wirklich noch mehr Inklusion. Also dass es sich nicht nur auf die Behinderten konzentriert. Also alle diese Aktivitäten, die jetzt auch meine Tochter mitmacht, die haben mal mit was Inklusivem angefangen, aber jetzt sind es nur noch Behinderten-Gruppen.

Verschiedene Barrieren erschweren es, inklusive Freizeitangebote der Kinder- und Jugendarbeit zu gestalten, zu finden und zu nutzen und somit Inklusion zu ermöglichen. Als grosse Barriere identifizieren die Expert:innen politisch-systemische Rahmenbedingungen und die Finanzierung von Angeboten. Auch ein Mangel an gut ausgebildetem Personal kann eine Barriere sein. Denn nur mit genügend Fachkräften können die Bedürfnisse der Besuchenden erfüllt und Netzwerkarbeit betrieben werden. Zu wenig Personal erschwert auch Kooperationen und die gemeinsame Ausgestaltung von inklusiver Jugendarbeit. Mit dem Einsatz von ehrenamtlichen Assistent:innen wird versucht, diesem Mangel entgegenzuwirken. Ohne ehrenamtliche Assistent:innen, die eine Brückenfunktion zwischen den Jugendlichen mit und ohne Behinderungen übernehmen können, wären viele Angebote nicht inklusiv nutzbar. Schliesslich bezeichnen Expert:innen der Kinder- und Jugendarbeit auch fehlendes Wissen über behinderungsspezifische Anforderungen als Barriere. Aus diesem Grund sehen sie Schulungen zum Thema Inklusion und Kooperationen auch für ehrenamtliche Helfer:innen als notwendig an.

Damit Inklusion funktioniert, scheint der Wille der Kinder- und Jugendarbeit, bestehende Angebote zu öffnen, ausschlaggebend zu sein. Die Fachkräfte der Kinder- und Jugendarbeit identifizieren den Wunsch nach Kooperationen mit dem «Nachbarsystem Behindertenhilfe» und den Wissenstransfer als Bedingungen für Inklusion. Es zeigt sich, dass Jugendliche mit (geistigen) Behinderungen eher die Angebote der Jugendarbeit nutzen, wenn diese kooperativ geplant und umgesetzt werden. Alle Fachkräfte berichten, dass ein grosser Bedarf nach Wissenstransfer und Austausch zwischen den beiden Systemen besteht, jedoch die personellen und zeitlichen Ressourcen die Kooperations- und Netzwerkarbeit erschweren.

Eine weitere Herausforderung in der Umsetzung von inklusiven Freizeitangeboten sehen Expert:innen darin, dass sich die Interessen von Jugendlichen mit und ohne geistige Behinderung unterschiedlich entwickeln. Heranwachsende mit geistigen Behinderungen könnten von ihren Peers als kindlich wahrgenommen und aufgrund von Äusserlichkeiten gemobbt werden: «Die Nichtbehinderten, die dann sehr wohl auf Äusserlichkeiten gehen und Mobbing ist auch immer ein Thema und so.»

Die Interviews zeigten, dass die Behindertenhilfe und die Kinder- und Jugendarbeit die Eltern unterschiedlich stark einbeziehen. Während sich die Kinder- und Jugendarbeit als elternfreier Raum versteht, betonen Fachkräfte der Behindertenhilfe die zentrale Rolle der Eltern: Oft sind sie es, die ihren Kindern den Zugang zu Freizeitangeboten überhaupt erst ermöglichen.

Sichtweisen von Jugendlichen mit geistigen Behinderungen

Für die Jugendlichen mit geistigen Behinderungen bedeutet Freizeit, dass «man mal nichts für die Schule machen muss». Freizeit wird zudem mit positiven Emotionen verknüpft: In dieser Zeit kann man Dinge tun, «die halt Spass machen»: zum Beispiel «abhängen, rausgehen», «spielen», sich mit Freunden treffen, sportlichen, musikalischen sowie medialen Aktivitäten nachgehen. In ihrer Freizeit nutzen die Jugendlichen Tablets, um Filme zu schauen, den Computer, um im Internet zu surfen, sie telefonieren und sehen fern. Häufig wird das Handy genutzt, um sich mit Freund:innen zu verabreden.

Die Jugendlichen erzählen, dass sich ihr Freizeitverhalten während der Covid-19-Pandemie verändert habe. Die Angebote der Kinder- und Jugendarbeit und der Behindertenhilfe hätten in den letzten zwei Jahre nicht mehr stattgefunden, weshalb sie ihre Freizeit häufig als langweilig empfanden. «Aber ja, dass man […] zum Beispiel nicht aus der Bude oder so darf, so langweilt man sich den ganzen Tag oder so.»

Die Jugendlichen haben unterschiedliche Gründe dafür, warum sie Freizeitangebote besuchen. Wichtig neben den positiven Emotionen (bspw. Spass und Freude) ist der Erwerb neuer Fähigkeiten und Fertigkeiten: «[D]ie Übung, die man machen kann, bringt [mich] ja auch im Alltag weiter. […] Man ist kräftiger oder […] man lernt halt so praktische Sachen.» Ein weiterer wichtiger Grund scheint es zu sein, soziale Zugehörigkeit zu erleben und soziale Kontakte und Freundschaften zu knüpfen und zu festigen: «Dass ich mit den anderen Kindern hier Spiele spielen kann und was mit denen machen kann. Zu Hause hätte ich dann nämlich nichts gemacht ausser im Bett gelegen.» Verschiedene Jugendliche berichten zudem, dass sie ihre Freizeit lieber ohne Erwachsene erleben und gestalten. Das zeigt sich an Aussagen wie «nur wir Kinder» oder: «Unter uns. Ohne Erwachsene ist viel besser. Hat man mehr Spass […] und so hat man mehr Freiheit».

Die Jugendlichen berichten, dass sie Freizeitangebote selbstbestimmt auswählen können: «Früher haben meine Eltern entschieden, aber jetzt entscheide ich auch schon mal selbst.» Für die Angebote angemeldet werden die Jugendlichen jedoch häufig von den Eltern, zum Beispiel für Ferienprogramme der Behindertenhilfe. Erwachsene scheinen eine selbstbestimmte Freizeit einzuschränken. Einige Jugendliche berichten, dass sie ihre Freizeit deshalb lieber ohne Erwachsene verbringen. Sie erzählen, dass sie in den Angeboten selbstbestimmt handeln und teilhaben können. Die Jugendlichen finden es gut, dass sie alles mitmachen können, aber nicht müssen. Zudem schätzen sie, dass es viel Abwechslung gibt: «[Ich bin] gerne hier. Ich kann hier alles im Raum machen, alles. Und im Keller. Alle Sachen.»

Mobilität kann den Zugang zu Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit behindern oder ermöglichen. Der Zugang zu und die Nutzung von Angeboten wird erleichtert, wenn die Einrichtungen nahe am Wohnort der Jugendlichen liegen. So berichten einige Jugendliche, dass sie ein Angebot an ihrem Wohnort nutzen und sie dieses zu Fuss erreichen können. Wenn das Angebot nicht zu Fuss oder mit dem Fahrrad erreichbar ist, hängt der Zugang massgeblich von den Eltern ab. Die Jugendlichen erzählen, dass Familienmitglieder sie mit dem Auto, Bus oder Rad zum Angebot bringen oder begleiten. Auch Peers und Geschwister sichern den Zugang zu Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit. Sie vermitteln Informationen zu den Angeboten und nehmen die Jugendlichen mit Behinderungen zu den Angeboten mit. Dadurch wird der Zugang erleichtert.

Nicht nur die Mobilität kann einschränkend wirken. Oftmals verfügen die Jugendlichen nicht über genügend freie Zeit, weil sie aufgrund der Ganztagesschule oder Aufgaben in Wohngruppen zu beschäftigt sind. Vielfach fehlen ihnen auch Informationen über Freizeitangebote. Die Jugendlichen berichten, dass sie abgesehen von den von ihnen genutzten Angeboten wenige bis keine anderen Angebote kennen.

Die Jugendlichen wünschen sich mehr offene Einrichtungen und Angebote an ihrem Wohnort, in denen sie sich verwirklichen und neue Aktivitäten ausprobieren können. Zum Beispiel findet ein Jugendlicher, dass es zu wenige inklusive Angebote gibt. Die Jugendlichen wünschen sich klassische Angebote der Kinder- und Jugendarbeit, zum Beispiel zelten zu gehen und am Lagerfeuer zu sitzen, an Tagesausflügen oder Reisen teilzunehmen: «Das letzte Mal war Gardasee angeboten. Aber das war halt nur was Einmaliges und sowas hätte ich gerne öfter.»

Fazit

Die Ergebnisse des Projektes decken sich grösstenteils mit den Erkenntnissen aus früheren Studien: Die Freizeitoptionen für Jugendliche mit geistiger Behinderung sind eingeschränkt und geprägt von Abhängigkeiten. Die Eltern sind für den Zugang zu Freizeitangeboten verantwortlich, was im Umkehrschluss heisst, dass Jugendliche ihre Freizeit nur bedingt selbstbestimmt gestalten können. Zudem zeigt die Studie, dass Jugendliche mit geistigen Behinderungen grundsätzlich die gleichen Bedürfnisse in Bezug auf Freizeit haben wie Jugendliche ohne geistige Behinderung. Deutlich wird ferner, dass sie sich einen Raum wünschen, in dem sie mit anderen Jugendlichen allein sind – ohne Eltern und ohne Erwachsene. Weiterführende Erkenntnisse ermöglichen aus unserer Sicht die Ergebnisse der Expert:innenbefragung. Zwar nennen auch sie grundsätzliche Schwierigkeiten wie die mangelnde Finanzierung oder die unzureichende Qualifikation von Mitarbeitenden, die zumindest aus der Perspektive der Wissenschaft nicht schnell verändert werden können (auch wenn dies wünschenswert wäre). Potenzial birgt aber die verstärkte Kooperation der Kinder- und Jugendarbeit und der Behindertenhilfe. Es ist deutlich geworden, dass die jeweilige Expertise diejenige der anderen Seite bereichern und dazu führen kann, dass mehr Optionen für eine inklusive Kinder- und Jugendarbeit entstehen.

Noemi Heister
Wissenschaftliche Mitarbeiterin

Pädagogische Hochschule Heidelberg

heister@ph-heidelberg.de

Dr. Stefanie Köb
Akademische Rätin

Pädagogische Hochschule Heidelberg

koeb@ph-heidelberg.de

Prof. Dr. Peter Zentel
Ludwig-Maximilians-Universität München

peter.zentel@edu.lmu.de

Literatur

Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) (2019). Inklusion in der Jugendarbeit. 10 Jahre UN-BRK – ein Blick auf die Entwicklungen in der und Erwartungen an die Jugendarbeit. Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe. Berlin.

Badia M., Orgaz M. B., Verdugo M. A. & Ullan A. M. (2013). Patterns and determinants of leisure participation of youth and adults with developmental disabilities. Journal of Intellectual Disabilities Research57 (4), 319–332. https://doi.org/10.1111/j.1365-2788.2012.01539.x

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Rauschenbach, T., Borrmann, S., Düx, W., Liebig, R., Pothmann, J. & Züchner, I. (2010). Lage und Zukunft der Kinder- und Jugendarbeit in Baden-Württemberg. Eine Expertise. https://sozialministerium.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/m-sm/intern/downloads/Downloads_Kinder-Jugendliche/Expertise_Kinder-u-Jugendarbeit-in-BW_2010.pdf

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Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention, BRK), vom 13. Dezember 2006, durch die Schweiz ratifiziert am 15. April 2014, in Kraft seit dem 15. Mai 2014, SR 0.109.