Übers Sterben reden

Organisationsethische Fragen in der Begleitung von Menschen mit Behinderungen am Lebensende

Sabine Schäper

Zusammenfassung
Der Beitrag handelt von der Begleitung von Menschen mit Behinderungen am Lebensende. Ergebnisse aus dem Projekt «Palliative Care und hospizliche Begleitung von Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung» verdeutlichen, wie wichtig die Organisationskultur in Wohneinrichtungen für die Partizipation ist. Erfahrungen von Fachpersonen und Bewohner:innen zeigen, wie mit der Einwilligung und der Einwilligungsfähigkeit umgegangen wird. Der Beitrag bettet diese Frage in rechtliche Reformen ein, die durch die UN-Behindertenrechtskonvention in verschiedenen Ländern angestossen wurden.

Résumé
Cet article traite de l'accompagnement des personnes en situation de handicap en fin de vie. Les résultats du projet « Palliative Care und hospizliche Begleitung von Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung » (« Soins palliatifs et accompagnement institutionnel des personnes ayant une déficience intellectuelle et un polyhandicap ») mettent en évidence l'importance de la culture organisationnelle des institutions résidentielles sur la participation. Les expériences du personnel spécialisé ainsi que des résidentes et résidents montrent comment composer avec le consentement et la capacité à consentir. L'article inscrit cette question dans le cadre des réformes juridiques initiées dans différents pays par la Convention des Nations Unies relative aux droits des personnes handicapées.

Keywords: kognitive Beeinträchtigung, Schwer- und Mehrfachbehinderung, Tod, Palliative Care, Selbstbestimmung, Ethik / déficience intellectuelle, polyhandicap, mort, soins palliatifs, autodétermination, éthique

DOI: https://doi.org/10.57161/z2023-04-06

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 29, 04/2023

Creative Common BY

Menschen mit Behinderungen und die Begleitung am Lebensende

Menschen mit kognitiven und komplexen Behinderungen erreichen in den letzten Jahrzehnten zunehmend ein höheres Lebensalter. In vielen europäischen Ländern sind sie jedoch im System der palliativen Versorgung und hospizlichen Begleitung weiterhin unterrepräsentiert. Darauf weist unter anderem die Europäische Assoziation für Palliative Care (EAPC) hin (Tuffrey-Wijne & McLaughlin, 2015). Die Behindertenrechtskonvention (BRK) fordert von den Vertragsstaaten eine gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderungen auf gleichem Qualitätsniveau wie sie der Allgemeinbevölkerung zugutekommt (Art. 25 BRK). Aus diesem Grund geraten die Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen in der Gesundheitsversorgung zunehmend in den Fokus der Forschung. Dem folgten Gesetzesinitiativen zu einer besseren palliativen Versorgung von Menschen mit Behinderungen: Sowohl das Hospiz- und Palliativgesetz in Deutschland (Bundesministerium für Gesundheit, 2016) als auch die «Nationale Strategie Palliative Care 2013–2015» (Bundesamt für Gesundheit [BAG] & Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren [GDK], 2012) fokussieren Menschen mit Behinderungen als Zielgruppe der Palliativversorgung (Wicki & Meier, 2015). Der Bericht des Bundesrates zur palliativen Versorgung in der Schweiz zeigt, dass sich nur ein Drittel der Wohneinrichtungen für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen in der Lage sieht, «Menschen in komplexen Situationen und intensivem Pflegebedarf bis zum Lebensende zu pflegen und zu betreuen» (Bundesamt für Gesundheit, 2020, S. 50).

Seit den 2000er-Jahren ist die palliative Versorgung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen auch zunehmend Gegenstand der Forschung (Tuffrey-Wijne, 2003). Qualitative Studien zur Implementierung von Palliative Care machen auf die Bedeutung organisationaler Vorkehrungen aufmerksam (Voss et al., 2021; Dunkley & Sales, 2014). Die Autor:innen der Studien empfehlen folgende Innovationen für eine gelingende Begleitung von Menschen mit Behinderungen am Lebensende:

So entstand 2017 das Verbundprojekt «Palliative Care und hospizliche Begleitung von Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung» (Palliative Care for People with Intellectual and multiple Disabilities, PiCarDi), welches das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert. PiCarDi hat die Aufgabe, die praktische Umsetzung der palliativen Begleitung in den Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderungen zu untersuchen. In einer ersten Bestandesaufnahme wurde quantitativ erhoben,

  1. wo Menschen mit Behinderung versterben,
  2. wie sich die Sterberate in verschiedenen Wohnformen entwickelt und
  3. welche Rahmenbedingungen es in Einrichtungen gibt, um eine gute Begleitung bis ans Lebensende sicherzustellen.

Zudem wurden qualitative Interviews mit Mitarbeitenden und Leitungskräften von verschiedenen Einrichtungstypen durchgeführt. Diese ergaben, dass die Qualität der Begleitung zum einen abhängig ist von organisationalen Rahmenbedingungen wie der personellen oder räumlichen Ausstattung. Zum anderen wurde deutlich, dass Aspekte der Organisationskultur bedeutsam sind: Wie stehen Leitungskräfte und Mitarbeitende zu der Frage, ob sie für die letzte Lebensphase zuständig sind? Wie stark ist die Arbeit in der Einrichtung generell am Prinzip der Personenzentrierung orientiert? Wie werden Bewohner:innen in der Einrichtung generell an Entscheidungsprozessen beteiligt? Alle diese Faktoren haben Auswirkungen auf die Begleitung am Lebensende – einer Lebensphase, in der Selbstbestimmung den meisten Menschen besonders wichtig ist.

Einblicke in die Praxis der Palliativversorgung von Menschen mit Behinderungen

Insbesondere in Deutschland zeigt sich ein überproportionaler Anstieg der älter werdenden Menschen mit Behinderungen, was auf die Tötungspolitik während des Nationalsozialismus zurückzuführen ist. Die Sekundäranalyse von Daten aus der Eingliederungshilfe ergab eine entsprechend stetig steigende Sterberate: In den Jahren 2014 bis 2016 stieg sie von 16 auf 18 verstorbene Personen pro 1 000 Bewohner:innen in den Wohneinrichtungen pro Jahr (von 1,6 % auf 1,8 %).[1] Die Begleitung am Lebensende ist also noch weit von einer alltäglichen Routine entfernt. Jedoch nehmen die Situationen zu, in denen Fachkräfte in den Wohneinrichtungen Menschen am Lebensende beziehungsweise bis zum Lebensende begleiten. In der quantitativen Befragung von Wohneinrichtungen zeigt sich zudem, dass die Verstorbenen lange in der jeweiligen Wohngruppe verweilten: 78,5 Prozent der Verstorbenen waren länger als zehn Jahre in der Einrichtung, 60,7 Prozent lebten länger als zehn Jahre in der Wohngruppe. Für 57,0 Prozent der Verstorbenen war die Wohngruppe der Sterbeort, 38,0 Prozent verstarben im Krankenhaus, 5,1 Prozent auf einer Palliativstation eines Krankenhauses.[2] In der sogenannten Allgemeinbevölkerung verstarben im selben Zeitraum 51,2 Prozent im Krankenhaus (Dasch et al., 2015).[3] Diese Zahlen unterstreichen die Bedeutung der Wohngruppe als Ort der Begleitung am Lebensende.

Die qualitativen Interviews ergaben, dass die Ausgestaltung der Begleitung und die Partizipation äusserst unterschiedlich ist. Aufgrund dieser Unterschiede konnten verschiedene Typen von Organisationen beschrieben werden: Die einen verdrängen das Thema Sterben und Tod eher und verlegen Menschen am Lebensende in andere Einrichtungen. Andere sind sehr bemüht um ausgesprochen individuelle Lösungen und sehen es als Aufgabe der Wohneinrichtung, dass die Bewohner:innen, die es wünschen, in der Einrichtung palliativ begleitet werden. Insgesamt wurden vier Typen (Modelle) nach deren Handlungsstrategien und Partizipationskultur herausgearbeitet und tabellarisch dargestellt (s. Tab. 1). Die Tabelle gibt Anhaltspunkte für die Einschätzung der in den Einrichtungen gelebten Praxis der Begleitung am Lebensende. Daraus lassen sich Empfehlungen für die Weiterentwicklung ableiten.

Tabelle 1: Typen des organisationalen Umgangs mit Herausforderungen in der Begleitung am Lebensende in Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung (eigene Darstellung)

Modellname

Delegierendes

Modell

Dichotomisierendes Modell

Funktionales

Modell

Integrierendes

Modell

Handlungsstrategien

Vermeidung des Themas Sterben; Auslagerung der Versorgung an andere Institutionen

Polarisierende Gegenüberstellung von individueller Haltung und den Grenzen der Organisation

Dominanz der Versorgungsicherheit gegenüber individuellen Bedürfnissen

Ausgewogenheit der Dimensionen Personenzentrierung, Offenheit für das Thema und Versorgungsqualität

Partizipations­kultur

Verknüpfung individueller und institutioneller Abwehrmechanismen; Verdrängung der Bedürfnisse Sterbender aus eigener Hilflosigkeit

Teilhabe wird nur auf der Ebene der dyadischen Beziehung gesehen; strukturelle Grenzen der Organisation werden resignierend hingenommen

Hohe Funktionalität in der Versorgung; Fokussierung auf Standards, die (vermeintlich) Sicherheit schaffen

Achtung des «Eigensinns» und der Entscheidungskompetenz der Person

Empfehlungen

Sensibilisierung und Fortbildung von Mitarbeitenden

Schaffung von Kommunikationsräumen zwischen Mitarbeitenden und Leitung, um gemeinsam Wege für eine gute Begleitung auszuloten

Supervisorische Begleitung von Mitarbeitenden zur Bearbeitung von Unsicherheiten

Kultivierung des Selbstverständnisses als lernende Organisation und Sicherung von Räumen für ethische Reflexion

In einer nächsten Projektphase wurde in Workshops mit Mitarbeitenden und mit Beiräten der Bewohner:innen Prozesse der Begleitung differenziert untersucht. Im Fokus standen dabei unter anderem Entscheidungs- und Einwilligungsprozesse. Hier zeigten sich deutliche Unterschiede, wie Mitarbeitende und wie Bewohner:innen diese erleben: Die Bewohner:innen betonen, dass sie über wichtige Dinge selbst bestimmen möchten, zum Beispiel wer bei ihnen sein soll an ihrem Lebensende oder wo sie sterben möchten. Zudem fühlen sie sich nicht immer gut einbezogen, wenn Mitbewohner:innen, für die sie teils lang vertraute Bezugspersonen sind, versterben. Das zeigt exemplarisch folgendes Zitat aus einem Workshop: «Und da waren wir als Mitbewohner nicht so drauf vorbereitet».

Die qualitative Studie von Ritzenthaler-Spielmann (2017) untersucht Entscheidungsprozesse am Lebensende. Die Studie zeigt eine deutliche Abweichung zwischen organisationalen Leitbildern, in denen «Selbstbestimmung der meistgenannte Wert» war und der Feststellung, dass die Bewohner:innen «kaum Selbstbestimmung wahrnehmen in den jeweiligen Entscheidungssituationen» (ebd., S. 264). Diese Abweichung verweist auf die häufig vorweggenommene Zuschreibung, dass Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung nicht einwilligungs- oder urteilsfähig seien. Um dieser Zuschreibung zu entgegnen, verweist die Behindertenrechtskonvention auf den Status jedes Menschen als Rechts- und Handlungssubjekt, der durch die Vertragsstaaten zu achten sei (Art. 12 BRK; Lachwitz, 2013).

Einwilligung und Einwilligungsfähigkeit – ein komplexes Konstrukt

Die Achtung jeder Person als Rechtssubjekt muss gerade bei Fragen rund um das Sterben gelten – sie wird aber oft in dieser existenziellen Situation am deutlichsten infrage gestellt. Die Monitoringprozesse, welche die Umsetzung der BRK begleiten, haben inzwischen in mehreren Ländern zu einer Stärkung der Selbstbestimmungsrechte geführt. Neu erfasst wurden auch die Rechtsvorschriften zur gesetzlichen Vertretung für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Das Erwachsenenschutzgesetz, das 2013 in der Schweiz in Kraft getreten ist, spricht ihnen deutliche Entscheidungskompetenzen zu in Bezug auf medizinische Behandlungsentscheidungen und die Umstände ihres Lebensendes (Naef et al., 2012). In Deutschland gilt seit 2023 ein neues Betreuungsrecht, das dem Prinzip der unterstützten Entscheidungsfindung deutlicher Rechnung trägt als der stellvertretenden Entscheidungsfindung.

Neben der Rechts- und Handlungsfähigkeit wird in Fachkreisen neu über das Prinzip der informierten Einwilligung diskutiert. Dieses Prinzip aus der Medizinethik sieht vor, dass für jeden medizinischen Eingriff die betreffende Person vorab umfassend und den individuellen Möglichkeiten entsprechend informiert sein muss über den Eingriff, dessen möglichen Risiken und Folgen. An dieser Stelle kommt die sogenannte Einwilligungsfähigkeit als Dimension der Rechtsfähigkeit ins Spiel: Eine Einwilligung ist nur gültig, wenn die jeweilige Person als einwilligungsfähig gilt; das heisst, wenn sie kognitiv und emotional in der Lage ist, einer Entscheidung aktiv und um alle Konsequenzen wissend zuzustimmen oder diese abzulehnen. Die Schwierigkeit besteht nun aber darin, dass «Einwilligungsfähigkeit» nicht so eindeutig bestimmbar ist, wie es die lange vorherrschende Praxis einer pauschalen Infragestellung der Einwilligungsfähigkeit bei einer kognitiven Beeinträchtigung nahelegt. Vielmehr existieren verschiedene Ansätze zum Verständnis von «Einwilligungsfähigkeit»: Ein funktionalistisches Verständnis betont die individuellen (vor allem kognitiven) Fähigkeiten einer Person. Statusorientierte Ansätze dagegen machen die «Einwilligungsfähigkeit» an einem bestimmten Status einer Person fest, zum Beispiel am Lebensalter. Wieder andere Ansätze beruhen auf dem Ergebnis einer Entscheidung (outcome-orientierte Ansätze) und fragen danach, ob eine getroffene Entscheidung Schaden anrichten würde. All diese Ansätze ignorieren die Situationsgebundenheit und Flüchtigkeit der Einwilligungsfähigkeit eines Menschen: Alle Menschen sind bei existenziellen Entscheidungen geprägt von einer Zwiespältigkeit, von in Konflikt stehenden Motiven und Einflüssen durch andere. Die Einwilligungsfähigkeit ist daher ein situatives, wandelbares Phänomen. Bei der Feststellung von Einwilligungs(-un-)fähigkeit steht meist die rechtliche Eindeutigkeit im Interesse anderer Akteure im Vordergrund (z. B. der rechtlichen Betreuung, der Organisation). Einwilligungsfähigkeit ist eher ein funktionales Konstrukt als ein eindeutig feststellbares, stabiles Merkmal einer Person (Schäper, 2018). Daher ist die Einwilligungsfähigkeit «in wie auch immer gebrochener, vielleicht nur noch rudimentärer Form […] vorauszusetzen» (Bielefeldt, 2017, S. 58), auch wenn dies den Handlungslogiken von Organisationen widerspricht, die primär daran interessiert sind, sich gegen Haftungsrisiken abzusichern.

«Supported decision-making» – ein prozessorientiertes Handlungskonzept

Die normativen Vorgaben der BRK haben bewirkt, dass in den letzten Jahren neue Fachkonzepte für Einwilligungs- und Entscheidungsprozesse entstanden sind. Kein Konzept garantiert dafür, dass in ihrer Umsetzung keine Manipulation und Entmündigung vorkommen. Kohn, Blumenthal und Campbell (2014) betonen wiederum, wie wichtig die Organisationskultur und die professionelle Haltung der unterstützenden Person ist. Echte Unterstützung in der Entscheidungsfindung muss in eine Kultur der Offenheit für Resonanz und Partizipation eingebettet sein. Das Konzept des support for decision-making von Bigby und Douglas (2016) verdeutlicht, wie komplex der Prozess der Einwilligung ist, mit den einzelnen Schritten der gemeinsamen Vergewisserung und Klärung der vielschichtigen Bedingungen einer Entscheidung. Zudem zeigt das Konzept, dass es in Entscheidungsprozessen oft um weit mehr als nur um eine Entscheidung zu einer bestimmten Massnahme für eine Person geht. Denn Entscheidungsprozesse sind in organisationale Prozesse eingelassen und auf diese angewiesen, etwa die Frage der Verfügbarkeit bestimmter Ressourcen für eine gute Unterstützung oder die Frage, wie in der Organisation generell mit Entscheidungen verfahren wird, die die Belange der Bewohner:innen unmittelbar betreffen.

Die Aufgabe der Leitung von sozialen Organisationen ist es daher, Räume zu schaffen für solche komplexen Verständigungs- und Vergewisserungsprozesse. Gute Entscheidungsprozesse werden nicht primär durch die kognitive Kompetenz der Menschen mit Behinderungen bestimmt, sondern durch die Kompetenz von Mitarbeitenden, die Einwilligung als Befähigungsprozess zu gestalten. Gerade in den existenziellen Entscheidungen am Lebensende braucht es in Wohneinrichtungen eine Kultur des ethischen Räsonierens («ethical reasoning», Großmaß, 2013): ein prozesshaftes, argumentierendes Nachdenken, das auf allen Ebenen – bei und mit Bewohner:innen, auf der Ebene der Mitarbeitenden und auf Leitungsebene – eingeübt werden muss. Ethisch verantwortliches Handeln entsteht in Organisationen nicht durch eine schlichte Ableitung von Handlungsmaximen aus ethischen Normen. Gerade in sozialen Berufen ist die Kompetenz des ethischen Räsonierens die Basis. Dafür müssen Einrichtungen zeitliche Ressourcen schaffen, um ihre Bewohner:innen bei Entscheidungen gut begleiten zu können. Werden ethische Fragen an eine spezialisiert arbeitende Ethikkommission delegiert, ist das für die Entwicklung einer Kultur des ethischen Räsonierens nicht unbedingt hilfreich. Vielmehr muss auch hier das Prinzip maximaler Partizipation gelten, vor allem derer, die von einer zu treffenden Entscheidung am meisten betroffen sind.

Damit sich die Praxis gelingender Entscheidungs- und Einwilligungsprozesse etabliert, braucht es einen organisationalen Lernprozess. Menschen mit Behinderungen sind abhängig von der Fähigkeit ihrer Begleitpersonen, Menschen zur Wahrnehmung und Artikulation des eigenen Willens zu befähigen und sie in Entscheidungsprozessen zu unterstützen, statt zu entmündigen. Diese Fähigkeit bestimmt, inwieweit Menschen einwilligungsfähig werden können.

Prof. Dr. theol. Sabine Schäper

Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen

Abteilung Münster

s.schaeper@katho-nrw.de

Literatur

Bielefeldt, H. (2017). Menschenwürde und Autonomie am Lebensende. Perspektiven der internationalen Menschenrechte. In C. Welsh et al. (Hrsg.). Autonomie und Menschenrechte am Lebensende (S. 45–66). transcript.

Bigby, C., & Douglas, J. (2016). Support for decision-making – A practice framework. La Trobe University. www.supportfordecisionmakingresource.com.au/

Bundesamt für Gesundheit (BAG) (Hrsg.) (2020). Bessere Betreuung und Behandlung von Menschen am Lebensende. Bericht des Bundesrates. https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/nationale-gesundheitsstrategien/strategie-palliative-care.html#-309017583

Bundesamt für Gesundheit (BAG) & Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) (2012). Nationale Strategie Palliative Care 2013–2015. Bilanz «Nationale Strategie Palliative Care 2010–2012» und Handlungsbedarf 2013–2015. Bern. http://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/nationale-gesundheitsstrategien/strategie-palliative-care.html

Bundesministerium für Gesundheit (2016). Hospiz- und Palliativgesetz. Bessere Versorgung schwerstkranker Menschen. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Gesundheit/Flyer_Poster_etc/Hospiz-_und_Palliativgesetz.pdf

Dasch, B., Blum, K., Gude, P. & Bausewein, C. (2015). Place of death: trends over the course of a decade. A population-based study of death certificates from the years 2001 and 2011. Deutsches Ärzteblatt International, 112 (29−30), 496–504. https://doi.org/10.3238/arztebl.2015.0496

Dunkley, S. & Sales, R. (2014). The challenges of providing palliative care for people with intellectual disabilities: a literature review. International Journal of Palliative Nursing, 20 (6), 279–284. https://doi.org/10.12968/ijpn.2014.20.6.279

Großmaß, R. (2013). Ethical Reasoning – Ethik in der beruflichen Praxis. In R. Großmaß & R. Anhorn (Hrsg.), Kritik der Moralisierung (S. 209–226). Springer.

Kohn, N. A., Blumenthal, J. A. & Campbell, A. T. (2013). Supported Decision-Making: A Viable Alternative to Guardianship? Penn State Law Review, 117 (4), 2013. http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.2161115

Lachwitz, K. (2013). Funktion und Anwendungsbereich der «Unterstützung» («support») bei der Ausübung der Rechts- und Handlungsfähigkeit gemäß Artikel 12 UN-BRK – Anforderungen aus der Perspektive von Menschen mit geistiger Behinderung. In V. Aichele, T. Degener, K. Lachwitz, L. Krappmann, H. Loytved, R. Northoff (Hrsg.), Das Menschenrecht auf gleiche Anerkennung vor dem Recht: Artikel 12 der UN-Behindertenrechtskonvention (S. 67–99). Nomos.

Naef, J., Baumann-Hölzle, R. & Ritzenthaler-Spielmann, D. (2012). Patientenverfügungen in der Schweiz (Basiswissen Recht, Ethik und Medizin für Fachpersonen aus dem Gesundheitswesen). Schulthess Juristische Medien.

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Tuffrey-Wijne, I. (2003). The palliative care needs of people with intellectual disabilities: a literature review. Palliative Medicine,17 (1), 55–62. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/12597467/

Tuffrey-Wijne, I. & McLaughlin, D. (2015). Consensus Norms for Palliative Care of People with Intellectual Disabilities in Europe (European Association for Palliative Care (EAPC), Taskforce on People with Intellectual Disabilities). https://www.learningdisabilityanddementia.org/uploads/1/1/5/8/11581920/eapc-white-paper-id_full-version_april-2015.pdf

Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention, BRK), vom 13. Dezember 2006, durch die Schweiz ratifiziert am 15. April 2014, in Kraft seit dem 15. Mai 2014, SR 0.109.

Voss, H., Francke, A. L. & de Veer, A. (2021). Implementation and sustainment of palliative care innovations within organizations for people with intellectual disabilities: A multi-method evaluation, Disability and Health Journal, 14 (2). https://doi.org/10.1016/j.dhjo.2020.101049

Wicki, M., & Meier, S. (2015). Palliative Care für Menschen mit einer intellektuellen Behinderung. Handlungsbedarf und Maßnahmenvorschläge. Bundesamt für Gesundheit. https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/das-bag/publikationen/forschungsberichte/forschungsberichte-palliative-care/intellektuelle-beeintraechtigung-und-palliative-care.html

  1. Zum Vergleich: Die Studie von Wicki und Meier (2015) ergab, dass in den Wohneinrichtungen in der Schweiz zwischen 2007 und 2012 3,7 Prozent der Bewohner:innen von Wohneinrichtungen verstorben sind. Diese Zahl ist etwa doppelt so hoch wie die in Deutschland, was auf die beschriebene Generationenlücke und die daher etwas verschobene Altersentwicklung in Deutschland zurückgeführt werden könnte.

  2. Die Zahlen basieren auf den im PiCarDi-Projekt erhobenen Daten zu Sterbefällen in Einrichtungen für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung in den Bundesländern Sachsen, Nordrhein-Westfalen und Berlin.

  3. Diese Daten beziehen sich auf Deutschland insgesamt. Analoge Zahlen nur zu den drei Bundesländern, die im Fokus des PiCarDi-Projektes standen, liegen für die Sterberaten der sogenannten Allgemeinbevölkerung nicht vor.