Die kategorischen Fragen der Gewalt

Ein Modell ethischer Entscheidungsfindung

Elmar Tratter

Zusammenfassung
Betreuungspersonen sind manchmal Situationen ausgesetzt, in denen sie gegen den Willen einer betreuten Person handeln müssen, um deren Wohl zu erhalten oder herzustellen. Im Artikel wird ein praxisbezogenes Modell vorgestellt: Die kategorischen Fragen der Gewalt. Dieses Modell soll Betreuungspersonen dabei unterstützen, ethische Entscheidungen zu treffen und abzuschätzen, ob Zwangsmassnahmen gegenüber betreuten Personen moralisch zulässig sind.

Résumé
Le personnel accompagnant est parfois exposé à des situations dans lesquelles il doit agir contre la volonté d'une personne encadrée, afin de préserver ou rétablir son bien-être. Cet article présente un modèle axé sur la pratique : les questions catégoriques de la violence. Ce modèle a pour but d’aider les accompagnantes et accompagnants à prendre des décisions éthiques et à évaluer si les mesures de contrainte à l'égard des personnes encadrées sont moralement acceptables.

Keywords: Institution, Betreuung, zwischenmenschliche Beziehungen, Gewalt, Ethik, Selbstbestimmung / institution, prise en charge, relations interpersonnelles, violence, éthique, autodétermination

DOI: https://doi.org/10.57161/z2023-04-05

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 29, 04/2023

Creative Common BY

Einleitung

Zu Beginn dieses Artikels werden zunächst die beiden Begriffe Gewalt und Zwang definiert und auf die Rolle hingewiesen, welche ihnen in der Begleitung und Betreuung von Menschen zukommt. Anschliessend wird das Verhältnis von Freiheit und Fürsorge diskutiert. Im letzten Kapitel werden die drei kategorischen Fragen der Gewalt vorgestellt und an einem Beispiel erläutert.

Das Modell der kategorischen Fragen der Gewalt wurde von mir konzipiert. Es entstand durch meine Auseinandersetzung mit moralisch schwierigen Betreuungssituationen, die ich mit Fachkräften und Auszubildenden aus unterschiedlichen sozialen und pädagogischen Berufen analysiert habe. Das Instrument sollte zwei Ziele erfüllen: einerseits der Komplexität von moralphilosophischen Analysen gerecht werden, andererseits im Praxisalltag einfach anzuwenden sein.

Grundsätzlich kann das Modell auf alle Situationen von asymmetrischen (ungleichen) Beziehungen angewendet werden. Solche Beziehungen bestehen in der Betreuung und Begleitung, in der Pflege und Erziehung in stationären, teilstationären oder ambulanten Einrichtungen für Erwachsene, Jugendliche oder Kinder mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen.

Die Bedeutung von Zwang und Gewalt

Nachfolgend geht es um Zwang und Gewalt in den eben genannten Bereichen. Die Begriffe Zwang und Gewalt werden innerhalb von Disziplinen wie der Philosophie, Soziologie oder Psychologie unterschiedlich verstanden und verwendet. Dasselbe gilt für die Erziehung, Betreuung und Pflege. Auch das Verhältnis der beiden Begriffe wird unterschiedlich gefasst: Manchmal werden Zwang und Gewalt synonym gebraucht. In diesem Artikel meint der Begriff Zwang die «Bestimmung zu einem Handeln gegen den eigenen Willen» einer Person (Regenbogen & Meyer, 2013, S. 752). Gewalt (oder Zwangsmassnahmen) bezeichnet die Mittel, um Zwang umzusetzen. Somit umfasst Gewalt alle Mittel, die gegen den Willen einer Person eingesetzt werden, um ein bestimmtes Ziel in deren Begleitung zu erreichen. Diese Mittel sind unter anderem physisch (wie Festhalten, Versperren von Türen, Fixieren), psychisch (etwa Drohen, Schimpfen, Beziehungsabbruch) oder pharmakologisch (z. B. Sedativa).

Die Begriffe Zwang und Gewalt sind meistens negativ konnotiert. Jedoch kann Gewalt in manchen Situationen passend sein. Zum Beispiel wird sie bei Notwehr selten als moralisch falsch gewertet. Die meisten Menschen stimmen auch staatlichen Zwangsmassnahmen zu, die Rechtsgarantie, Freiheit und Sicherheit gewährleisten möchten, indem beispielsweise Straftaten geahndet und Grundrechte der Staatsbürger:innen geschützt werden. Zwang und Gewalt sind also nicht an und für sich schlecht – und trotzdem sind sie normalerweise das letzte Mittel, zu dem wir greifen, um eine Situation zu bewältigen. In einer Hierarchie von Handlungsmöglichkeiten bildet Gewalt die letzte sich bietende Möglichkeit. Das gilt besonders für direkte persönliche Beziehungen, wie es sie in Betreuungskontexten gibt.

Selbstbestimmung und Fürsorge

In Betreuungskontexten stehen sich Selbstbestimmung und Fürsorge gegenüber. Wir definieren Selbstbestimmung als «Fähigkeit, dem eigenen Handeln und daher dem eigenen Leben so weitgehend wie möglich selbst einen Inhalt zu geben» (Tratter, 2013, S. 103). Dabei muss Selbstbestimmung von willkürlichen Affekten oder spontanen Willensregungen abgegrenzt werden. Eine Entscheidung muss begründet und tatsächlich gewollt sein. Das Recht, frei über die eigene Lebensgestaltung zu entscheiden, stösst dann an seine Grenzen, wenn eine Person die Bedeutung und Folgen der eigenen Handlungen nicht mehr begreifen kann und sich selbst oder anderen schaden würde. In diesem Fall kann es notwendig und moralisch legitim sein, dass Drittpersonen eingreifen. Die Herausforderung für Betreuende, die Selbstbestimmung einer Person anzuerkennen und gleichzeitig der eigenen Fürsorgepflicht nachzukommen, stellt sich besonders in der Begleitung von Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder psychischen Erkrankungen.

Zum Beispiel möchte eine betreute Person in einer Wohngemeinschaft von Menschen mit Behinderungen dreimal so viel essen als für sie passend ist, da sie ein gestörtes Sättigungsgefühl hat und die schädlichen Folgen der übermässigen Nahrungsaufnahme nicht begreift.[1] Dieser Wunsch kann nicht als selbstbestimmt und frei gewählt verstanden werden, da die Person die Folgen ihrer Handlung nicht versteht und gar nicht anders handeln kann, als zu essen, wenn es ihr möglich ist. Deshalb braucht es die Fürsorge der Betreuungspersonen.

Fürsorgliches Eingreifen kommt also ins Spiel, wenn für eine Person Verantwortung übernommen werden muss. Fürsorge «ist das verantwortungsvolle, reflektierte Handeln mit dem Ziel, die Interessen und das Wohl der anvertrauten Menschen auf bestmögliche Weise zu schützen und zu fördern, ohne sie unnötig zu bevormunden» (Tratter, 2013, S. 111). In asymmetrischen Beziehungen wie Erziehungs-, Betreuungs- und Pflegesituationen handeln Betreuungspersonen fürsorglich gegenüber Betreuten, Erziehungspersonal gegenüber Zu-Erziehenden und Eltern gegenüber Kindern.

In der Betreuung werden gut begründete Ziele für die betreuten Personen angestrebt, zu denen passende Mittel führen sollen. Kommt es zu Situationen, in denen eine betroffene Person einem Ziel nicht zustimmt (die Ablehnung wird entweder direkt geäussert oder ist aus dem Verhalten ersichtlich), kann Zwang als einzige Interventionsmöglichkeit übrigbleiben. Im oben genannten Beispiel kann ein fürsorgliches Eingreifen bedeuten, das Essensangebot und den Zugang zu Nahrungsmitteln einzuschränken. Das Ziel dieser Massnahme wäre es, eine gesundheitliche Schädigung zu vermeiden.

Die kategorischen Fragen der Gewalt

Eine Intervention besteht in der Regel darin, dass eine Massnahme bestimmt wird, um ein gewisses Ziel zu erreichen. Manchmal wird gegen den Wunsch einer Person gehandelt – eine solche Zwangsmassnahme ist ein tiefgreifender Eingriff. Deshalb muss klar begründet werden, inwieweit und ob Zwang als Intervention moralisch zulässig ist. Die kategorischen Fragen der Gewalt können dabei helfen, Zwangsmassnahmen kritisch zu prüfen, entweder vor oder nach einer Intervention. Diese Fragen sind kategorisch, weil in der Analyse immer alle drei berücksichtigt werden müssen.[2] Damit eine Intervention durch Gewalt moralisch zulässig ist, müssen die folgenden Fragen mit Ja beantwortet werden können:

1) Hinterfragung des Mittels oder der Massnahme: Ist diese konkrete Massnahme tatsächlich die einzig mögliche, um das Ziel zu erreichen?

Gewalt ist immer das letzte Mittel, um ein Ziel zu erreichen. Erst dann, wenn alle anderen Mittel erschöpft sind, kann sie legitimiert werden. Je zahlreicher und vielfältiger die Interventionsmöglichkeiten sind, je kreativer Massnahmen reflektiert und entworfen werden, desto grösser ist die Möglichkeit, auf Zwangsmassnahmen zu verzichten.

2) Hinterfragung des Ziels (Zweckes): Ist das angestrebte Ziel tatsächlich derart bedeutsam, dass es diese Massnahme rechtfertigt?

Eine Massnahme bezweckt die Erreichung eines Zieles. Um zu entscheiden, ob ein Ziel wirklich wichtig ist oder ob es fallen gelassen werden kann, muss es kritisch hinterfragt werden. Ist ein Ziel so wichtig, dass es Zwang als Massnahme rechtfertigt, muss es umfassend begründet werden. Das soll das folgende Beispiel verdeutlichen. Ein pflegebedürftiger Mann verweigerte, vom Pflegepersonal rasiert zu werden. Eine Pflegeperson hielt ihn während der Rasur fest, da er «ordentlich ausschauen» sollte, wie argumentiert wurde. Dieses Ziel (das «ordentlich» rasierte Gesicht) verliert seine Bedeutsamkeit, wenn das Festhalten als Massnahme nötig wird. Es kann nicht als verhältnismässig gerechtfertigt werden.

3) Hinterfragung der Bedeutsamkeit für die betroffene Person und unmittelbar betroffene Dritte: Ist das angestrebte Ziel tatsächlich für die Person – beziehungsweise für jene Personen, die von der Situation unmittelbar betroffen sind – und ihre Weise des guten Lebens derart bedeutsam, dass es diese Massnahme rechtfertigt?

Bei dieser Frage handelt es sich im Grunde um eine Erweiterung der zweiten Frage. Was als Ziel bedeutsam ist, bezieht sich immer auf die Vorstellung einer Person, was für sie ein gutes Leben bedeutet. Das Betreuungspersonal wird bestrebt sein, das Beste für die begleitete Person zu wollen. Es muss aber kritisch geprüft werden, ob die Vorstellung des Personals sich mit den Wünschen der begleiteten Person deckt (Tratter, 2013). Das bedeutet, dass die Sichtweisen, Bedürfnisse und die Lebenswelt der Adressat:innen – wenn irgendwie möglich – direkt einbezogen werden sollen.

Beispielsweise sind das regelmässige Waschen und das Tragen sauberer Kleidung für viele Menschen sehr bedeutsam. Allerdings muss das nicht auf alle Personen zutreffen. Ein Mann verweigerte selbst einen Monat nach seiner Aufnahme in einer stationären Einrichtung, sich zu duschen und seine Kleider zu wechseln. Er empfand sich weder als schmutzig noch als unangenehm riechend, er fühlte sich wohl. Der Mann hatte Jahrzehnte als Obdachloser gelebt und in seiner Vorstellung von einem guten Leben war Sauberkeit unbedeutend. Dieser Aspekt musste bei der Abwägung einer möglichen Zwangsmassnahme berücksichtigt werden.

Allerdings muss die Bedeutsamkeit eines Ziels immer auch im Verhältnis zu Dritten, also denjenigen Personen gesehen werden, welche von den Folgen unmittelbar betroffen sind. Wenn eine Person oft laut schreit, aggressive Verhaltensweisen zeigt oder, wie im obigen Beispiel, sehr unangenehm riecht, müssen die Interessen der unmittelbar involvierten Personen ebenfalls berücksichtigt werden. Die Bedeutsamkeit für eine Person, auf welche die Intervention angewandt werden soll, steht derjenigen der anderen Betroffenen gegenüber. In diesem Fall müssen die Interessen der Beteiligten abgewogen werden. Für die oberen beiden Beispiele würde das bedeuten: Der Anspruch einer Gruppe nach Sicherheit und Ruhe ist höher zu werten als das Bedürfnis einer einzelnen Person, zu schreien oder sich nicht zu duschen und deshalb sehr unangenehm zu riechen. Dagegen ist der Wunsch nach einem «ordentlich» rasierten Gesicht im Beispiel zur zweiten Frage kein berechtigter Anspruch Dritter.

Grundsätzlich ist eine Zwangsintervention nur dann moralisch gerechtfertigt, wenn alle drei kategorischen Fragen der Gewalt bejaht werden können. Andere Mittel sind erschöpft und das Ziel der Handlung ist für die involvierten Personen bedeutsam.

Beispiel

Anhand des folgenden Beispiels soll das Analysemodell verdeutlicht werden. Frau Albrecht (42) lebt in einer Wohngemeinschaft für Menschen mit Behinderung und arbeitet in einer geschützten Werkstatt. Sie benötigt einen strukturieren, ihr bekannten Ablauf, um sich sicher zu fühlen. Sprachlich kann sie sich nur mit einzelnen Worten oder Lauten äussern. Wenn sie sich unsicher fühlt, wird sie unruhig. Das äussert sich durch Hin- und Hergehen und Schreien. Auf diese Verhaltensweise reagieren andere anwesende Betreute ihrerseits mit Unruhe.

Zeigt Frau Albrecht in der Wohngemeinschaft stärkere Unruhe, bringen Betreuungspersonen sie in ihr Zimmer und schliessen sie dort ein (Time-out). Frau Albrecht geht oft nicht freiwillig in ihr Zimmer. Mitunter setzt sie sich auf den Boden, um dem Einsperren zu entgehen, sodass sie geschoben und gezogen wird. Sobald sie im Zimmer eingeschlossen ist, schlägt Frau Albrecht meistens gegen die Tür und schreit. Nach circa 5 bis 15 Minuten ist sie wieder ruhiger und wird von den Betreuungspersonen herausgelassen.

Um abzuschätzen, ob diese Zwangsmassnahme gegenüber Frau Albrecht moralisch zulässig ist, muss zunächst bestimmt werden, welches Ziel überhaupt verfolgt wird: Frau Albrecht soll beruhigt und ihr herausforderndes Verhalten (Schreien, Hin- und Hergehen etc.) unterbunden werden. Daraufhin kann das Mittel identifiziert werden, mit dem dieses Ziel erreicht werden soll. In diesem Beispiel wäre es das Einschliessen in ihrem Zimmer, wenn nötig schiebend und zerrend. Anschliessend wird die zu analysierende moralische Frage formuliert: «Ist es moralisch richtig, Frau Albrecht aufgrund ihres herausfordernden Verhaltens (schiebend und zerrend) in ihr Zimmer zu bringen und einzuschliessen?» Daraufhin können die kategorischen Fragen der Gewalt auf die formulierte moralische Frage angewendet werden:

1) Hinterfragung des Mittels oder der Massnahme: Ist diese konkrete Massnahme tatsächlich die einzig mögliche, um das Ziel zu erreichen?

Indem Frau Albrecht in ihr Zimmer eingeschlossen wird, kann die Situation durch das Betreuungspersonal schnell geregelt werden. Allerdings trägt diese Massnahme nicht dazu bei, dass die Betroffene weitere Verhaltensmöglichkeiten erlernt (Theunissen, 2021). Bestrafungen ändern langfristig nicht das Verhalten einer Person. Ausserdem verstehen Personen mit herausforderndem Verhalten oft den Grund für den Ausschluss, die «Strafe» nicht (Elvén, 2017). Die Betreuungspersonen sperren Frau Albrecht mit physischer Gewalt in ihr Zimmer ein und greifen somit stark in ihr Freiheitsrecht ein. Durch das Einschliessen wird Frau Albrecht aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Dieser Ausschluss kann auf lange Sicht zu einer Schädigung der Identität führen (Theunissen, 2021).

Um das angestrebte Ziel zu erreichen, bieten sich andere Massnahmen an. Oft können solche Situationen schon dadurch vermieden werden, dass Betreuungspersonen auf erste Anzeichen der Unruhe reagieren. Bewegung, Entspannung oder Ablenkung können das störende Verhalten vermindern oder kompensieren. Vorbeugende Interventionen vermindern das Auftreten von störendem Verhalten (ebd.; Heijkoop, 2014). Im Fall von Frau Albrecht wirkten Spaziergänge beim Aufkommen von Unruhe positiv. Auf dem Spaziergang musste die Betroffene von einer Betreuungsperson begleitet werden; eine Ressource, die erst geschaffen werden musste.

In diesem Fall gäbe es also weitere Mittel ausser Gewalt und die Intervention wäre moralisch falsch. Deshalb müsste die Analyse gar nicht mehr weitergeführt werden. Um aber auch Frage 2 und 3 des Modells zu verdeutlichen, fahren wir fort:

2) Hinterfragung des Zieles (Zweckes): Ist dieses angestrebte Ziel tatsächlich derart bedeutsam, dass es diese Massnahme rechtfertigt?

Für Frau Albrecht ist es wohl ein wichtiges Ziel, dass ihre Unruhe abnimmt. Das Mittel des Einsperrens ist aber gegenüber diesem Ziel nicht verhältnismässig.

3) Hinterfragung der Bedeutsamkeit für die betroffene Person und unmittelbar betroffene Dritte: Ist das angestrebte Ziel tatsächlich für die Person – beziehungsweise für jene Personen, die von der bestehenden Situation unmittelbar betroffen sind – und ihre Weise des guten Lebens derart bedeutsam, dass es diese Massnahme rechtfertigt?

Es kann zum guten Leben von Frau Albrecht gehören, sich ausgeglichen zu fühlen. Die angewandte Massnahme wird wohl aber kaum von ihr gewünscht sein, da das Einsperren in ihrem Zimmer und der Ausschluss aus der Gemeinschaft langfristig nicht zu einer Besserung ihrer Lebensqualität führen werden. Durch diese Massnahme lernt sie nicht, wie sie ihre Unruhe konstruktiv bewältigen kann.

Für die anderen Betreuten ist es wichtig, nicht dauerhaft unruhigen Situationen und Schreien ausgesetzt zu sein. Gleichzeitig erzeugen die angewandten Massnahmen des Personals ein unangenehmes Gefühl bei den betroffenen Dritten. Sie lernen, dass Einsperren ein Mittel ist, das jede betreute Person treffen könnte.

Erläuterungen zu den kategorischen Fragen der Gewalt

Die kategorischen Fragen der Gewalt sind ein recht einfaches Analysemodell, das verschiedene Folgerungen nach sich zieht. Es erfordert eine hohe Kompetenz und eine solide Ausbildung des Personals, da die Mittel der Intervention vielfältig sind. Zudem sollen institutionelle und organisatorische Aspekte die Gewalt als Interventionsform unterbinden (institutionelle Gewalt). Für Institutionen ergibt sich eine moralische Pflicht, Rahmenbedingungen und Ressourcen derart zu schaffen, dass gewaltfreie Interventionen möglich sind. Wenn Personen ein herausforderndes Verhalten zeigen, braucht es weitere interne Ressourcen (mehr Zeit oder Individualbetreuung, um eine solide Beziehung aufzubauen) oder externe Ressourcen (Beratung oder Supervision).

Zweitens hilft die Analyse von Zielen und Zwecken zu erkennen, was tatsächlich notwendig ist. Ziele können an Bedeutung verlieren, wenn sie nur durch Zwangsmassnahmen erreicht werden können, wie wir am Beispiel der Rasur gesehen haben. Routinierte Abläufe können als Notwendigkeiten erscheinen. Aber: Weil etwas «schon immer so» gehandhabt wurde oder «es sich so gehört», bedeutet das nicht, dass diese Dinge tatsächlich so bedeutsam sind, um sie mit allen Mitteln umzusetzen. Betreuungspersonen müssen offenbleiben und kritisch reflektieren, um Ziele wenn nötig fallen zu lassen.

Drittens lässt uns die Analyse der Bedeutsamkeit eines Ziels für eine Person über unseren eigenen Erfahrungshorizont hinausdenken. Bei dieser Analyse wird davon ausgegangen, was die betroffene Person als gutes Leben begreift. Das rückt den betroffenen Menschen stärker in den Mittelpunkt. Wenn irgendwie möglich, sollen die betroffenen Personen direkt in den Prozess einbezogen werden, sodass sie ihre Sichtweisen, Wünsche und Bedürfnisse einbringen können.

Die kategorischen Fragen der Gewalt können in allen Situationen eingesetzt werden, in denen eine Zwangsmassnahme in Betracht gezogen wird. Das Modell kann eine Betreuungsperson allein nutzen oder es kann in der Gruppe diskutiert werden. Letzteres hilft, ein möglichst differenziertes Bild zu erhalten. Dafür braucht es Freiräume, in denen Situationen ausgiebig besprochen, analysiert und wesentliche Begriffe geklärt werden können. Ethische Richtlinien bieten in diesen Diskussionen eine hilfreiche Orientierung (Tratter, 2013).

In der Betreuung ist die Beziehung zu den anvertrauten Personen fundamental. Aus dieser Erkenntnis kann ein Leitgedanke für Interventionen formuliert werden: Jede Intervention, welche die Beziehung zu betreuten Personen gefährdet und die Vertrauensbildung derselben schädigt, ist falsch. Zwangsmassnahmen können die Beziehung zu betreuten Personen gefährden. Deshalb sind wir es allen betroffenen Menschen schuldig, diese Massnahmen umfassend und gut zu begründen und nur als letzte verbleibende Möglichkeit anzuwenden.

Mag. Dr. Elmar Tratter
freiberuflicher Philosoph und Lehrer Landesfachschule für Sozialberufe «Hannah Arendt», Bozen

Praktikumssupervisor, Universität Bozen

info@elmartratter.com

Literatur

Elvén, B. H. (2017). Herausforderndes Verhalten vermeiden: Menschen mit Autismus und psychischen oder geistigen Einschränkungen positives Verhalten ermöglichen (2. durchg. Aufl.). dgvt.

Heijkoop, J. (2014). Herausforderndes Verhalten von Menschen mit geistiger Behinderung: Neue Wege der Begleitung und Förderung (6. Aufl.). Beltz Juventa.

Regenbogen, A. & Meyer, E. (Hrsg.) (2013). Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Meiner.

Theunissen, G. (2021). Geistige Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten: Basiswissen für Erziehung, Unterricht, Förderung und Therapie (7. aktual. u. erw. Aufl.). UTB-Klinkhardt.

Tratter, E. (2013). Ethik in der Heilerziehungspflege. Bildungsverlag Eins.

  1. Dieses Beispiel und alle anderen in diesem Artikel stammen aus der Praxis.

  2. Eine Vorlage für eine solche Analyse finden Sie hier: www.elmartratter.com/kfg-vorlage.pdf