Kinder vor Vernachlässigung schützen

Frühe Förderung für vulnerable Familien mit «PAT – Mit Eltern lernen»

Andrea Lanfranchi und Barbara Steinegger

Zusammenfassung
Rund zehn Prozent der Kinder wachsen in der Schweiz in vernachlässigenden Familienstrukturen auf. Es ist ein Teufelskreis: Soziale Belastungen sind ein Risiko in Bezug auf Kindeswohl und Schulerfolg, und Kindeswohlgefährdung sowie Schulmisserfolg sind ein Risiko für spätere Belastungen wie Armut und Behinderung. Im Artikel zeigen wir auf, wie dieser Teufelskreis durchbrochen werden kann; nämlich mit frühzeitigen Massnahmen zur Stärkung von Familien in Risikosituationen. Die longitudinale Studie ZEPPELIN untersucht die Wirksamkeit des Hausbesuchsprogramms «PAT – Mit Eltern lernen», das mit einem Praxiseinblick vorgestellt wird.

Résumé
En Suisse, environ dix pour cent des enfants grandissent dans des structures familiales négligentes. Or le stress psychosocial vécu par les familles comporte un risque pour les enfants, en diminuant leur bienêtre et en impactant leur réussite scolaire. Il s’agit d’un cercle vicieux, car la mise en danger du bien de l’enfant et l'échec scolaire entrainent pour la famille un stress ultérieur, par exemple en contribuant au développement de situations de handicap ou de pauvreté. Dans cet article, il est montré comment ce cercle vicieux peut être brisé grâce à la mise en place de mesures précoces visant à renforcer les familles à risque. L'étude longitudinale ZEPPELIN examine l'efficacité du programme de visites à domicile « PAT – Mit Eltern lernen » (apprendre avec les parents), qui est présenté au travers d’un aperçu pratique.

Keywords : Erziehung in der Familie, Kleinkind, soziale Benachteiligung, Förderung, Prävention / éducation par la famille, enfant du premier âge, désavantage social, encouragement, prévention

DOI : https://doi.org/10.57161/z2023-03-03

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 29, 03/2023

Creative Common BY

Vernachlässigtes Kindeswohl

Eine Häufigkeitsschätzung von psychosozialen Belastungen von Eltern sowie Regulationsstörungen von Säuglingen in den ersten Jahren nach Geburt ergibt, dass etwa 20 Prozent der Eltern einer deutschen Zufallsstichprobe starke oder sehr starke Alltagsbelastungen erleben (Bolster et al., 2021). Bei solchen Belastungen und Symptomen im Alltag von Eltern mit kleinen Kindern ist das Risiko ihrer Vernachlässigung als eine Form der Kindeswohl- sowie Entwicklungsgefährdung sehr hoch. Nach früheren Schätzungen wachsen rund zehn Prozent aller Kinder in vernachlässigenden Strukturen auf (Deegener, 2005). Gemessen an den jährlichen Geburtenzahlen wären in der Schweiz ungefähr 8000 Kinder betroffen. Aktuelle Zahlen in der Schweiz gehen von einem kleineren Anteil von drei bis fünf Prozent der Kinder aus, die wegen Vernachlässigung bei einer Kinderschutzorganisation erfasst wurden (Optimus Studie, 2018, S. 25). Diese Zahl ist im internationalen Vergleich tief und dürfte mit der Erhebungsmethode zu tun haben: Die Vernachlässigung als Kategorie von Kindeswohlgefährdung ist im Vergleich zu anderen Formen wie körperliche oder psychische Misshandlung oder sexueller Missbrauch schwieriger einzuordnen. Sie wurde in der zitierten Optimus-Studie auch unter nicht präzisierten «anderen Gründen» erfasst. Wie auch immer: Nicht alle in ihrem Wohl gefährdeten Kinder erhalten überall den gleichen Schutz, und nur 2 bis 3,3 Prozent aller in der Schweiz lebenden Kinder werden wegen Kindeswohlgefährdung an eine darauf spezialisierte Organisation überwiesen (ebd., S. 21).

Das ruft nach sonder- und sozialpädagogischen Präventionsmassnahmen, um Schutzfaktoren wie etwa unterstützende Frühinterventionen für Eltern und Kind aufzubauen. Die Pionierin der Resilienzforschung Emmy E. Werner hat bereits nach den ersten Resultaten ihrer Kauai-Langzeitstudie in den 1970er-Jahren die Notwendigkeit früher Interventionsprogramme betont (Werner et al., 1971). Sie benannte als Zielgruppe solcher Programme folgende sechs Gruppen von Kindern, die sie als besonders vulnerabel einschätzte, «weil ihnen, zeitweise oder dauerhaft, einige der wesentlichen sozialen Bindungen fehlen, die Stress abzupuffern scheinen» (Werner, 1990, S. 12):

Ein zukunftsweisendes Präventionsprogramm

Das Frühförderprogramm «PAT – Mit Eltern lernen» wurde für sozial belastete Eltern, speziell auch für solche mit Migrationshintergrund entwickelt. Es wird seit einigen Jahren in mehreren Kantonen, Städten und Gemeinden der deutsch- und italienischsprachigen Schweiz erfolgreich durchgeführt (siehe Tab. 1). [1]

Tabelle 1: PAT-Angebote in den verschiedenen Kantonen

Kanton

Gemeinden

Organisation

Webseite

ZH

ganzer Kanton

zeppelin – familien startklar

www.zeppelin-familien.ch

TG

Frauenfeld

zeppelin – familien startklar

www.zeppelin-familien.ch

SG

Stadt St. Gallen,

einzelne Gemeinden

Ostschweizer Verein für das Kind (OVK)

www.ovk.ch

BS

Basel-Stadt

Zentrum für frühe Förderung (ZFF)

www.jfs.bs.ch/ueber-uns/kinder-und-jugenddienst/zentrum-fruehfoerderung/pat.html

ZG

Stadt Zug

Verein Punkto

https://punkto-zug.ch

GR

Chur, Davos

Pro Junior

www.projunior-gr.ch

TI

ganzer Kanton

Progetto Genitori

www.pat-ti.ch

Im Zentrum des Programms stehen regelmässige Hausbesuche: Eine Fachfrau der Berufsrichtungen Mütterberatung, Sonder- oder Sozialpädagogik oder Psychologie mit PAT-Zertifizierung besucht die Familie im Durchschnitt alle zwei Wochen (ab Schwangerschaft oder Geburt des Kindes) während drei Jahren und stärkt die Eltern in ihrem Erziehungsalltag. Ein zweites Programmelement sind die Gruppenangebote, die einmal im Monat stattfinden und dazu dienen, Erfahrungen auszutauschen, von anderen Eltern zu lernen und das Kind in der Kindergruppe zu beobachten. Im Weiteren werden Netzwerke aufgebaut: PAT schafft Zugänge zu Einrichtungen wie zum Beispiel Bibliotheken, Familienzentren, Eltern-Treffs, Deutschkurse oder spezifische Fachstellen. Schliesslich stellt PAT sogenannte Screenings zur Verfügung. Diese unterstützen die Elterntrainerin und die Eltern darin, Entwicklungsbereiche wie Sprache, Kognition, Motorik und die Gesundheit des Kindes einzuschätzen und kritische Bereiche, die eine Fachuntersuchung und bei Bedarf spezifischere Angebote erfordern, zu identifizieren.

Langfristige Wirksamkeit

PAT wird im Rahmen der longitudinalen Studie ZEPPELIN (2011−2033) eng wissenschaftlich begleitet. [2] In der Studie stehen folgende Fragen im Zentrum (Neuhauser et al., 2015): Welche Langzeitwirkungen zeitigt eine frühe Förderung auf die Entwicklung von Kindern aus Familien in psychosozialen Risikokonstellationen? Über welche Wirkmechanismen kommen diese Effekte innerhalb der Familien zum Tragen?

Um diese Fragen zu beantworten, wurden verschiedene Verfahren eingesetzt, um mittels Vergleichs zwischen der Interventionsgruppe (132 Kinder: mit PAT unterstützt) und der Kontrollgruppe (116 Kinder: ohne Förderprogramm) Einflüsse auf die Entwicklung der Kinder zu erheben. Zwischen dem dritten und dem sechsten Lebensmonat wurden in Interviews mit den Eltern die Belastungs- und Schutzfaktoren eingeschätzt. Ab dem dritten Lebensmonat wurde die Qualität der Eltern-Kind-Interaktionen von den Studienleiter:innen mittels Videoanalysen beurteilt. In den ersten drei Jahren, möglichst zeitnah am Geburtstag der Kinder, wurden Entwicklungstests durchgeführt. Erhoben wurden auch die elterliche Erziehungskompetenz und die Qualität der Anregungen im häuslichen Umfeld (ZEPPELIN 0−3: 2011−2015, also zwischen 0 und 3 Jahren).

Die erste Folgeuntersuchung (Follow-up) folgte während der Transition zur Primarstufe im 1. und 2. Kindergartenjahr sowie in der 1. Klasse und mit einem Forschungsbesuch zu Hause während der 2. Klasse (ZEPPELIN 5−8: 2016−2020). Das zweite Follow-up ist mit Erhebungen in der 3. Klasse gestartet. Es wird die Transition zur Sekundarstufe I in der 6. Klasse sowie in der 1. Oberstufe umfassen (ZEPPELIN 9−13: 2021−2026). Das 3. Follow-up wird die Transition zur Sekundarstufe II untersuchen, die 3. Oberstufe und das erste Lehr- oder Mittelschuljahr (ZEPPELIN 15−16: 2027−2028). Schliesslich soll das vierte geplante Follow-up auf der Tertiärstufe rund um das 20. Lebensjahr Aufschluss geben über die Langzeitwirkung von ZEPPELIN im Übergang zum Beruf (ZEPPELIN 20: 2031−2033).

Die bisherigen Resultate sind ermutigend. Die Daten zeigen, dass die frühe Förderung in einer belasteten Stichprobe auch drei Jahre nach Interventionsende weiterhin positiv wirkt: Kurz vor ihrer Einschulung zeigen die Kinder mit PAT bessere Deutsch- und Mathematikkompetenzen, eine höhere Impulskontrolle und weniger Verhaltensprobleme. Auf der Ebene der Erziehungskompetenz zeigen sich positive Befunde im Bereich der häuslichen Lernanregungen: Eltern der Interventionsgruppe bieten ihren Kindern eine förderlichere Lern-umwelt als Eltern aus der Kontrollgruppe (Schaub et al., 2021). Zum Beispiel ist in der Wohnung mehr Spielzeug vorhanden, mit dem Zahlen, Farben, Grössen und Formen gelernt werden können. Die Eltern basteln mit dem Kind oder üben Kinderreime mit ihm. Weitere Erkenntnisse aus dem Projekt haben gezeigt, dass Kinder in der Interventionsgruppe einen geringeren Level an Methylierung (ein biologischer Marker für Stress in der frühen Kindheit) im Vergleich zur Kontrollgruppe aufweisen (Gardini et al., 2020). Zudem zeigt sich in den Videoanalysen von Spielinteraktionen, dass sich Mütter, die mit PAT unterstützt wurden, ihrem Kind gegenüber feinfühliger verhalten. Dies wiederum hat die Sprachentwicklung der Kinder im Alter zwischen zwei und drei Jahren positiv beeinflusst (Neuhauser et al., 2018). Aktuell werden die Daten aus der 1. und 3. Klasse ausgewertet (verschiedene Publikationen sind in Vorbereitung). Zu allen Messzeitpunkten relativ stabil und signifikant sind Effekte auf der Ebene der Impulskontrolle, diese ist sehr wichtig für den weiteren Schulverlauf. Kontinuierlich positive Effekte bis zum Ende des ersten Schuljahres zeigen sich in den sozial-emotionalen und in den kognitiven Kompetenzen: Nach Beurteilung der Lehrpersonen sind Kinder mit PAT signifikant weniger hyperaktiv als solche aus der Kontrollgruppe. Auch die Mathematikleistungen der Kinder aus hochbelasteten Familien sind signifikant besser, wenn sie in den ersten drei Jahren mit PAT gefördert wurden, als wenn sie ausschliesslich die üblichen Unterstützungsmassnahmen in der Gemeinde erhalten haben (wie z. B. Elternberatung oder Sozialhilfe), aber ohne Förderprogramm geblieben sind. Diese Ergebnisse sind vielversprechend vor dem Hintergrund des langfristigen Ziels, Kinder aus sozial belasteten Familien wirksam und langfristig zu stärken, um damit ihre Bildungschancen zu erhöhen.

Praxiseinblick – Familie B.

Nebiat [3] , das erste Kind der aus Eritrea stammenden Familie B., ist vor drei Wochen geboren. Die Eltern berichten der Mütter- und Väterberaterin, dass sie sich zwar über die Geburt ihrer Tochter freuen, sich aber mit der neuen Lebenssituation überfordert fühlen. Sie hätten keine Unterstützung aus ihrem Umfeld, da ihre Familien nicht in der Schweiz leben. Herr B. macht sich Sorgen darüber, ob er mit seinem bescheidenen Einkommen alle Rechnungen wird bezahlen können. Der Mütterberaterin fällt auf, dass Frau B. antriebsarm wirkt und wenig Blickkontakt zum Baby aufnimmt. Sie erkennt, dass Familie B. eher isoliert lebt und wenig vernetzt ist. Die Fachperson beobachtet bei dieser Familie weitere psychosoziale Risiken wie eine sehr enge Wohnung an einer verkehrsreichen Strasse und empfiehlt deshalb die präventive Frühförderung mit PAT. Kinder aus mehrfach belasteten Familien laufen nämlich Gefahr, durch die psychischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen der Umwelt in ihrer Entwicklung in einem solchen Mass gehemmt oder gestört zu werden, dass sie später deutliche Entwicklungsverzögerungen, Lernbehinderungen oder Verhaltensstörungen zeigen (Lanfranchi & Neuhauser, 2013).

Wie funktioniert PAT? Eine zertifizierte Fachfrau, die wir Elterntrainerin nennen, besucht die Familie B. zweimal im Monat. Die Hausbesuche dauern eine gute Stunde und basieren auf drei Schwerpunkten: Erstens soll die Eltern-Kind-Interaktion gestärkt werden. Zu diesem Zweck bringt die Elterntrainerin eine entwicklungsfördernde Spielidee mit. Sie regt die Eltern an, gemeinsam mit der inzwischen drei Monate alten Nebiat Zeit auf dem Boden zu verbringen und das Baby dabei auch auf den Bauch zu legen. Die Eltern motivieren die Kleine, den Kopf anzuheben und sich dem Geräusch zuzuwenden, indem sie mit einer kleinen PET-Flasche rasseln, die sie zuvor mit wenig Reis gefüllt haben. Nebiat trainiert so ihre Motorik sowie ihren Orientierungssinn und die Eltern erkennen, dass auch gewöhnliche Alltagsgegenstände im Haushalt für Spiel und Förderung eingesetzt werden können. Gemeinsam haben sie Spass, kommunizieren miteinander und stärken so ihre Bindung. Bei diesen Eltern-Kind-Interaktionen lernen die Eltern, den Fokus auf den Prozess und weniger auf das Resultat zu legen. Die Eltern werden darin unterstützt, eine entwicklungsanregende Lernumgebung für das Kind zu gestalten und so die Förderung im Alltag spielerisch einzubauen. Zudem bespricht die Elterntrainerin mit den Eltern die Entwicklung des Kindes und regt sie an, ihre Tochter genau zu beobachten. Was denken die Eltern, was lernt sie als Nächstes? Was interessiert sie besonders? Wie reagiert Nebiat, wenn die Mutter mit ihr spricht? Mithilfe verschiedener Instrumente wie zum Beispiel mit dem Fragebogen für das momentane Entwicklungsprofil schätzt die Elterntrainerin regelmässig die kindliche Entwicklung ein. Sie hat damit die Möglichkeit, bereits frühzeitig Entwicklungsabweichungen zu erkennen. Gemeinsam mit den Eltern und in der interdisziplinären Zusammenarbeit mit dem Kinderarzt oder der Kinderärztin kann sie dabei erforderliche Massnahmen empfehlen, wie etwa Heilpädagogische Früherziehung. Ein besonderes Augenmerk legt die Elterntrainerin auf die Sprachentwicklung des Kindes. Sie bringt zu jedem Besuch leihweise ein Bilderbuch mit, heute zum Thema Geräusche. Sie leitet Herrn und Frau B. an, das Buch mit Nebiat anzuschauen und mit ihr in der Muttersprache (Tigrinya) darüber zu sprechen. Sie motiviert die Eltern, diese gemeinsamen «Lesezeiten» bis zu ihrem nächsten Hausbesuch regelmässig zu wiederholen. Mit PAT werden viele fremdsprachige Familien unterstützt, daher hat die Förderung der Sprache von Anfang an eine zentrale Bedeutung für die Integration der Kinder und ihrer Eltern. Eine gute Basis in der Erstsprache unterstützt erwiesenermassen den Erwerb der Zweitsprache Deutsch.

Der zweite Schwerpunkt jedes Hausbesuchs ist das entwicklungsorientierte Erziehungsverhalten. Fragen der Eltern zu den Themen Schlafen, Ernährung, Gesundheit, Bindung, Grenzen setzen, Sicherheit und Übergange werden diskutiert. Hier unterstützt die Elterntrainerin die Eltern, den beobachteten Entwicklungsstand des Kindes in Zusammenhang zum kindlichen Verhalten zu stellen. Sie stärkt das angepasste, feinfühlige Reagieren auf die Kinder.

Unter dem dritten Schwerpunkt, dem Wohl der Familie, arbeitet die Elterntrainerin gemeinsam mit den Eltern an Themen, welche die ganze Familie betreffen. Frau B. fühlt sich noch immer nicht erholt von der Geburt und hat Schlafstörungen. Da sie noch keinen Hausarzt hat, unterstützt die Elterntrainerin die Mutter beim Zugang zum Gesundheitssystem. Weitere Themen können sein: Kennen die Eltern die Angebote für Familien in der Gemeinde? Besteht Anspruch auf finanzielle Unterstützung? Die Elterntrainerin stärkt die Eltern darin, ihre eigenen Ressourcen zu aktivieren, um Belastungen zu reduzieren und Schutzfaktoren aufzubauen. Dabei entsteht für die Eltern Schritt für Schritt mehr Raum, die Bedürfnisse ihres Kindes im Alltag wahrzunehmen und auf diese angepasst zu reagieren.

Wie werden die Familien erreicht?

Die Frühförderung mit PAT richtet sich an sozial belastete Schwangere und Eltern mit einem Säugling, die in einer der in Tabelle 1 aufgeführten Kantone und Gemeinden wohnen und sich Unterstützung wünschen. Angesprochen sind Familien, die sich aufgrund finanzieller Engpässe, ungeeigneter Wohnverhältnisse, sozialer Isolation oder gesundheitlicher Probleme eines Elternteils in einer schwierigen Situation befinden; ebenso wie junge, alleinerziehende Mütter oder Väter sowie Familien mit einem Kind, das aufgrund einer schweren Geburt oder Krankheit ein Entwicklungsrisiko aufweist. Auch Familien nach Migration oder Flucht mit niedrigem Bildungsstatus und mit wenig Deutschkenntnissen gehören zur Zielgruppe. Erreicht werden sie über die Sozialdienste in der Geburtsstation oder die Hebamme, den Kinderarzt oder die Kinderärztin, die Mütter- und Väterberatung sowie weitere Fachpersonen rund um die Geburt, die idealerweise in einem familienzentrierten interdisziplinären Team vernetzt sind (Hafen & Meier Magistretti, 2021).

Ausblick

Gerade jetzt in der laufenden hitzigen und kritischen Diskussion rund um die Herausforderung der inklusiven Schule, der zunehmenden Belastungen von Lehrpersonen und des Fachkräftemangels, insbesondere auch bei Schulischen Heilpädagog:innen und Logopäd:innen, wird die Bedeutung der frühen Prävention von Lern- und Verhaltensschwierigkeiten klar ersichtlich. Von der Volksschule sind keine Wunder zu erwarten, wenn die Leistungen sowie auch die sozial-emotionale Entwicklung von Kindern bereits vor der Einschulung derart divergieren: Einzelne Fünfjährige im Kindergarten haben bereits die Ziele der ersten Klasse erreicht, während sich andere in der Schulsprache kaum auszudrücken vermögen und keine zehn Minuten stillsitzen können. Die Schule braucht Entlastungsmassnahmen. Wer langfristig wirksam etwas gegen die ungleich verteilten Bildungschancen unternehmen möchte, muss in den ersten drei Lebensjahren aktiv werden, weil dort nachweislich die grössten Effekte zu erwarten sind. Genau darin liegt der Beitrag der longitudinalen Studie ZEPPELIN, die in den letzten Jahren das Potenzial der Prävention aufgezeigt hat und auch in den nächsten Jahren die Wirkung der frühen Förderung im Längsschnitt weiter untersuchen wird. Dazu gehört auch eine systematische Kosten-Nutzen-Analyse, die in interdisziplinärer Kooperation mit Ökonom:innen der Universitäten Zürich und Mainz im Sommer 2023 startet. Gleichzeitig werden die Resultate aus der Forschung für die Praxis dadurch genutzt, dass die frühe Förderung mit PAT dank externer Trägerschaften in mehreren Kantonen und in allen Landesteilen umgesetzt wird (ein scaling-up in der Romandie wird zurzeit geprüft).

Ein Blick in die Zukunft, gestützt auf das obige Fallbeispiel: Den jungen eritreischen Eltern gelingt es, trotz ungünstiger Startchancen eine gute Bindung zu ihrem Kind aufzubauen. Auch dank Unterstützung der PAT-Elterntrainerin sind sie in der Lage, das Kind so zu erziehen, zu betreuen und zu bilden, dass es gesund aufwachsen und später altersgemäss in die Schule eintreten kann. Dank den Hausbesuchen der Elterntrainerin und der Gruppentreffen mit anderen Eltern ist die nicht erwerbstätige Mutter nun besser vernetzt, selbstsicherer und in ihren Erziehungsaufgaben gestärkt.

Prof. em. Dr. Andrea Lanfranchi

Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik (HfH)

Fachpsychologe für Kinder- und Jugendpsychologie FSP

Supervisor

andrea.lanfranchi@em.hfh.ch

Barbara Steinegger

frühere Co-Geschäftsleiterin von zeppelin – familien startklar

Mütterberaterin HF

PAT-Elterntrainerin

PAT-Schulungsleiterin

steinegger@steinegger-kubli.ch

www.zeppelin-familien.ch

Literatur

Bolster, M., Fricke, J., Roll, S., Berghöfer, A., Reinhold, T., Vienhues, P., Ludwig-Koerner, C., Kuchinke, Schlensog-Schuster, F. & Keil, T. (2021). Häufigkeit von psychosozialen Belastungen von Eltern sowie Regulationsstörungen von Säuglingen in den ersten Jahren nach Geburt − erste, vorläufige Ergebnisse der SKKIPPI Kohortenstudie. Das Gesundheitswesen, 83 (08/09), 742−743. https://doi.org/10.1055/s-0041-1732263

Deegener, G. (2005). Formen und Häufigkeiten der Kindesmisshandlung. In G. Deegener & W. Körner (Hrsg.), Kindesmisshandlung und Vernachlässigung. Ein Handbuch (S. 37−58). Hogrefe.

Gardini, E., Schaub, S., Neuhauser, A., Ramseier, E., Villiger, A., Ehlert, U., Lanfranchi, A. & Turecki, G. (2020). Methylation of the glucocorticoid receptor promoter in children: Links with parents as teachers, early life stress, and behavior problems. Development and Psychopathology, 34 (3), 810−822. https://doi.org/10.1017/S0954579420001984

Hafen, M. & Meier Magistretti, C. (2021). Familienzentrierte Vernetzung in der Schweiz. Eine Vorstudie vor dem Hintergrund der «Frühe Hilfen»-Strategie in Österreich. Hochschule Luzern, Soziale Arbeit. www.hslu.ch/de-ch/hochschule-luzern/forschung/projekte/detail/?pid=4254

Lanfranchi, A. & Neuhauser, A. (2013). ZEPPELIN 0−3: Theoretische Grundlagen, Konzept und Implementation des frühkindlichen Förderprogramms „PAT –Mit Eltern Lernen“. Frühe Bildung, 2 (1), 3−11. https://doi.org/10.1026/2191-9186/a000071

Neuhauser, A., Ramseier, E., Schaub, S., Burkhardt, S. C. A. & Lanfranchi, A. (2018). The mediating role of maternal sensitivity: Enhancing language development in at-risk families. Infant Mental Health Journal, 39 (5), 522−536. https://doi.org/10.1002/imhj.21738

Neuhauser, A., Ramseier, E., Schaub, S., Burkhardt, S. C. A., Templer, F. & Lanfranchi, A. (2015). Hard to reach families – A methodological approach to early recognition, recruitment, and randomization in an intervention study. Mental Health & Prevention, 3 (3), 79−88. https://doi.org/10.1016/j.mhp.2015.07.002

Optimus Studie (Hrsg.) (2018). Kindeswohlgefährdung in der Schweiz. Formen, Hilfen, fachliche und politische Implikationen . UBS Optimus Foundation.

Schaub, S., Eberli, R., Ramseier, E., Neuhauser, A. & Lanfranchi, A. (2021). Förderung ab Geburt mit dem Programm «PAT – Mit Eltern Lernen»: Effekte im ersten Kindergartenjahr. Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften, 43 (2), 285−296. https://doi.org/10.24452/sjer.43.2.8

Werner, E. E. (1990). Protective factors and individual resilience. In S. J. Meisels & J. P. Shonkoff (Eds.), Handbook of early childhood intervention (pp. 97−116). Cambridge Univ. Press.

Werner, E. E., Bierman, J. M. & French, F. E. (1971). The Children of Kauai. A longitudinal study from the prenatal period to age ten. University of Hawai’i Press.

  1. Die für die Praxisumsetzung im Kanton Zürich zuständige Organisation heisst «zeppelin − familien startklar». Einblick in die konkrete Arbeit mit Familien bieten die beiden Filme: für Fachpersonen «Eltern stärken − Kinder fördern – von Anfang an» https://zeppelin-familien.ch ; für Eltern «Unterwegs mit einer Elterntrainerin» https://zeppelin-familien.ch/videos .

  2. Die ZEPPELIN-Studie der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) wird mitfinanziert vom Schweizerischen Nationalfonds , vom Gemeinnützigen Fonds des Kantons Zürich (ehemals Lotteriefonds ), vom Staatssekretariat für Migration und von verschiedenen Stiftungen (Jacobs Foundation, Stiftung Mercator Schweiz, Ernst Göhner Stiftung, Paul Schiller Stiftung, Vontobel-Stiftung).

  3. Name anonymisiert