Auf dem Weg zur gesetzlichen Verankerung einer gewaltfreien Erziehung von Kindern und Jugendlichen

Ein Gespräch mit Brigitte Schöbi vom Institut für Familienforschung und -beratung der Universität Freiburg

Tamara Carigiet

Einführung
In der Schweiz werden seit drei Jahrzehnten Daten zum Thema «Gewalt an Kindern» erhoben. Im Jahr 2020 wurde das Bestrafungsverhalten der Eltern zum dritten Mal genauer untersucht. Im November 2022 wurde in der Schweiz auf politischer Ebene ein starkes Zeichen für eine gewaltfreie Erziehung gesetzt, indem der Ständerat die Motion «Gewaltfreie Erziehung im ZGB verankern» annahm. Aus diesem aktuellen Anlass hat das SZH ein Interview mit Brigitte Schöbi geführt. Frau Schöbi ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Familienforschung und -beratung (IFF) der Universität Freiburg und Mitautorin der vom Kinderschutz Schweiz in Auftrag gegebenen Studien zum Bestrafungsverhalten von Eltern in der Schweiz.

Introduction
La Suisse collecte des données sur la violence envers les enfants depuis trois décennies. En 2020, le comportement punitif des parents a fait l’objet d’une étude spécifique pour la troisième fois et en novembre 2022, le niveau politique a donné un signal fort en faveur d'une éducation sans violence, puisque la motion « Inscrire l'éducation sans violence dans le CC » déposée au Conseil national a également été adoptée par le Conseil des États. À cette occasion, le CSPS a réalisé une interview avec Brigitte Schöbi. Madame Schöbi est collaboratrice scientifique à l’Institut de Recherche et de Conseil dans le Domaine de la Famille (IFF) de l'Université de Fribourg et co-autrice des études mandatées par la fondation Protection l'enfance Suisse sur le comportement punitif des parents en Suisse.

Keywords : Erziehung in der Familie, Gewalt, Strafe, Prävention / éducation par la famille, violence, punition, prévention

DOI : https://doi.org/10.57161/z2023-03-02

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 29, 03/2023

Creative Common BY

SZH: Frau Schöbi, können Sie uns mehr zu den Studien über Gewalt und Bestrafungsverhalten der Stiftung Kinderschutz Schweiz und deren Hintergrund erzählen? Was sind die Ziele der Studien und wie sieht deren Vorgehen aus?

Brigitte Schöbi: Die Studien zum Bestrafungsverhalten von Eltern in der Schweiz laufen seit über 30 Jahren, erstmals durchgeführt wurde die Erhebung im Jahr 1990. [1] Initiiert wurden die Untersuchungen im Auftrag des Parlaments aufgrund eines Postulats. Dieses forderte Hintergrundwissen zur Verwendung der Körperstrafe und zum Umfang von Kindsmisshandlungen in der Schweiz. Die erste Studie im Jahr 1990 wurde zusammen mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) durchgeführt. Ab 2017 übernahm die Stiftung Kinderschutz Schweiz den Auftrag zur Planung und Durchführung. Unterstützt wurde und wird Kinderschutz Schweiz vom Institut für Familienforschung und -beratung der Universität Freiburg . Das Hauptziel der Studien ist es, zahlenmässige (quantitative) sowie repräsentative Aussagen zu machen über Erziehungsmassnahmen in Familien in der Schweiz. Im Jahr 2020 wollte Kinderschutz Schweiz zudem erfahren, wie ihre Präventions- und Sensibilisierungskampagnen [2] in der Bevölkerung angekommen sind.

Die Studien behandeln das Thema Gewalt in den Familien respektive das Bestrafungsverhalten von Eltern. Wen haben Sie mit diesen Studien angesprochen? Wer wurde befragt?

In den letzten Erhebungen wurden jeweils Eltern aus den drei grössten Sprachregionen befragt (Deutschschweiz, Westschweiz, Tessin, ohne rätoromanische Schweiz). Es handelt sich um Mütter oder Väter, die ein Kind zwischen 0 und 15 Jahren haben. Die Eltern wurden zufällig ausgewählt und telefonisch kontaktiert. Die Erhebungen werden jeweils von einem Meinungsforschungsinstitut durchgeführt, die Universität Freiburg hat die Auswertungen vorgenommen und die Berichte verfasst. Da das Instrumentarium schon mehrfach eingesetzt worden ist, können die Daten über die Zeit hinweg verglichen werden. Die Instrumente wurden und werden aber auch laufend weiterentwickelt. So wurden unter anderem neue Schwerpunkte aufgenommen, wie zum Beispiel die Wahrnehmung der Eltern bezogen auf die rechtliche Situation zu Gewalt in der Erziehung.

Kommen wir zu den eigentlichen Inhalten der Studien. Sie haben verschiedene Formen von Bestrafung respektive von Gewalt in den Berichten unterschieden. Können Sie unseren Leser:innen hierzu etwas mehr erzählen?

«Gewalt» wird unterschiedlich definiert. Für Blum-Maurice et al. (2000, S. 2) ist Gewalt eine «nicht zufällige, gewaltsame psychische und/oder physische Beeinträchtigung oder Vernachlässigung des Kindes, die das Kind schädigt, verletzt, in seiner Entwicklung hemmt oder zu Tode bringt». Sie beinhaltet immer eine Verletzung der Würde des Kindes. Damit sind Handlungen der Eltern gemeint, welche die Integrität des Kindes verletzen und auch dessen Grundbedürfnisse infrage stellen und beeinträchtigen (z. B. Bedürfnis nach Sicherheit, nach Schutz, nach Dazugehören oder nach Interaktion). Basierend auf dieser Definition unterscheiden wir physische und psychische Formen von Erziehungsmassnahmen . Physische Massnahmen wären etwa das Kind zu ohrfeigen, kalt abzuduschen, es an den Haaren zu ziehen und es mit oder ohne Gegenstand zu schlagen. Psychische Formen von Gewalt wären etwa das Kind lächerlich zu machen oder blosszustellen, zu drohen, dass man es ins Heim gibt, heftig zu beschimpfen oder zu sagen oder zeigen, dass man es nicht mehr gern hat.

Wenn Sie grob einen Überblick geben über die Häufigkeit von Körperstrafen und psychischen Strafen: Was kommt wie oft vor und was ist häufiger in den Familien?

Psychische Strafen kommen insgesamt am häufigsten vor: Etwa 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen kennen psychische Formen der Gewalt. Allerdings sind hier auch diejenigen Kinder und Jugendlichen inbegriffen, die dies nur selten erfahren. Rund 10 Prozent erleben regelmässig psychische Formen der Gewalt. Körperliche Gewalt ist weniger häufig. Dennoch müssen wir davon ausgehen, dass 30 bis 35 Prozent der Kinder physische Gewalt in der Erziehung kennen. Etwa 3 bis 4 Prozent der Kinder erleben regelmässig körperliche Strafen.

Kann man den Angaben der Eltern zur Bestrafung ihrer Kinder «vertrauen» oder haben Eltern aus Gründen wie etwa der sozialen Erwünschtheit vielleicht auch die Tendenz zu beschönigen oder zu «flunkern»?

Ja, diese Möglichkeit besteht, das kann man nicht ganz ausschliessen. In früheren Erhebungen haben wir auch Offenheitsskalen verwendet (sog. «Lügenskalen»), um die Tendenz zu sozial erwünschten Antworten zu eruieren. Dabei zeigte sich, dass solche Tendenzen vernachlässigbar waren. Zudem haben wir die Daten anonymisiert erhoben und die Gewalt direkt und indirekt ermittelt. Zum Beispiel haben wir die Eltern direkt danach gefragt, wie häufig es vorkommt, dass sie ihre Kinder an den Haaren ziehen. Wir fragten aber auch indirekt , wann sie die verschiedenen Bestrafungsarten (u. a. an den Haaren ziehen) zum letzten Mal angewendet haben. Wenn man die Antworten vergleicht, merkt man, dass die Elternangaben recht gut übereinstimmen. Wenn man allerdings die Jugendlichen selbst befragen würde, dann könnten die Zahlen auch höher ausfallen − darauf deuten zumindest andere Studien hin (z. B. Baier et al., 2018). Zu höheren Zahlen bei solchen Berichten aus der Perspektive der Opfer kann aber auch ein Retrospektions- Bias [=Verzerrung] beitragen: So nehmen affektiv stark besetzte Inhalte in der Erinnerung oft mehr Platz ein. In unseren Studien wird die Perspektive der Kinder und Jugendlichen nicht erfasst.

Auf den ersten Blick scheint es vielleicht, dass psychische Strafen weniger gravierend sind für die Kinder und Jugendlichen als physische Körperstrafen wie Schläge oder Ohrfeigen. Wie schätzen Sie dies ein? Sind die Auswirkungen vergleichbar?

Man kann nicht generell sagen, was für die Betroffenen «schlimmer» ist. Grundsätzlich müssen wir leider davon ausgehen, dass die Formen gemischt auftreten. Dies bedeutet, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen häufig beides erleben. Bei massiver körperlicher Gewalt ist eine unmittelbare Verletzungsgefahr vorhanden. Bei psychischer Gewalt sieht man die Verletzung zwar häufig nicht unmittelbar, das ist schon ein Unterschied. Aber die Folgen körperlicher Gewalt sind so, dass bei den Betroffenen die Gewalt ins eigene Verhaltens- und Erwartungsrepertoire aufgenommen wird. Das heisst, man wird mit höherer Wahrscheinlichkeit selbst Täter:in und/oder bleibt Opfer. Andere Folgen können Verhaltensauffälligkeiten sein; zum Beispiel wird das Kind aggressiv oder depressiv, delinquent oder ängstlich. Schlechtere Schulnoten sind häufig auch ein Anzeichen. Die psychische Gewalt hat ähnliche Folgen. Auch sie führt dazu, dass eine Person Gewalt erwartet; zum Beispiel im späteren Erwachsenenleben in einer Partnerschaft. Psychische Gewalt führt insgesamt häufiger zu internalisierenden Folgen wie Depressionen und Ängstlichkeit, körperliche Gewalt eher zu externalisierenden Folgen wie Aggression oder Delinquenz.

Nun möchte ich gerne noch ein wenig über die Beweggründe sprechen. Wissen Sie etwas darüber, weshalb Eltern in der Erziehung ihrer Kinder Gewalt in Form von Körperstrafen oder psychischen Gewaltformen anwenden? Weshalb kommt es dazu?

Am häufigsten sind eskalierende Situationen der Auslöser. Die Eltern sagen dann zum Beispiel, das Kind hätte sie provoziert und genervt. Oder das Kind wollte nicht gehorchen. Gar nicht oder nur sehr selten wird ein Kind aufgrund von schlechten Schulnoten geschlagen oder wenn es nicht einschlafen kann oder etwas kaputt gemacht hat. Es ist eher so, dass die Eltern müde und überfordert sind und die Situation dann eskaliert.

Wenn es zu solchen eskalierenden Situationen kommt, wie etwa, dass die Eltern ihr Kind anschreien, erniedrigen oder gar schütteln: Sind sich die Eltern in solchen Situationen denn überhaupt bewusst, dass sie Gewalt anwenden? Und tut es den Eltern leid, oder rechtfertigen sie eher das eigene Verhalten? Wie beschreiben oder begründen die Eltern ihr Strafverhalten?

Die meisten Eltern, so die Ergebnisse unserer Studie, fühlen sich schlecht nach der Erziehungsmassnahme (z. B. nach dem Klaps oder der Ohrfeige). Sie haben ein schlechtes Gewissen und viele entschuldigen sich danach. Der Prozentsatz der Eltern, die dies so berichten, ist in den letzten Jahren zudem laufend gestiegen. Dies zeigt, dass etwas im Rechtsempfinden der Eltern geschehen ist. Ich gehe davon aus, dass es den allermeisten Eltern bewusst ist, wann sie Gewalt anwenden. Nur eine Minderheit ist der Meinung, dass Gewalt ein probates Mittel sei in der Erziehung. In der Erhebung 2017 haben wir die Eltern direkt danach gefragt, ob es Gewalt sei, wenn zum Beispiel eine Mutter ihrem Kind einen Klaps auf den Po gibt oder wenn ein Vater eine Ohrfeige oder eine Tracht Prügel erteilt. Dabei zeigte sich, dass die meisten Eltern, zwischen 80 bis 90 Prozent, die genannten Situationen als Gewalt bezeichnet haben. Mütter beurteilten die Situationen noch etwas häufiger als Gewalt als Väter. Auch eher psychische Bestrafungsformen wie das Kind blossstellen, lächerlich machen oder stundenlang einsperren, empfanden die meisten Eltern als Gewalt.

Brigitte Schöbi ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Familienforschung und -beratung an der Universität Freiburg. Im Auftrag von Kinderschutz Schweiz hat sie eine Studie über das Bestrafungsverhalten von Eltern in der Schweiz durchgeführt.

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Eigentlich wäre somit die Sensibilität der Eltern vorhanden – interpretiere ich das richtig? Und zwar für beide Formen von Gewalt; also auch Handlungen wie das Kind anzuschreien, bezeichnen die meisten Eltern als Gewalt. Das finde ich erstaunlich.

Ja, das würde ich auch sagen, die Sensibilität ist vorhanden. Aber anschreien zum Beispiel wird schon weniger häufig als Form von Gewalt bezeichnet als eine Tracht Prügel. Aber wie gesagt kann auch Anschreien eine Form von Gewalt sein.

Im Resultate-Bulletin 2022 ist detailliert dargestellt, welche Formen von Erziehungsmassnahmen die Eltern als legitim, das heisst als «von Gesetzes wegen erlaubt» erachten. Decken sich die Ergebnisse mit den Resultaten, über die Sie gerade berichtet haben?

Teils ja, teils nein. Wir wollten von den Eltern wissen, was sie gefühlsmässig als Gewalt beurteilen. Zudem haben wir die Eltern gefragt, was sie denken, welche Bestrafungsmassnahmen vom Gesetz her erlaubt sind. Das interessierte uns vor allem deshalb, weil die gesetzliche Lage hierzu in der Schweiz tatsächlich unklar ist; im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Staaten. In der Schweiz existiert bisher kein Verbot für Körperstrafen, wenn sie nicht zu sichtbaren Schäden führen. Im Umkehrschluss bedeutet dies also, es ist erlaubt. Das Bundesgericht hat tatsächlich solche Urteile gefällt. Es hat zum Beispiel entschieden, dass physische Gewaltakte oder körperliche Züchtigungen innerhalb der Familie keine Formen physischer Gewalt sind, wenn sie ein gewisses Mass, das von der Gesellschaft akzeptiert ist, nicht überschreiten. Aber da frage ich zurück: Was bedeutet «gesellschaftlich akzeptiert»? Es ist sehr schwierig und es besteht hier eine grosse Rechtsunsicherheit. Dem wollten wir nachgehen und herausfinden, was die Eltern denken, was gesetzlich erlaubt ist. Wir fanden es sehr spannend, dass nur schon in den fünf Jahren zwischen 2017 und 2022 die Eltern tatsächlich sensibilisiert wurden, gerade auch im Bereich von mittelschweren Strafen. Heute sagen mehr Eltern als zuvor, dass Handlungen wie eine Ohrfeige nicht erlaubt seien. Bei Formen schwerer, brachialer Gewalt sagen die allermeisten Eltern sowohl vor fünf Jahren wie auch heute, dass diese nicht erlaubt sind und das Gesetz diese verbietet. Bei den psychischen Erziehungsmassnahmen schliesslich hat sich das Bild kaum verändert: Rund 60 Prozent der Eltern sind nach wie vor der Meinung, dass Handlungen wie das Kind zu ignorieren, nicht erlaubt sind.

Dies würde folglich bedeuten, dass 40 Prozent der Eltern der Meinung sind, dass solche psychischen Formen von Bestrafung von Gesetzes wegen erlaubt sind? Vielleicht wäre das eine Gruppe von Eltern, die man in den nächsten Jahren mit Sensibilisierungskampagnen noch verstärkt ansprechen oder erreichen könnte?

Ja, genau.

Gibt es Kinder und Jugendliche, die in der Familie in besonderem Mass von Gewalt betroffen sind?

Aufgrund unserer Daten können wir sagen, dass regelmässig körperlich-strafende Eltern und auch ihre Kinder eher jünger sind. Meist haben diese Eltern mehrere Kinder und einen tieferen Bildungsstand. Es ist auch so, dass körperliche Strafen in der Westschweiz häufiger vorkommen als in der deutsch- oder italienischsprachigen Schweiz.

Denken Sie also, dass auch kulturelle Faktoren eine Rolle spielen bei den gewählten Erziehungsmassnahmen?

In den Berichten von 2017 und 2020 haben wir auch den kulturellen Hintergrund der Familien betrachtet. Da zeigte sich, dass Kinder und Jugendliche aus migrierten Familien häufiger betroffen sind von körperlicher Gewalt als Kinder einheimischer Familien. Keine Unterschiede fanden wir hingegen bezogen auf psychische Bestrafungsformen. Es gibt demnach schon auch eine kulturelle Komponente, ob man eine Ohrfeige oder einen Klaps auf den Po als (gesellschaftlich) akzeptable Massnahme erachtet oder nicht. Aber auch die Erziehungsziele der Eltern spielen eine Rolle. Eltern, die Eigenschaften wie Angepasstheit, Ordentlichkeit oder Fleiss für ihr Kind als wichtige Eigenschaften bewerten, greifen (unabhängig von ihrer Herkunft) eher zu Körperstrafen als Eltern, die für ihre Kinder Erziehungsziele als wichtig bewerten wie Entfaltungsmöglichkeiten, Authentizität oder ein gesundes Selbstbewusstsein.

Gibt es weitere Faktoren in und ausserhalb der Familien, wie etwa Armut oder Arbeitslosigkeit, die eher zur Anwendung von Gewalt in der Erziehung führen?

Zu solchen sogenannten Makrostressoren haben wir auch Resultate. Kritische Lebensereignisse etwa können tiefgreifende Veränderungen mit sich bringen und besonders hohe Anpassungsleistungen erfordern. Dies geht oft mit einer grossen und anhaltenden subjektiven Belastung einher. Wir haben deshalb auch erhoben, ob die Eltern in jüngerer Vergangenheit schwer belastende Ereignisse wie zum Beispiel einen Todesfall einer nahestehenden Person, gesundheitliche, partnerschaftliche oder finanzielle Probleme erlebt haben. Es hat sich gezeigt, dass Eltern, welche unter solchen Makrostressoren leiden, nicht öfters auf Körperstrafen als Erziehungsmassnahme zurückgreifen. Jedoch verwenden diese Eltern häufiger Erziehungstechniken, die psychische Gewalt beinhalten (z. B. ignorieren, einsperren, Liebesentzug).

Gibt es in Ihren Studien auch Ergebnisse zur Situation von Kindern und Jugendlichen mit körperlichen Behinderungen oder Beeinträchtigungen?

Leider haben wir diese Familien nicht spezifisch fokussiert oder erfasst, dies ist tatsächlich ein Manko unserer Studie. In der Literatur zeigt sich allerdings, dass diese Kinder speziell verletzlich sind; gerade auch, wenn sie sich nicht so gut äussern können. Aber repräsentative Studien im Familienkontext kenne ich hierzu leider keine. Aber es ist auf jeden Fall eine spannende Frage, die wir für künftige Erhebungen notiert haben.

Mich interessieren die Trends: Sie haben das Instrument schon mehrmals eingesetzt. Können Sie etwas dazu sagen, ob und allenfalls wie sich die Gewalterfahrung der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz in den letzten Jahren und Jahrzehnten verändert hat?

Wir sehen ganz allgemein die Tendenz, dass die Häufigkeit physischer und psychischer Gewalt in der Erziehung sinkt. In unseren Stichproben zeigte sich über die verschiedenen Messzeitpunkte seit 1990 eine Reduktion sowohl körperlicher Gewalt als auch psychischer Strafen. Die Zahlen beziehen sich auf eine breite Palette von Gewalt von Eltern an ihren Kindern in der Gesamtbevölkerung. Unsere Analysen lassen darauf schliessen, dass vor allem häufige, regelmässige Gewalt in der Erziehung tendenziell abgenommen hat. Bei gelegentlicher, seltener Gewaltanwendung stagnieren die Zahlen, oder sie sind sogar eher angestiegen. Differenziertere Aussagen darüber, ob sich beispielsweise die Zahlen sehr starker Gewaltanwendung verändert haben, können wir nicht machen. Hier ist es durchaus möglich, dass die Zahlen anders aussehen. Berichte von Opferberatungsstellen und Spitälern lassen dies vermuten, wobei hier nur die Fälle gezählt werden, die von diesen Stellen registriert werden, und repräsentative Zahlen fehlen.

Was würde den Eltern Ihrer Meinung nach helfen, in der Erziehung ihrer Kinder nicht zu Mitteln der Gewalt zu greifen? Anders gefragt: Was könnte den Eltern oder anderen Erziehungsberechtigten dabei helfen, eine «gewaltfreie Erziehung» zu praktizieren oder sich dieser anzunähern?

Die meisten Eltern sagen, dass allgemein eine Stressreduktion hilfreich wäre; zudem auch ein bewusster Umgang mit den eigenen Gefühlen. Den Eltern würde es auch helfen zu wissen, was ihr Erziehungsverhalten beim Kind auslöst. Es geht also vor allem um Themen der Eltern selbst. Hierzu gibt es Weiterbildungen für Eltern oder niederschwellige Präventionsarbeit. An unser Institut für Familienforschung und -beratung (IFF) an der Universität Freiburg können sich zum Beispiel Eltern, Paare und auch Kinder und Jugendliche wenden, um sich im psychologischen und juristischen Bereich beraten zu lassen. Die Beratungen sind kostenpflichtig, die Kosten werden teils von der Krankenkasse übernommen. Zudem gibt es in vielen Kantonen und online Elternkurse aus der Reihe «Starke Eltern −Starke Kinder®». Diese behandeln verschiedene Themenfelder und sind häufig kostenlos (siehe Infobox 2).

Nun möchte ich noch auf das Thema der gesetzlichen Grundlagen zur gewaltfreien Erziehung zu sprechen kommen. An der Sondersession Ende Oktober 2020 ist ein Postulat zum «Schutz von Kindern vor Gewalt in der Erziehung» vor den Nationalrat gekommen. Der Bundesrat wurde damit beauftragt, zu klären, wie der Schutz von Kindern vor Gewalt in der Erziehung im Schweizer Zivilgesetzbuch (ZGB) verankert werden kann. Der Bundesrat hat das Postulat abgewiesen, National- und Ständerat haben es jedoch angenommen. Wissen Sie, wie es nun weiter geht? Wird das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung in absehbarer Zukunft im Schweizer Zivilgesetzbuch verankert?

Meines Wissens ist die Motion «Gewaltfreie Erziehung im ZGB verankern» an den Bundesrat zurückgespielt worden und dieser muss nun eine Gesetzesvorlage ausarbeiten. Es ist anzunehmen, dass sich der Bundesrat bei der Umsetzung stark an den Motionstext [3] halten wird (siehe Infobox 1). Bis wann das Gesetz dann definitiv verabschiedet wird, dazu habe ich leider keine Angaben.

Was denken Sie, wie wird sich dieses neue Gesetz in der Schweiz auswirken?

Ich hoffe, dass die Diskussion um Gewalt in der Erziehung auch weiterhin in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit erhält. Zudem ergibt sich hier eine gute Möglichkeit für Informations- und Präventionsarbeit. Ich hoffe auf eine Sensibilisierung der Eltern und darauf, dass wir noch mehr Eltern erreichen, die sich Gedanken machen zum Thema Gewalt in der Erziehung. Vor allem freue ich mich darüber, dass wir nun auch im grossen Rahmen als Gesellschaft Stellung beziehen und dass wir wollen, dass unsere Kinder gewaltfrei aufwachsen. Ich erachte das neue Gesetz als Orientierungshilfe und als Stellungnahme unserer Gesellschaft.

Infobox 1

Verankerung der Gewaltfreien Erziehung im Zivilgesetzbuch (ZGB)

Im Dezember 2022 wurde die von der Nationalrätin Bulliard-Marbach eingereichte Motion «Gewaltfreie Erziehung im ZGB verankern» vom Ständerat angenommen (Motion 19.4632). Die Motion bezweckt, Kinder besser vor körperlicher Bestrafung, seelischen Verletzungen und anderen entwürdigenden Massnahmen zu schützen, indem ihnen das Recht auf gewaltfreie Erziehung zugesichert wird. Mit der Motion (vgl. Fussnote 3) wird der Bundesrat damit beauftragt, im Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) einen Artikel aufzunehmen, in welchem für Kinder das Recht auf gewaltfreie Erziehung verankert wird. Der Nationalrat hatte die Motion bereits im September 2021 angenommen (vgl. Informationen zum parlamentarischen Geschäft unter: www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20194632 ).

Zur Begründung des Ständerats:

Die ständerätliche Kommission für Rechtsfragen war mit der Schlussfolgerung des Bundesrates nicht einverstanden, dass Kinder und Jugendliche mit den geltenden Gesetzen ausreichend vor Gewalt in der Erziehung geschützt seien. Vielmehr vertrat die Kommission die Auffassung, dass mit der Verankerung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung im Zivilgesetzbuch ein starkes Zeichen gegen alle Formen von Gewalt gegen Kinder (Ohrfeigen, Schläge auf den Hintern, Klapse usw.) gesetzt würde und damit ein gesellschaftlicher Sinneswandel herbeigeführt werden könnte. Gemäss einer unlängst veröffentlichten Studie der Universität Freiburg (vgl. Interview mit B. Schöbi im Haupttext; Studien zum Bestrafungsverhalten ) erleidet beinahe jedes zweite Kind in der Schweiz körperliche oder seelische Gewalt in seiner Erziehung, was für die Kommission noch viel zu viel ist. Zudem weist die Kommission darauf hin, dass die Schweiz das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (SR 0.107) der Vereinten Nationen (UNO) unterzeichnet und sich damit verpflichtet hat, alle Gesetzgebungsmassnahmen zu treffen, um die Kinder vor jeder Form von Misshandlung zu schützen, solange sie sich in der Obhut der Eltern befinden (Art. 19) (Medienmitteilung Parlamentsdienste, 2022, 04. November).

Ja, das ist ein positiver Schritt und ein Statement, das die Schweiz jetzt macht. Es bleibt zu hoffen, dass die Erfahrung der umliegenden Länder, dass sich die erlebte Gewalt in den Familien durch die gesetzliche Verankerung des Rechts der Kinder auf eine gewaltfreie Erziehung reduziert, auf die Schweiz übertragen lässt. Zu einem späteren Zeitpunkt werden wir durch Ihre Studien zum Bestrafungsverhalten der Eltern − die Studien laufen ja weiter − bestimmt mehr dazu erfahren. Nun möchte ich Sie zum Abschluss noch fragen, ob Sie weitere Wünsche haben oder wo Sie allenfalls noch Entwicklungsbedarf sehen.

Nebst dieser gesetzlichen Implementation sollte man dranbleiben mit den Informations- und Sensibilisierungskampagnen, wie es Kinderschutz Schweiz bereits tut. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass ein neues Gesetz in der Bevölkerung am besten ankommt, wenn es durch Sensibilisierungskampagnen flankiert wird. Ich wünsche mir auch weitere Studien mit neuen Schwerpunktthemen, wie etwa der Blick auf Kinder und Jugendliche mit körperlichen und/oder psychischen Behinderungen oder Beeinträchtigungen.

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Tamara Carigiet
Wissenschaftliche Mitarbeiterin SZH/CSPS

tamara.carigiet@szh.ch

Infobox 2

Informationen und Materialien für Fachpersonen im Umgang mit Gewalt an Kindern und Jugendlichen (Auszüge aus: www.kinderschutz.ch )

Früherkennung von Gewalt an Kindern

Verdacht auf Kindeswohlgefährdung – Meldung an die KESB

Was tun, wenn Kinder von häuslicher Gewalt erzählen oder eine Kindesmisshandlung vermutet wird?

Leitfadenreihe zu Früherkennung & Frühintervention bei Gewalt und Kindeswohlgefährdung ( Überblick )

Kindesmisshandlung und Kindesschutz

Früherkennung von Gewalt in der frühen Kindheit

Kindeswohlgefährdung erkennen und angemessen handeln

Präventionsangebote und Unterrichtsmaterialien ( Überblick )

Kartenset und Begleitheft «Hör auf mich!» (Traumapädagogik im Schulalltag)

CompAct: Kompetenzen stärken – Kinder schützen

Plüschmönsterli Emmo − hilft Kindern, Gefühle zu zeigen

Positionspapiere, Berichte und Studien von Kinderschutz Schweiz

Kurzposition Recht auf gewaltfreie Erziehung

Kurzposition Schutz von Kindern in institutionellen Settings

Grundlagenbericht Schutz in der frühen Kindheit

Studien zum Bestrafungsverhalten von Eltern in der Schweiz

(Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Stiftung Kinderschutz Schweiz )

Literatur

Baier, D., Manzoni, P., Haymoz, S., Isenhardt, A., Kamenowski, M. & Jacot, C. (2018). Elterliche Erziehung unter besonderer Berücksichtigung elterlicher Gewaltanwendung in der Schweiz. Ergebnisse einer Jugendbefragung. Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), Departement Soziale Arbeit, Institut für Delinquenz und Kriminalprävention. https://doi.org/10.21256/zhaw-4863

Blum-Maurice, R., Knoller, E.-C., Nitsch, M. & Kröhnert, A. (2000). Qualitätsstandards für die Arbeit eines Kinderschutz-Zentrums . www.kinderschutz-zentren.org/qualitaetsstandards

Medienmitteilung Parlamentsdienste (2022, 04. November). Ein starkes Zeichen für Gewaltfreie Erziehung. Sekretariat der Kommissionen für Rechtsfragen. www.parlament.ch/press-releases/Pages/mm-rk-s-2022-11-04.aspx [Zugriff am 27.02.2023].

  1. https://www.kinderschutz.ch/engagement/praeventionskampagne/starke-ideen-studie-bestrafungsverhalten

  2. «Ideen von starken Kindern für starke Eltern – Es gibt immer eine Alternative zur Gewalt» und «Mit EMMO im Einsatz gegen Gewalt an Kindern»: https://www.kinderschutz.ch/engagement/praeventionskampagne

  3. Eingereichter Motionstext: «Der Bundesrat wird beauftragt, im Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) einen Artikel aufzunehmen, indem für Kinder das Recht auf gewaltfreie Erziehung verankert wird. Unsere Kinder müssen vor körperlicher Bestrafung, seelischen Verletzungen und anderen entwürdigenden Massnahmen geschützt werden» ( www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20194632 ).