Mit dem Assistenzbeitrag zu mehr Autonomie

Irja Zuber

Zusammenfassung
Seit der Revision 6a des Gesetzes über die Invalidenversicherung (IV) im Jahr 2012 haben Menschen mit Behinderungen dank des Assistenzbeitrags die Möglichkeit, Pflegepersonen selbst anzustellen. Im Beitrag wird theoretisch und mithilfe von Fallbeispielen aufgezeigt, welches die Voraussetzungen und das Vorgehen sind, um einen Assistenzbeitrag zu beanspruchen. Insgesamt bringt der Assistenzbeitrag eine grosse Erleichterung mit sich. Der organisatorische Aufwand ist jedoch nicht zu unterschätzen.

Résumé
Depuis la révision 6a de la loi sur l'assurance-invalidité (AI) en 2012, les personnes en situation de handicap ont la possibilité d'engager elles-mêmes du personnel soignant grâce à la contribution d'assistance. Cet article présente, de manière théorique et à l'aide d'exemples concrets, les conditions et la procédure à suivre pour demander une contribution d'assistance. Dans l'ensemble, la contribution d'assistance apporte un grand soulagement. Il ne faut toutefois pas sous-estimer le travail organisationnel qu’elle requiert.

Keywords : Behinderung, Wohnen, Assistenz, Pflege, Selbstbestimmung, Behindertenrechte, Invalidenversicherung / handicap , habitat, assistance, soin, autodétermination, droits des personnes handicapées, assurance invalidité

DOI : https://doi.org/10.57161/z2023-02-06

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 29, 02/2023

Creative Common BY

Einleitung

Kennen Sie den französischen Film «Ziemlich beste Freunde» (im Original «Intouchables») aus dem Jahr 2011? Ein sehr reicher Mann im Rollstuhl stellt einen Assistenten an, der ihm im Alltag hilft. Diese Idee stand auch bei der Einführung eines Assistenzbeitrags vor zehn Jahren im Vordergrund – allerdings ohne jenen Sportwagen, mit dem die beiden Protagonisten im Film durch die Strassen von Paris rasen.

Menschen mit Behinderungen, die im Alltag erhebliche Unterstützung benötigen, können dank des Assistenzbeitrags Pflegepersonen anstellen. Ursprünglich sollte der Assistenzbeitrag vor allem verhindern, dass Personen mit einer körperlichen Behinderung bereits in jungen Jahren in eine Pflegeinstitution oder früh in ein Altersheim umziehen müssen. Im Laufe der politischen und gesetzgeberischen Arbeit wurde der Assistenzbeitrag dann zusätzlich auf Menschen mit einer kognitiven Behinderung und auf Minderjährige ausgedehnt. Zudem wollte man damit die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fördern, wie sie in der Behindertenrechtskonvention (BRK) formuliert wurde.

Voraussetzungen für einen Assistenzbeitrag

Um einen Assistenzbeitrag beziehen zu können, muss die IV der betroffenen Person eine Hilflosenentschädigung zugesprochen haben. Ausserdem muss die Person volljährig, jedoch noch nicht im AHV-Alter sein, und zu Hause (also nicht im Heim) leben. Spezielle, ergänzende Bedingungen gelten für Menschen mit einer eingeschränkten Handlungsfähigkeit und für Minderjährige.

Menschen mit einer eingeschränkten Handlungsfähigkeit [1] müssen zusätzlich entweder einen eigenen Haushalt führen, eine Berufsausbildung oder eine Erwerbstätigkeit auf dem regulären Arbeitsmarkt ausüben oder bereits vor ihrem 18. Geburtstag einen Assistenzbeitrag bezogen haben.

Der 34-jährige Antonio lebt bei seiner Mutter. Aufgrund seiner kognitiven Beeinträchtigung wurde im Vorfeld seines 18. Geburtstags die elterliche Sorge verlängert. Mit dem Inkrafttreten des Erwachsenenschutzrechts wandelt die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) die altrechtliche Massnahme in eine umfassende Beistandschaft um. Antonio macht im Laufe der Jahre Fortschritte und wird selbstständiger. Mit der Zeit wünscht er sich, aus der Wohnung der Mutter auszuziehen und mit einem Kollegen eine WG zu gründen. Die Mutter unterstützt dieses Vorhaben und wendet sich an die zuständige Beratungsstelle von Procap. Wie kann die notwendige Unterstützung im Alltag finanziert werden? Aufgrund der Fortschritte von Antonio stellt die Mutter einen Antrag auf Umwandlung der umfassenden Beistandschaft in eine Vertretungsbeistandschaft ohne Einschränkung der Handlungsfähigkeit. Nachdem der Antrag durch die KESB gutgeheissen wird, kann die IV dem Antrag auf Zusprache eines Assistenzbeitrags entsprechen. Antonio plant nun den Umzug in eine eigene Wohnung.

Mirjam, 23 Jahre alt, hat eine Mitwirkungs- und Vertretungsbeistandschaft. Im Entscheid der KESB ist festgehalten, dass die Handlungsfähigkeit von Mirjam eingeschränkt ist. Solange Mirjam bei den Eltern wohnt, kann die Invalidenversicherung keinen Assistenzbeitrag zusprechen.

Auch bei Minderjährigen hat das Gesetz zusätzliche Bedingungen formuliert: Eine Person hat dann einen Anspruch auf einen Assistenzbeitrag, wenn sie die Regelschule besucht oder auf dem regulären Arbeitsmarkt eine Ausbildung absolviert oder erwerbstätig ist. Ein Anspruch besteht zudem, wenn das Kind einen Intensivpflegezuschlag für einen behinderungsbedingten Mehraufwand von mehr als sechs Stunden bezieht. [2]

Leni ist mit Spina bifida zur Welt gekommen. Sie besucht den Kindergarten im Dorf und bezieht eine Hilflosenentschädigung. Die Eltern haben zudem einen Antrag auf einen Assistenzbeitrag gestellt. Die Assistentin begleitet Leni vor allem zur Therapie oder in die Sportgruppe.

Abklärung des Assistenzbedarfs

Wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind, klärt die IV den Assistenzbedarf ab. Das Abklärungsformular kennt fünf Stufen in denjenigen Lebensbereichen, welche die IV auch bei der Hilflosenentschädigung berücksichtigt: Anziehen und Ausziehen, Aufstehen, Absitzen und Abliegen, Essen, Körperpflege, Verrichten der Notdurft, Fortbewegung und Pflege gesellschaftlicher Kontakte. Darüber hinaus werden folgende Bereiche einbezogen: Haushaltsführung, gesellschaftliche Teilhabe und Freizeitgestaltung, Erziehung und Kinderbetreuung, Ausübung einer gemeinnützigen oder ehrenamtlichen Tätigkeit, berufliche Aus- und Weiterbildung, Ausübung einer Erwerbstätigkeit auf dem regulären Arbeitsmarkt, Überwachung während des Tages, Nachtdienst. Für jede Stufe in jedem Bereich wird eine Minutenzahl gutgeschrieben. Die Summe dieser Minuten – multipliziert mit einem Stundenansatz von 34.30 Franken (Stand 2023) – ergibt den (jährlichen) Assistenzbeitrag. Von diesem Betrag wird die Hilflosenentschädigung abgezogen, welche jedoch weiter besteht und separat ausbezahlt wird.

Sabine, die eine körperliche Beeinträchtigung hat, lebt allein in einer Wohnung. Als die Kräfte nachlassen, benötigt sie im Alltag mehr Unterstützung. Sabine erhält eine Hilflosenentschädigung mittleren Grades und beantragt einen Assistenzbeitrag. Im Rahmen der Abklärung wird auch der Anspruch auf die Hilflosenentschädigung geprüft und auf die höchste Stufe angehoben. Daneben spricht ihr die IV einen Assistenzbeitrag in der Höhe von rund 3700 Franken pro Monat zu. Sabine stellt die Nachbarin ein, die ihr das Mittagessen vorkocht und sie bei der Wäsche unterstützt. Eine weitere Assistentin übernimmt die Körperpflege und das Bereitmachen für den Tag. Für gewisse Botengänge hat Sabine einen Rentner aus dem Quartier angestellt. Er fährt sie zudem zu Arztterminen. Am Abend kommt weiterhin die Spitex, die die medizinischen und pflegerischen Handlungen übernimmt und über die Krankenkasse finanziert ist.

Suche nach Assistenzpersonen

Hat die IV einen Assistenzbeitrag zugesprochen, wird man verantwortlich für ein kleines Unternehmen, denn nun muss man Assistenzpersonen suchen. Dies bedeutet auch, dass man unter anderem Arbeitsverträge abschliessen und Abrechnungen für die Versicherungen erstellen muss. Nach Einreichung der Lohnabrechnungen zahlt die IV die Assistenzbeiträge aus.

Das Gesetz schränkt die Freiheit in der Wahl der Assistenzpersonen ein. So ist die Beschäftigung von Eltern oder Lebenspartner:innen ausgeschlossen. Auch können Kinder die Pflege der Eltern nicht via Assistenzbeitrag abrechnen. Zudem darf nicht eine Organisation (Spitex, Taxiunternehmen, Lieferdienst etc.) beauftragt werden. Anders ist es bei Familienangehörigen nicht gerader Linie, beispielsweise bei Geschwistern.

Familie Leibundgut hat vier Kinder. Die Söhne Simon und Lukas haben eine Muskelerkrankung, besuchen die Heilpädagogische Schule und sind im Alltag auf erhebliche Hilfe angewiesen. Beiden hat die IV eine Hilflosenentschädigung, einen Intensivpflegezuschlag von mehr als sechs Stunden und einen Assistenzbeitrag zugesprochen. Die hauptsächliche Betreuung erfolgt durch die Eltern. Es erweist sich als schwierig, im abgelegenen Dorf eine passende Assistenzperson zu finden. Die 17 Jahre alte Schwester Carla übernimmt stundenweise die Unterstützung der Brüder. Sie holt sie beim Schulbus ab, begleitet sie ins Haus und hilft ihnen beim Ausziehen von Kleidern und Schuhen. Danach gamen sie zu dritt und Carla hilft Simon und Lukas mit Handreichungen. Simon und Lukas können Carla als Assistentin einstellen. Wichtig ist jedoch, dass Carla lediglich ihrem Alter und den Fähigkeiten angepasste Aufgaben übernimmt.

In der Praxis zeigt sich, dass das Finden von geeigneten Assistenzpersonen schwierig ist. Die Anstellung als Assistenzperson ist finanziell nicht immer attraktiv und die Arbeitszeiten sind oft am frühen Morgen und am Abend. Doch auch die Assistenzberechtigten sind gefordert: Die Assistenzpersonen kommen ihnen sehr nahe, halten sich in teilweise persönlichen Räumen auf und übernehmen sogar Aufgaben der Grundpflege. Diese Nähe bedingt ein Vertrauensverhältnis. Doch trotz der Übernahme von persönlichen Dienstleistungen bleibt die helfende Person angestellt. Die Person, die auf Unterstützung angewiesen ist, ist der «Chef» und weisungsbefugt. Assistenznehmende schildern, dass es oft schwer ist, eine fremde Person zuzulassen, welche diese Aufgaben für sie übernimmt und diese anders ausführt, als sie es selbst tun würden.

Hinzu kommt: Abklärung, Berechnung und Umsetzung des Assistenzbetrags sind komplex und die Unterstützung in Form einer Beratung durch einen Verband für Menschen mit Behinderungen deshalb unbedingt zu empfehlen. Das Gesetz sieht dafür eine Beratungsentschädigung vor.

Eine Medaille mit zwei Seiten

Im Sinne einer ersten Bilanz liess das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) den Assistenzbeitrag 2018 in einer wissenschaftlichen Studie überprüfen. [3] In dieser wurde der positive Effekt der neuen Leistung bestätigt. So zeigte eine Befragung von Personen, die den Assistenzbeitrag beziehen, dass sich ihre Lebenssituation verbessert hat und sie die selbstständigere Lebensgestaltung als positiv wahrnehmen. Auch die finanzielle Situation habe sich durch die Einführung des Assistenzbeitrags verbessert.

Die Studie wies aber auch auf Mängel hin. Die grössten Schwierigkeiten lagen von Anfang an bei der Suche nach geeigneten Assistenzpersonen, also den Angestellten von Menschen mit Behinderungen. Durch den aktuellen Pflegenotstand hat sich die Situation seither weiter verschärft. Den organisatorischen Aufwand empfinden die Betroffenen ausserdem als belastend. Insgesamt zeigt die Studie, dass der Assistenzbetrag zwar die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fördert, jedoch noch viel Verbesserungspotenzial besteht.

Eine Umfrage, die im Rahmen der Studie durchgeführt wurde, zeigte, dass das Modell des Assistenzbeitrags nicht für alle Menschen mit Beeinträchtigungen das Richtige ist. Wer sich schwertut mit Administrativem oder sich unwohl fühlt in der Arbeitgeberrolle, wird mit dieser Leistung nicht glücklich und richtet sein Leben wieder anders ein.

Weiterentwicklung des Assistenzbeitrags

In der Folge der Studie hat das BSV die Behindertenorganisationen eingeladen, bei der Weiterentwicklung des Assistenzbeitrages mitzuwirken. In einer Arbeitsgruppe konnten bereits erste Verbesserungen umgesetzt werden. So gab es beispielsweise Vereinfachungen in der Abrechnung und Anpassungen bei den Abzügen. Die Administration ist jedoch weiterhin eine Herausforderung und es braucht eine zusätzliche Vereinfachung.

Weitere grössere nötige Anpassungen bedurften einer Änderung der IV-Verordnung. Diese traten mit der Gesetzesrevision per 1. Januar 2022 in Kraft. Die grösste und wichtigste Verbesserung ist dabei die Erhöhung der Nachtpauschale, die bisher deutlich zu tief war. Seit Anfang 2022 wird die nicht in Anspruch genommene Nachtassistenz zudem in allgemeine Assistenzstunden umgerechnet. Diese Assistenzstunden kann man neu auch am Tag einsetzen. Assistenznehmende, die auf Hilfe in der Nacht angewiesen sind und vom Partner oder von den Eltern unterstützt werden, können nun dafür die Hilflosenentschädigung einsetzen. Sie erhalten jetzt zumindest tagsüber mehr Spielraum.

Weitere Kritikpunkte am jetzigen Assistenzbeitrag sind der Ausschluss von Organisationen wie der Spitex oder eines Fahrdienstes sowie die Unmöglichkeit, Familienangehörige anzustellen. Die Zulassung von Organisationen als Leistungserbringende könnte jedoch den administrativen Aufwand für Betroffene vereinfachen. Gerade bei Kindern und Jugendlichen mit einer schweren Behinderung ist die Suche nach Assistenzpersonen mit dem notwendigen Fachwissen sehr schwierig. Während die Eltern oft die nötigen Pflegemassnahmen erlernen, ist es den meist nicht ausgebildeten Assistenzpersonen unmöglich, medizinische Verantwortung in Notfällen zu übernehmen.

Die seit einiger Zeit diskutierte Anstellung von Eltern beziehungsweise Kindern im Rahmen des Assistenzbeitrags hat zwei Seiten. Es ist selbstverständlich zu begrüssen, dass die bisher un- oder unterbezahlte CareArbeit so vergütet werden kann. Hingegen besteht die Gefahr, dass Familienangehörige unter Druck gesetzt werden, Assistenzberechtigte vollumfänglich selbst zu betreuen. Dadurch ginge eine dringend notwendige Entlastung verloren. Doch auch Menschen Behinderungen, die mit der Anstellung eines Familienmitglieds neu einen Teil des Familieneinkommens bestreiten, könnten dazu veranlasst werden, deshalb auf eine selbstständige Wohnsituation zu verzichten. Das Parlament wird sich in Zukunft mit dieser Frage auseinandersetzen.

Grundsätzlich ist der Assistenzbeitrag eine gute Sache, da er die Selbstständigkeit und die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen erhöht und deshalb die ursprünglich gewünschte Wirkung zeigt. So kann etwa das Recht auf die Wahlfreiheit des Wohnortes gewährleistet werden. Andererseits zwingt das Leben mit Assistenz die Betroffenen in die Rolle von Unternehmer:innen. Für weitere Verbesserungen wird sich Procap auch zukünftig einsetzen.

Dieser Artikel ist in einer kürzeren Version schon im Procap-Magazin 3/21 zum Thema Assistenz erschienen ( www.procap.ch/fileadmin/files/procap/Publikationen/Dokumente/Magazin/2021/20210830_Procap_Magazin_3_2021_DE_BF.pdf )

Ein Bild, das Person, Wand, drinnen enthält.

Automatisch generierte Beschreibung

Irja Zuber
Rechtsanwältin

Procap Schweiz

irja.zuber@procap.ch

Literatur

Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG) vom 19. Juni 1959 (Stand am 01. Januar 2022), SR 831.20.

Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention, BRK), vom 13. Dezember 2006, durch die Schweiz ratifiziert am 15. April 2014, in Kraft seit dem 15. Mai 2014, SR 0.109.

  1. Handlungsfähig ist, wer volljährig und urteilsfähig ist. Als urteilsfähig gilt jemand, der in einer konkreten Lebenssituation «vernunftgemäss» handeln kann, also die Tragweite des eigenen Handelns begreift und fähig ist, sich entsprechend dieser Einsicht zu verhalten.

  2. weitere Informationen für Eltern von Kindern mit einer Beeinträchtigung im Ratgeber «Was steht meinem Kind zu?», herausgegeben von Procap Schweiz

  3. Evaluation Assistenzbeitrag 2012 bis 2019, Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien BASS AG ( www.bsv.admin.ch → Publikationen & Services → Forschungspublikationen)