Assistenz – ein neues Arbeitsfeld im Auftrag von Menschen mit Beeinträchtigungen

Daniel Kasper und Jennifer Zuber

Zusammenfassung
Der Assistenzbeitrag ermöglicht es Menschen mit Beeinträchtigungen, ihre Wohnform selbstbestimmt zu wählen und so weit als möglich autonom zu leben. Dadurch hat sich ein neues Arbeitsfeld eröffnet: dasjenige der Assistenzperson. Im Beitrag wird auf die Vielfalt der Aufgaben und Rollen von Assistenzpersonen eingegangen. Basierend auf den Ergebnissen der Evaluation zum Modellprojekt «leben wie du und ich im Kulturpark» werden Chancen und Herausforderungen des Berufszweigs herausgearbeitet. Der Beitrag schliesst mit den notwendigen beruflichen Kompetenzen, die sich an neuen, gemeinsam entwickelten professionellen Standards orientieren, und zeigt mögliche Stossrichtungen der Weiterentwicklung des Berufsfeldes auf.

Résumé
La contribution d'assistance permet aux personnes en situation de handicap de vivre de manière aussi autonome que possible en dehors des structures institutionnelles. Elle ouvre ainsi un nouveau champ d'activité : celui d’assistante ou assistant personnel. Cet article présente cette nouvelle profession, à laquelle divers rôles et tâches se rapportent. En se basant sur les résultats de l'évaluation du projet pilote « leben wie du und ich im Kulturpark » (vivre comme toi et moi au parc culturel), il met en évidence les opportunités et les défis de la profession. L'article poursuit sur les compétences professionnelles nécessaires à son exercice, qui s'orientent vers la création de nouveaux standards professionnels, et conclut avec les possibles développements de ce champ d’activité.

Keywords : Behinderung, kognitive Beeinträchtigung, Wohnen, Selbstbestimmung, Assistenz, berufliche Qualifikation / handicap , déficience intellectuelle, habitat, autodétermination, assistance, qualification professionnelle

DOI : https://doi.org/10.57161/z2023-02-01 https://doi.org/10.57161/z2023-02-01

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 29, 02/2023

Creative Common BY

Einleitung

Der im Jahr 2012 gesetzlich eingeführte Assistenzbeitrag soll es Menschen mit Beeinträchtigung in der Schweiz unter bestimmten Voraussetzungen [1] ermöglichen, in einer eigenen Wohnung zu leben und für die Unterstützung Personen mittels Arbeitsvertrags anzustellen (Guggisberg & Bischof, 2020). Zum Bezug dieser Leistung der Invalidenversicherung (IV) sind all jene volljährigen Personen anspruchsberechtigt, die eine Hilflosenentschädigung beziehen und in einer Privatwohnung leben. Unter bestimmten Voraussetzungen ist ein Assistenzbeitrag aber auch für andere Bezüger:innen einer Hilflosenentschädigung möglich (BSV, 2023). Auf der Seite der Arbeitnehmer:innen hat sich damit ein eher unbekanntes Arbeits- und Berufsfeld eröffnet: dasjenige der Assistenzperson. Neu ist der Umstand, dass die Assistenzperson direkt von der Person mit Unterstützungsbedarf angestellt wird. Damit wird die Person mit Beeinträchtigung zur Arbeitgeberin.

Artikel 19 der Behindertenrechtskonvention (BRK) fordert die freie Wahl beim selbstbestimmten Wohnen. Diese Forderung führt zu massiven Änderungen im gesamten System der organisierten Behindertenhilfe, wenn sie konsequent umgesetzt wird (Gautschin et al., 2010). Der BRK-Ausschuss hat jedoch die Umsetzung der Behindertenrechte in der Schweiz kritisiert, unter anderem die ungenügend gewährleistete freie Wahl der Wohn- und Lebensform (Hess-Klein & Scheibler, 2022). Leben mit Assistenz verkörpert eine zentrale Umsetzungsmöglichkeit dieser Forderung und versinnbildlicht den geforderten Paradigmenwechsel exemplarisch: Die Person mit Beeinträchtigung ist Expertin ihres Lebens und erhält die Unterstützung, die sie für die Verwirklichung ihres Lebensentwurfes braucht. Und: Leben mit Assistenz ermöglicht Selbstbestimmung, Teilhabe und Inklusion – dies zeigen zahlreiche Aussagen aus dem Alltag der Autorenschaft sowie die Evaluationen des Büros für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS) zum Assistenzbeitrag (Guggisberg & Bischof, 2020).

Die Aufgabenfelder der Assistenz

Eine Assistenzperson unterstützt einen Menschen mit Beeinträchtigung beim Erledigen von mehr oder weniger regelmässig anfallenden Aufgaben und Verrichtungen. Abhängig vom Unterstützungsbedarf der assistenznehmenden Person kann dies verschiedene Tätigkeiten umfassen: Körperpflege, Eingabe von Essen und Trinken, Begleitung während der Arbeit, Freizeit oder Ferien, Haushaltführung, Administration privater Angelegenheiten, Erledigung von Arbeitgeberaufgaben, Unterhalt von Hilfsmitteln, Einkauf, Benützung öffentlicher Verkehrsmittel, Begleitung an Veranstaltungen zur gesellschaftlichen Teilhabe und anderes. Ein unveröffentlichtes Gutachten zur Bedarfserhebung einer Person mit starken motorischen Einschränkungen hat über 200 Aktivitätenmuster festgestellt, welche die Assistenzperson für respektive mit der Person ausführt (Kasper, 2014). Dabei hat sich gezeigt, dass die Aufgabenfelder nicht nur sehr vielfältig, sondern auch komplex sind: Eine Assistenzperson ist mitunter über längere Zeit (teilweise 8–10 Stunden) allein mit der assistenznehmenden Person. In dieser Zeit sollen die oben skizzierten Aufgaben erledigt werden. Dies erfordert ganz unterschiedliche Kompetenzen und Fähigkeiten von der Assistenzperson. Ausserdem stehen die Tätigkeiten unter dem Vorzeichen, dass die Person mit Einschränkungen, welche die Assistenz erhält, gleichzeitig auch die vorgesetzte Person ist (ebd.).

Die Attraktivität der Assistenzarbeit …

Einen Spezialfall stellt die Assistenzarbeit bei Menschen mit komplexer Beeinträchtigung [2] dar . Wie die Ergebnisse einer Begleitstudie (Evaluation) des Modellprojekts leben wie du und ich im Kulturpark von Kasper und Calabrese (2019) zeigen, erleben Assistenzpersonen ihre Arbeit umso vielfältiger und spannender, je schwerwiegender die Einschränkungen der assistenznehmenden Person sind. Viele Aufgaben müssen von den Assistenzpersonen einerseits selbstgesteuert und eigeninitiativ, andererseits aber in Absprache mit der assistenznehmenden Person eruiert, definiert, ausgehandelt, erbracht und weiterentwickelt werden (ebd.). Durch das grössere Mass an Verantwortung und Mitgestaltungsmöglichkeiten ergeben sich unserer Einschätzung und Erfahrung nach aber auch attraktive Arbeitsbedingungen für die Assistenzpersonen: Diese können und sollen mitdenken und Eigeninitiative zeigen.

Die Erfahrungen der Autorenschaft zeigen, dass die Assistenzarbeit zu einem deutlich grösseren Mass an Nähe im Leben der unterstützten Person führt. In einem Assistenzsetting kann das, was jemand in seiner (bspw. sozialpädagogischen) Ausbildung gelernt hat, ohne institutionelle Grenzen umgesetzt werden: eine zugewandte Haltung, Eingehen auf Wünsche oder Äusserungen sowie Assistieren. Ein Assistent hat dies wie folgt ausgedrückt: «Den Alltag gemeinsam zu meistern und ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, spielt sich auf einer intuitiven Ebene ab. Dadurch gehe ich in meiner Arbeit auf, weil es sich nicht nach einer Pflicht anfühlt.» Die direkte Begleitarbeit, das (Mit-)Helfen und Dabeisein stehen im Vordergrund. Es gibt keine Verlaufsberichte zu schreiben, keine Dokumentationen nachzuführen und keine Standortbestimmungen auszuwerten. Die Person mit Beeinträchtigung ist die Expertin ihres Lebens. Da sehr individuell auf den Menschen eingegangen werden kann, kann dies zu einer grösseren Befriedigung der Assistenzpersonen bei ihrer Arbeit führen.

Ausserdem zeigt die Erfahrung der Autorenschaft, dass Assistenzpersonen eine Ganzheitlichkeit der Aufgaben erleben: Alle Assistenztätigkeiten kommen gleichsam aus einer Hand, Abläufe sind ganzheitlich und die Sinnhaftigkeit der Assistenztätigkeit ist unmittelbar erlebbar. Mit dieser Lebensform wird die Ermöglichung eines «normalen» Lebens (wie du und ich) erreicht: Der Alltag ist nicht losgelöst, fremdbestimmt und von organisationalen Vorgaben geprägt, sondern die Lebensweltorientierung ist gegeben (Kasper & Calabrese, 2019; Thiersch, 2014).

Das Leben mit Assistenz fördert die Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung. Die Arbeit als Assistenzperson wird dadurch als sinnstiftend und erfüllend erlebt. Durch das Assistenzmodell wird die reale Begegnung von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung im gesellschaftlichen Alltag möglich. Damit leisten Assistenzpersonen einen wichtigen Beitrag zur Inklusion.

Darüber hinaus kann die Arbeit der Assistenzperson auf berufs- und gesellschaftspolitischer Ebene die Deinstitutionalisierung – wie sie unter anderem im Schattenbericht gefordert wird (Hess-Klein & Scheibler, 2022) – unterstützen, und somit die Zukunft von Unterstützungsdienstleistungen mitgestalten. Damit leisten Assistenzpersonen Pionierarbeit und sind Botschafter für ein Zukunftsmodell. Das wiederum erleichtert es den Assistenzpersonen, «hinter ihrer Arbeit stehen zu können».

… bringt neue Herausforderungen mit sich …

Wie bereits erwähnt, ist die assistenznehmende Person Chefin eines Teams. Sie übernimmt die damit zusammenhängenden Arbeitgeberfunktionen und gleichsam das Management eines Kleinunternehmens (KMU). Die neue Rolle von Menschen mit Beeinträchtigungen hat überdies auch Neuerungen im Selbst-, im Rollen- sowie im Beziehungsverständnis der Assistenzpersonen zur Folge. Zentral sind unter anderem folgende Aspekte (DHG, 2021, S. 38f.):

Dies sind zwar per se noch keine grossen Veränderungen zu sozialpädagogischen Tätigkeiten. Das Neue liegt darin, dass diese Anforderungen in einem Vertragsverhältnis mit dem Menschen mit Beeinträchtigung und in einem 1:1-Kontext ohne institutionell vorgegebene Absicherungen und Regelungen erbracht werden.

In der Evaluation des Assistenz-Projekts (Kasper & Calabrese, 2019) sowie aus Sicht der Erfahrungen der Autorenschaft können sich im Kontext von komplexen Beeinträchtigungen aber auch Herausforderungen ergeben. Ein grosses Spannungsfeld besteht darin, dass die Person mit Beeinträchtigung Arbeitgeberin und Expertin ihres Lebens ist, aber gleichzeitig auch in einer existenziellen Abhängigkeit von ihren Arbeitnehmenden steht (ebd.). So kann es beispielsweise für den Menschen mit Beeinträchtigung eine grosse Schwierigkeit darstellen, gegenüber seiner Assistenzperson Kritik zu äussern, wenn er gleichzeitig in den nächsten Stunden existenziell von der Assistenzperson abhängig ist.

Vom Menschen mit Beeinträchtigung wird verlangt, dass er die Kompetenzen mitbringt, ein KMU zu führen. Diese Kompetenzen sind jedoch nicht immer vorhanden (auch nicht bei Menschen ohne Beeinträchtigung). So kann es sein, dass ein Mensch mit Beeinträchtigung gar nie die Chance hatte, die Regelschule zu besuchen und zum Beispiel eine kaufmännische Lehre zu machen, geschweige denn eine Ausbildung in Führungskompetenzen. Aber all das braucht es, um ein KMU mit durchschnittlich fünf bis zehn Angestellten zu führen. Und dies wird im Assistenzbeitrag zur Voraussetzung gemacht, um ein selbstbestimmtes Leben mit Assistenz zu führen. Dies kann zu grossen Herausforderungen sowohl für den Arbeitgebenden als auch für die Assistenzpersonen führen (ebd.). Beispiele von Aufgaben, die herausfordernd sein können, sind die Personalplanung, das Budget und Controlling, der Bewerbungsprozess, die Sozialversicherungen und Lohnauszahlungen oder Konfliktlösungen mit Assistenzpersonen.

Auch die Balance zwischen den aktuellen Bedürfnissen des Menschen mit Beeinträchtigung und anstehenden organisatorischen Aufgaben, die von der Assistenzperson erledigt werden sollten, kann herausfordernd sein. Je nach Komplexität der Beeinträchtigung und dem damit einhergehenden Unterstützungsbedarf stellt sich dieses Thema mehr oder weniger (ebd.).

Eine weitere Herausforderung ist die Frage, wie die Assistenzperson den Menschen mit Beeinträchtigung bei normalen emotionalen Schwankungen oder gar bei psychischen Krisen begleiten und unterstützen kann oder soll. Inwieweit soll sie sich selbst als Person einbringen, und ab welchem Zeitpunkt soll die Assistenzperson genannte Aufgaben abgeben, das heisst sich abgrenzen und beispielsweise bei Bedarf und auf Wunsch entsprechende Unterstützungsangebote vermitteln? Diese Fragen stellen sich immer auch vor dem Hintergrund, dass der Mensch mit Beeinträchtigung gleichzeitig Arbeitgeber der Assistenzperson ist (ebd.).

Die vielen Aufgaben, die dafür benötigten unterschiedlichen Kompetenzen sowie die damit verbundene Verantwortung können zu einer hohen Arbeitsbelastung führen. Teilweise wünschen sich die Assistenzpersonen mehr Führung von den Assistenznehmenden, insbesondere auch dann, wenn sich diese nicht klar artikulieren und ihre Anliegen nicht durchsetzen können. Aufseiten der Assistenznehmenden sind Teamveränderungen eine Herausforderung, diese werden mitunter als belastend eingeschätzt (ebd.).

… welche neue Kompetenzen fordern

Die mit den beschriebenen Aufgaben verbundenen Tätigkeiten und Rollen der Assistenzperson sind vielseitig und erfordern Kompetenzen in unterschiedlichen Bereichen. Die Assistenzperson hat intime Einblicke in die Lebenswelt der Arbeit gebenden Person bei gleichzeitigem Angestelltenverhältnis. Dieses Spannungsfeld zwischen Abhängigkeit des Arbeitgebenden von den Arbeitnehmenden gilt es stets zu reflektieren und einen professionellen Umgang damit zu finden. Da die Assistenzpersonen oft und über lange Zeit alleine vor Ort arbeiten und nur wenige oder gar keine Austauschmöglichkeiten bestehen, erhält das Thema Selbstreflexion eine grosse Bedeutung.

Ein weiteres wichtiges Thema ist die Wahrung von Distanz und Grenzen – sowohl in emotionaler als auch in körperlicher Hinsicht. Der Grad an Abhängigkeit wächst stark mit dem Ausmass an körperlichen, kognitiven, Wahrnehmungs- oder anderen Einschränkungen, was mitunter das Risiko für (beabsichtigte/unbeabsichtigte) Grenzverletzungen erhöht (Tschan, 2012). Eine Rollenvermischung (professionelle Assistenzperson vs. Privatperson) sowie eine allzu starke emotionale Involvierung (z. B. Entwicklung starker Gefühle) sollten verhindert und keine missverständlichen Signale geschickt werden. Durch die 1:1-Situation und durch die Tatsache, dass der Mensch mit Beeinträchtigung seine Assistenzpersonen selbst und nach Sympathie wählen kann, können sehr enge Beziehungen entstehen. Hier ist es Aufgabe der Assistenzperson, eine gute Balance zu finden zwischen Nähe und Distanz. Eine klare Kommunikation ist zu pflegen, wenn bemerkt wird, dass intimere Gefühle entstehen, sei es vonseiten des Menschen mit Beeinträchtigung oder vonseiten der Assistenzperson.

Die Assistenzpersonen müssen zudem stets im Bewusstsein arbeiten, dass sie eine private Wohnung betreten und in einer solchen arbeiten. Für dieses Bewusstsein brauchen sie unter anderem ein hohes Mass an Achtsamkeit und viel Übung, die eigene Meinung nur auf Wunsch und zurückhaltend einzubringen. Zudem sollten sie das eigene Verhalten immer wieder kritisch auf mögliche Tendenzen der Beeinflussung der assistenznehmenden Person hin reflektieren. Auch die Balance zwischen einem gewissen Perfektionsstreben einer Assistenzperson, den Erwartungen des Assistenznehmenden, der Sichtweisen der anderen Assistenzpersonen im Team sowie den alltäglichen Bewältigungsmöglichkeiten (z. B. Ordnung im Kleiderschrank, Ansprüche an Sauberkeit) sind immer wieder zu reflektieren. Dabei müssen die Wünsche, Bedürfnisse und Lebensentwürfe des Menschen mit Beeinträchtigung stets im Mittelpunkt stehen.

Weiter sollten die Assistenzpersonen immer wieder für sich klären und sich darüber bewusst werden, welche Rolle sie aktuell innehaben (Freund:in [3] , Assistent:in, Berater:in, Botschafter:in, Brückenbauer:in). Die Rolle kann sich während eines Dienstes mehrmals ändern. Es braucht auch eine bewusste Haltung, um das Rollengefälle respektive die Rollenkonfusion immer wieder zu klären, wenn die vorgesetzte Person eine Beeinträchtigung hat und dadurch in einigen Tätigkeitsbereichen «schwächer», «langsamer» oder «unbedarfter» ist.

Eine weitere erwünschte Kompetenz ergibt sich aus dem direkten und unmittelbaren Verhältnis zwischen Arbeitgeber:in und Arbeitnehmer:in: Das Verhältnis findet ohne Vorschriften oder Heimregeln statt, und es ist auch nicht eingebettet in Teamleitungsstrukturen oder Ähnliches. Wenn die Arbeit gebende Person etwas verlangt, so muss die Assistenzperson dies ausführen, auch wenn sie es anders machen würde (z. B. Kleiderordnung im Schrank oder Zubereiten von Fleisch, auch wenn die Assistenzperson sich vegetarisch ernährt).

Wenn man dieses Gedankenspiel fortsetzt, so stellt sich bald einmal die Frage nach den Grenzen: Wie sollen oder dürfen Assistenzpersonen etwa beim Risiko von Fremdgefährdung (z. B. Brandgefahr verursachen) oder Selbstgefährdung der assistenznehmenden Person (z. B. psychische Schwankungen, übermässiges Essen/Trinken, soziale Isolation, Verwahrlosung) vorgehen? Der Umgang mit solchen Situationen benötigt viel Feingefühl, Kommunikationskompetenz und eine gute Selbstwahrnehmung. Gerade auch deshalb, weil die Vorgehensweisen im Bereich Assistenz bisher nicht geregelt sind, bedarf es nach Ansicht der Autorenschaft gemeinsamer, von Selbstvertreter:innen und Gesetzgebenden definierter Richtlinien [4] sowie Unterstützungs- und Beratungsstellen, die beide Seiten vor solchen Gefährdungen und allfälligen rechtlichen Konsequenzen schützen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Assistenzpersonen ein hohes Mass an Flexibilität und Organisationstalent, Einfühlungsvermögen sowie Selbstreflexions- und professionelle Handlungskompetenz benötigen.

Was braucht es nun für die zukünftige Assistenzarbeit?

Es ist selbstredend, dass eine Assistenzperson die genannte Aufgabenvielfalt nicht allein schaffen kann. Besonders dann nicht, wenn der Unterstützungsbedarf der assistenznehmenden Person hoch und komplex ist. Folgende Lösungsansätze sieht die Autorenschaft hier im Vordergrund: Es braucht Unterstützungsdienste, welche den Beteiligten (sowohl den Menschen mit Beeinträchtigung als auch den Assistenzpersonen) bei Aufgaben, die sie nicht selbst leisten wollen oder können, zur Verfügung stehen. Es braucht auch Gefässe für den Austausch und die professionelle Selbstreflexion, um qualitativ gute Assistenzarbeit leisten zu können. Die Etablierung eines neuen Berufsbildes mit entsprechenden Ansprüchen, Aus- und Weiterbildungen sowie Vernetzungsmöglichkeiten müssen vorangetrieben werden. So sollte das Thema Assistenz curricular in den weiterführenden Schulen in Aus- und Weiterbildung eingeführt werden, um den Paradigmenwechsel und die damit einhergehende Haltung, Herausforderungen, den Umgang damit und neue Kompetenzen zu erlernen. Das Interesse und die Motivation von Fachpersonen, das Leben mit Assistenz zu unterstützen, weiterzuentwickeln und potenzielle Assistenznehmende beim Schritt in ein Leben mit Assistenz zu unterstützen, muss auf allen Ebenen gefördert werden. Die Schweiz braucht mutige, engagierte und reflektierte Fachpersonen, die sich dem Tätigkeitsfeld der Assistenz annehmen und dieses zusammen mit den Menschen mit Beeinträchtigung vorantreiben und weiterentwickeln – nur so kann die BRK umgesetzt und Inklusion erlebbar gemacht werden.

Daniel Kasper

Dozent und Sonderpädagoge

Institut Integration und Partizipation

Hochschule für Soziale Arbeit

Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW)

daniel.kasper@fhnw.ch

Jennifer Zuber

Projektleitung

Verein leben wie du und ich

jennifer.zuber@lebenwieduundich.ch

www.lebenwieduundich.ch

Literatur

BSV (Bundesamt für Sozialversicherungen) (2023). Kreisschreiben über den Assistenzbeitrag (KSAB). Gültig ab 1. Januar 2015. Stand 1. Januar 2023. https://sozialversicherungen.admin.ch/de/d/6394/download

DHG (Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft) (2021). Standards zur Teilhabe von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und komplexem Unterstützungsbedarf. Kohlhammer.

Gautschin, D., Gredig, D., Kasper, D., Lage, D., Lichtenauer, A. & Schumacher, M. (2010). Flankierende Massnahmen zum System des «Individuellen Bedarfs» gemäss Konzept «Behindertenhilfe» der Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft . Auftragsarbeit der HSA-FHNW durch die Kantone Basel-Stadt & Basel-Landschaft.

Guggisberg, J. & Bischof, S. (2020). Evaluation Assistenzbeitrag 2012 bis 2019. https://soziale-sicherheit-chss.ch/de/evaluation-assistenzbeitrag-2012-2019/

Hess-Klein, C. & Scheibler, E. (2022). Aktualisierter Schattenbericht. Bericht der Zivilgesellschaft anlässlich des ersten Staatenberichtsverfahrens vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen . Editions Weblaw. https://www.pro-audito.ch/wp-content/uploads/2022/03/ES_Schattenbericht_DE.pdf

Kasper, D. (2014). Zusammenfassung des Gutachtens «Zu Hause leben mit Assistenz bzw. im Heim lebend» im Auftrag des Amts für Sozialversicherungen des Kantonalen Sozialamts des Kantons Zürich . Unveröffentlichtes Gutachten. Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit.

Kasper, D. & Calabrese, S. (2019). Begleitstudie / Evaluation des Projekts «leben wie du und ich im Kulturpark» . Schlussbericht 2019. Olten, FHNW, Institut Integration und Partizipation. https://www.lebenwieduundich.ch/ → Media → Jahresberichte & CO → Downloads

Thiersch, H. (2014). Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Aufgaben der Praxis im sozialen Wandel ( 9. Aufl.). Juventa.

Tschan, W. (2012). Sexualisierte Gewalt. Praxishandbuch zur Prävention von sexuellen Grenzverletzungen bei Menschen mit Behinderungen. Huber.

Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention, BRK), vom 13. Dezember 2006, durch die Schweiz ratifiziert am 15. April 2014, in Kraft seit dem 15. Mai 2014, SR 0.109.

  1. zu den angesprochenen Voraussetzungen vgl. «Kreisschreiben über den Assistenzbeitrag» (BSV, 2023, S. 22ff.)

  2. Unter komplexer Beeinträchtigung verstehen wir das Zusammentreffen zweier oder mehrerer Beeinträchtigungen, Einschränkungen und Störungen. Diese können die motorische, kognitive, emotionale, Kommunikations-, Sinnes- oder Wahrnehmungsentwicklung, die Wahrnehmungsverarbeitungsmöglichkeiten oder psychische Krankheiten betreffen. Für das Thema Assistenz sind insbesondere die daraus erlebbaren mehrfachen Einschränkungen der Möglichkeiten und Kompetenzen der betroffenen Menschen zu beachten.

  3. Der Ausdruck Freund:in wird von verschiedenen Assistenznehmenden so verwendet. Assistenz bleibt professionell, wenn alle Beteiligten bewusst mit diesen Rollen umgehen und diese Rollen ständig reflektieren.

  4. analog zur Entwicklung der fachlichen Standards zum Thema Kindes- und Erwachsenenschutzmassnahmen