Auf dem Weg zu mehr Lebensqualität und Teilhabe

Luzerner Tagung zur Behindertenrechtskonvention: «Leben mit Assistenz in der Praxis – Herausforderungen und Lösungsansätze»

Michael Blank

Einführung
Menschen mit Behinderungen sollen diejenige Unterstützung erhalten, die sie für ein selbstbestimmtes Leben brauchen – das fordert der Artikel 19 der BRK. Dazu zählt zum Beispiel Persönliche Assistenz: Sie verspricht mehr Selbstbestimmung, eine bessere Lebensqualität und mehr Teilhabe. Doch stellen sich beim Leben mit Assistenz verschiedene Herausforderungen. Sie waren Thema der Luzerner Tagung zur Behindertenrechtskonvention am 10. November 2022 an der Hochschule Luzern (HSLU). Die Beiträge und Diskussionen zeichnen ein durchzogenes Bild für die Schweiz: Es liegt noch viel Arbeit vor uns, um allen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.

Keywords : Behinderung, Wohnen, Assistenz, Selbstbestimmung, Lebensqualität, Behindertenrechte / handicap , habitat, assistance, autodétermination, qualité de vie, droits des personnes handicapées

DOI : https://doi.org/10.57161/z2023-02-03

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 29, 02/2023

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René Stalder von der HSLU eröffnet die Tagung und leitet über zum ersten Input-Referat von Daniel Kasper und Jennifer Zuber. Sie ordnen den Begriff «Assistenz» ein und diskutieren, was Assistenz (nicht) ist. Die Referent:innen schlagen die fünf grossen «W» als Kriterium vor: Eine Person mit Beeinträchtigung entscheidet selbstbestimmt, wann , wie und wo sie welche Unterstützung von wem erhalten möchte. Nur wenn diese Umstände gegeben sind, kann von Assistenz gesprochen werden. Nach ihrer Definition bedeutet ein Leben mit Assistenz, dass Personen zu Arbeitgebenden werden und selbstbestimmte Entscheidungen treffen. Es reicht nicht aus, ein blosses Mitspracherecht zu haben. Deshalb entsprechen Heime mit institutionellen Strukturen nicht diesem Lebensmodell.

Für den zweiten Vortrag ergreift Erik Weber von der Philipps-Universität Marburg das Wort. Er wirft unter anderem die Fragen auf, welche Faktoren die Teilhabe von Menschen mit Unterstützungsbedarf erschweren und inwieweit diese Hindernisse durch Assistenz überwunden werden könnten. Als Beispiel nennt er die Umkehrung des Machtgefüges im Assistenzmodell: Mit Assistenz zu leben, heisst für Menschen mit Behinderungen, nicht länger Anweisungen entgegenzunehmen, sondern selbst Anweisungen zu geben – den eigenen Bedürfnissen entsprechend. Folglich lassen sich Assistenzpersonen von der Person mit Beeinträchtigung anleiten, wie sie am liebsten unterstützt werden. Diese Machtumkehr ist ein Spannungsfeld: Zwischen Unterstützung und Unterdrückung liegt ein schmaler Grat.

Die Teilnehmenden der Fachtagung diskutieren anschliessend in Input-Referaten und Workshops verschiedene Herausforderungen und Lösungsansätze rund um Assistenz, etwa zu den Themen «Assistenznehmende», «Assistenzdienste» oder «Digitale Assistenz». Als eine der grössten Herausforderungen des Assistenzmodells wird immer wieder die Finanzierung genannt. Zum Beispiel schildern mehrere Assistenznehmende, dass jeder Kanton selbst über die Höhe der Beiträge entscheide. Zudem kommt es immer noch vor, dass die Invalidenversicherung (IV) mehr Geld zahlt, wenn Menschen mit Behinderungen in einer Institution leben. Oft geht auch vergessen, dass ein Leben mit Assistenz einen administrativen Aufwand fordert. Wenn es möglich ist, übernehmen Menschen mit Behinderungen diese Aufgabe selbstständig. Manche Assistenznehmenden sind aber auf Unterstützungsdienste (z. B. Verein leben wie du und ich ), ihre Verwandten oder ihr sonstiges Umfeld angewiesen, die sie bei diesen Arbeiten unterstützen. Der Tenor in den Workshops ist eindeutig: Die IV legt das Leben mit Assistenz (zu) stark nach dem Vorbild eines Arbeitgebermodells aus, wenn sie die Höhe des Assistenzbeitrags bestimmt. Sie unterscheidet nicht, ob Assistenznehmende ihre Administration selbst erledigen oder diese an eine Drittperson weitergeben. Die Schwierigkeiten rund um die Finanzierung zeigt ein Beispiel aus Deutschland: Im Wohnprojekt MitLeben berichten Eltern, dass sie das Recht ihres Kindes auf den Assistenzbeitrag vor Gericht einklagen mussten.

Die Zusammenarbeit zwischen Assistenznehmenden und Assistenzpersonen kann herausfordernd sein. Menschen mit Assistenz schildern während der Workshops, dass sie das Spannungsfeld zwischen Abhängigkeit und Autonomie als schwierig empfinden. Um mit Assistenz leben zu können, müsse man sich auf seine Assistenzperson verlassen können, aber trotzdem selbstbestimmt bleiben. Es sei wichtig, auch Kontakt zu anderen Menschen als den Assistenzpersonen zu pflegen.

Oftmals ist es schwierig, überhaupt eine geeignete Assistenzperson zu finden: Es mangelt an Personen, die als Assistenz arbeiten wollen. Durch die enge Zusammenarbeit in den eigenen vier Wänden sind Sympathie und Vertrauen die Grundvoraussetzungen, damit eine Person überhaupt infrage kommt. Gleichzeitig erschwert dies das Finden einer passenden Assistenz. Aus diesem Grund sind verschiedene Plattformen entstanden, auf denen sich assistenzsuchende und assistenzgebende Personen finden können. Eines dieser Angebote ist die Assistenzplattform CléA .

Umgekehrt scheint es für Assistenzpersonen nicht immer einfach zu sein, sich auf die enge Zusammenarbeit einzulassen und gleichzeitig die nötige Professionalität zu wahren. Assistenzpersonen bewegen sich täglich im Spannungsfeld zwischen emotionaler Nähe und professioneller Distanz. Es ist nötig, sich in diesem Spannungsfeld zurechtzufinden, damit innerhalb des Arbeitsverhältnisses keine Grenzen überschritten werden. Weiter müssen Assistenzpersonen im Umgang mit der assistenznehmenden Person eine gewisse Wertfreiheit an den Tag legen können: Die eigenen Vorstellungen und Meinungen müssen zurückgestellt werden – die assistenznehmende Person entscheidet darüber, wie sie leben will und welche Unterstützung sie braucht. In diesem Zusammenhang taucht in den Workshops oft das sogenannte «Recht auf Verwahrlosung» auf: Einer Person zu assistieren heisst auch, akzeptieren zu können, wenn sich diese Person mit ihrem Verhalten selbst schädigt (z. B. durch Alkoholkonsum oder schlechte Ernährung). Diese Abgrenzung scheint Fachpersonen interessanterweise oftmals schwerer zu fallen als Menschen, die neu in den Assistenzberuf einsteigen. Da sich das Fachpersonal zum Beispiel bei Fragen zur Pflege besser auskennt, gestaltet sich die Selbstbestimmung für die Assistenznehmenden unter Umständen schwieriger.

Die Diskussionen in den Workshops zeigen: Das Assistenzmodell ist für Assistenznehmende und -gebende herausfordernd. Und doch kann es für beide Seiten auch bereichernd sein. Im Gegensatz zur Arbeit in einer Institution bleibt bei der Persönlichen Assistenz

Wiederholt kommt in den Workshops zur Sprache, dass die Assistenzpersonen als Brückenbauer:innen funktionieren, die den Menschen mit Unterstützungsbedarf mehr Teilhabe am sozialen Leben ermöglichen. Zudem hat der Assistenzberuf grosses Potenzial: Er bietet flexible Arbeitszeiten und eignet sich für Menschen mit verschiedenen Hintergründen; auch Quereinsteiger:innen, Studierende oder Menschen ohne Pflegeausbildung.

Für Menschen mit Unterstützungsbedarf bedeutet ein Leben mit Assistenz mehr Selbstbestimmung auf verschiedenen Ebenen. In ihrer neuen Rolle als Arbeitgebende können sie selbst entscheiden, wen sie einstellen wollen. Im Unterschied zum Leben in einer Institution können sie ihren Alltag selbst gestalten. Zudem bedeutet diese neue Rolle für viele Menschen auch ein «Sich-Lösen», nachdem sie bei den Eltern gelebt haben oder durch den Einfluss der Eltern in eine Institution gezogen sind. Eine enge Unterstützung durch eine persönliche Assistenz bedeutet keinen Verlust an Autonomie, im Gegenteil: Autonomes Handeln bedeutet, Aufgaben abgeben zu können. Das Mehr an Selbstbestimmung führt beim Leben mit Assistenz zu mehr Lebensqualität und zu mehr Teilhabe. Die Menschen können das tun, was ihnen Freude bereitet, und sie haben die Möglichkeit, Kontakt mit anderen Personen zu suchen.

Am Ende des Tages geht es für die Teilnehmenden zum Tagungsresümee. Der Cartoonist Carlo Schneider reflektiert anhand verschiedener Karikaturen den gesamten Tag. Die Zeichnungen sind alle amüsant, doch manche haben auch einen traurigen Kern: Ein selbstbestimmtes Leben ist in der Schweiz noch nicht für alle möglich. Um das Assistenzmodell zugänglicher zu machen, braucht es nicht nur eine bessere Finanzierungsstrategie, sondern auch mehr Menschen, die als Assistenzpersonen arbeiten wollen. Zusätzlich sollten Angebote zur Vernetzung und Beratung geschaffen werden, damit sich passende Assistenznehmende und Assistenzpersonen finden können.

Michael Blank
Praktikant (ehem.)

SZH/CSPS