«Die Welt ist nicht in Fächer geteilt»

Der digitale Transformationsprozess an einer Schule in Deutschland

Noëlle Fetzer und Helena Sallmann

Einleitung
Die Digitalität ist längst in Schulen angekommen. Doch oft verlaufen digitale Transformationsprozesse nur oberflächlich: Interaktive Tafeln ersetzen die Kreidetafel, Visualizer den Beamer und Schüler:innen arbeiten zeitweise mit Computern oder Tablets. Die grundlegenden Strukturen des Lehrens und Lernens bleiben jedoch häufig unverändert. Die Ernst-Reuter-Schule in Karlsruhe verbindet digitale Medien mit einer offenen Schulkultur, in der Schüler:innen, Lehrpersonen und das Umfeld gemeinsam Lern- und Gestaltungsprozesse entwickeln. In einem Gespräch mit dem Schulleiter der Ernst-Reuter-Schule, Micha Pallesche, erfahren wir, wie digitale Teilhabe funktioniert und wie an seiner Schule die Kultur der Digitalität gelebt wird.

Introduction
Le numérique a depuis longtemps fait son entrée dans les écoles. Cependant, les processus de transformation numérique ne sont souvent que superficiels : les tableaux noirs sont remplacés par des tableaux interactifs, les vidéoprojecteurs par des visualiseurs, et les élèves travaillent parfois sur des tablettes ou ordinateurs. Les structures fondamentales de l'enseignement et de l'apprentissage restent toutefois inchangées. L’école Ernst-Reuter à Karlsruhe allie les médias numériques à une culture scolaire ouverte, dans laquelle les élèves, le corps enseignant et le cadre déterminent ensemble des processus d’apprentissage et de conception. Lors d’un entretien avec Micha Pallesche, directeur de l’école, nous découvrons comment fonctionne la participation numérique et de quelle manière la culture du numérique est vécue dans son établissement.

Keywords: Schulentwicklung, digitale Transformation, Partizipation, inklusiver Unterricht, Unterrichtsmethode, selbstständiges Lernen, Kreativität / développement scolaire, transformation numérique, participation, enseignement inclusif, méthode pédagogique, apprentissage autonome, créativité

DOI: https://doi.org/10.57161/z2025-08-07

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 31, 08/2025

Creative Common BY

Von der Digitalisierung zur Kultur der Digitalität

Um die Herausforderungen der Digitalisierung zu verstehen, erwähnt Micha Pallesche, der Schulleiter der Ernst-Reuter-Schule, ein Modell des US-amerikanischen Bildungsforschers Ruben Puentedura (2009). Dieses Modell dient als Raster, um einzuordnen, wie tiefgreifend digitale Veränderungen im Unterricht stattfinden. Das SAMR-Modell unterscheidet vier Stufen:

  1. Substitution (Ersetzung): Analoge Werkzeuge werden durch digitale ersetzt, ohne dass sich die Aufgabe grundlegend ändert. Zum Beispiel schreiben Schüler.innen einen Text nicht mehr handschriftlich, sondern am Computer.
  2. Augmentation (Erweiterung): Digitale Werkzeuge bringen funktionale Verbesserungen. Beispielsweise erleichtert ein Textverarbeitungsprogramm mit Rechtschreibprüfung oder Kommentarfunktion die Arbeit.
  3. Modification (Modifikation): Aufgaben werden so umgestaltet, dass sie ohne digitale Technik kaum möglich wären. Zum Beispiel verfassen Schüler:innen gemeinsam einen Text in einem Cloud-Dokument und geben sich gegenseitig Feedback.
  4. Redefinition (Neudefinition): Es entstehen Lernaufgaben, die es ohne digitale Technologien gar nicht geben könnte. Beispielsweise erstellen Lernende ein multimediales Projekt oder sie treten in Austausch mit Menschen ausserhalb des Systems Schule.

Nach Micha Pallesches Erfahrung bewegen sich die meisten Schulen lediglich auf den ersten beiden Ebenen. Digitale Geräte sind zwar vorhanden, doch Lehr- und Lernsettings verändern sich kaum. Für eine echte Transformation müssen Schulen die höheren Stufen erreichen, um schliesslich den Übergang zu einer Kultur der Digitalität zu meistern.

Grundmerkmale der Kultur der Digitalität sind nach dem Kulturtheoretiker Felix Stalder (2016) die Gemeinschaftlichkeit, Referenzialität und Mehrdeutigkeit. Pallesche interpretiert diese in der schulischen Praxis als Partizipation, Ko-Kreation und Ergebnisoffenheit. Nur durch gemeinsames Arbeiten lassen sich komplexe Fragen der Gegenwart bearbeiten. Schulen müssten daher Räume schaffen, in denen Lernende ko-kreativ arbeiten können und Ergebnisse nicht von vornherein festgelegt sind. Neben diesen Grundmerkmalen gewinnen nach Pallesches Beobachtung weitere Faktoren an Bedeutung:

Zusammengenommen schaffen diese Faktoren ein neues Verständnis von Schule. Wie eine solche Lernkultur konkret aussieht, zeigt das Projekt «Themenorientiertes Arbeiten» (TheA) an der Ernst-Reuter-Schule. Ausgangspunkt sind übergreifende Themenfelder, die sich an den 17 Nachhaltigkeitszielen orientieren, wie etwa Energie, Wasser oder Wälder. Anstelle einer klassischen Fächertrennung werden die Inhalte der einzelnen Fächer diesen Themenfeldern zugeordnet. «Die Welt ist schliesslich nicht in Fächer geteilt», stellt Pallesche klar. Damit die Themen aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet werden können, sind die Unterrichtsstunden zu vierstündigen Blöcken gebündelt. Diese Struktur schafft Zeit und Raum, um sich intensiv mit einem Thema auseinanderzusetzen, fachliche Inhalte zu vernetzen und zugleich die Schwelle des Klassenzimmers zu überschreiten. So treten die Schüler:innen in Austausch mit Expert:innen, erforschen reale Probleme vor Ort oder laden externe Gäste in die Schule ein.

Ein anschauliches Beispiel ist das Thema «Das grüne Wunder Wald». Dabei arbeiten die Lernenden mit dem Forstamt zusammen, untersuchen den Wald aus naturwissenschaftlicher, gesellschaftlicher und künstlerischer Sicht. Anstelle von klassischen Prüfungen entstehen neue Formen der Leistungsmessung: Die Schüler:innen entwickeln konkrete Produkte – etwa selbst gebaute Modelle, Lernvideos oder Portfolios –, die ihr Verständnis und ihre Kompetenzen sichtbar machen. Auf diese Weise des Unterrichtens entstehen Lernräume, die Ko-Kreation, Ergebnisoffenheit und gesellschaftliche Relevanz fördern.

Micha Pallesche ist Schulleiter der Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule und Medienschule in Karlsruhe. Er absolvierte sein Studium an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe und vertiefte sich dort unter anderem in Medienpädagogik als Zusatzbereich. Über viele Jahre war er parallel zu seiner Lehrtätigkeit am Landesmedienzentrum Baden-Württemberg tätig. Seit 2020 arbeitet er an seiner Promotion an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe zum Thema «Transformationsprozesse in der Kultur der Digitalität».

Digitale Teilhabe: Mehr als Zugang

Durch Projekte wie TheA wird sichtbar, wie eine Kultur der Digitalität praktisch gelebt werden kann. Diese Lernkultur wirft zugleich die Frage auf, wer daran teilhaben kann. Digitale Transformation bedeutet nicht nur, neue Formen des Unterrichts anzuwenden, sondern eröffnet auch die Chance (und auch die Herausforderung), alle Beteiligten einzubeziehen. Genau hier setzt Pallesche an: Er versteht digitale Teilhabe nicht nur als technischen Zugang zu Geräten und Netzwerken. Teilhabe bedeutet mehr, als allen die gleichen Materialien oder Medien zur Verfügung zu stellen. Denn damit ist noch nicht gewährleistet, dass alle Lernende die Möglichkeiten nutzen können. Manche Kinder haben beispielsweise nie gelernt, zwischen Alternativen zu wählen oder eine Chance zu ergreifen, weil sie in ihrem Alltag keine Wahlmöglichkeiten hatten. Teilhabe wird möglich, wenn individuelle, subjektive und kognitive Voraussetzungen berücksichtigt werden.

Klassische Lehr- und Lernsettings berücksichtigen diese Voraussetzungen oftmals nicht. Digitale Teilhabe ist dann erreicht, wenn Schüler:innen sowohl Zugang zu Technologien als auch eine Auswahl an vielfältigen Lehr- und Lernsettings haben. Eine Schule sollte darum ein sowohl qualitativ als auch quantitativ vielfältiges Angebot haben, bei dem Schüler:innen die Möglichkeit haben, Anschlüsse zu finden und so teilhaben zu können. Ein Beispiel dafür ist ein Lernnachweis, bei dem eine TheA-Gruppe auf dem Karlsruher Stadtfest den schuleigenen Honig verkaufte. Als die Schüler:innen den Preis bestimmen wollten, zeigte sich im Gespräch mit dem Imker, dass ihre Vorstellungen nicht mit den tatsächlichen Kosten übereinstimmten. Die Schüler:innen machten sich also Gedanken über Märkte, Wertschöpfung und Konsum. Solche Situationen zeigen, dass Teilhabe entsteht, wenn der Unterricht an die Lebenswelt der Schüler:innen anschliesst.

Besonders für Kinder mit Lernschwierigkeiten ist es wichtig, Lernumgebungen so zu gestalten, dass sie sowohl kognitiv als auch kommunikativ anschlussfähig sind. Digitale Tools können dabei helfen, individuelle Zugänge zu schaffen – etwa durch visuelle Unterstützungen, adaptive Lernprogramme oder kollaborative Plattformen, auf denen Kinder in ihrem Tempo mitarbeiten können.

Wie dies konkret umgesetzt wird, schildert Pallesche anhand eines Beispiels aus dem naturwissenschaftlichen Unterricht: Eine Sonderpädagogin bereitet gemeinsam mit der Klassenlehrperson das Material so auf, dass Kinder mit Lernschwierigkeiten aktiv am Lernprozess teilnehmen können. In einem Physikprojekt zur Berechnung von Arbeit messen sie etwa die Masse von Körpern und die benötigte Kraft, während andere Schüler:innen die Formeln anwenden und Berechnungen durchführen. So entsteht gemeinsames Lernen, bei dem alle Kinder entsprechend ihren Möglichkeiten einen Beitrag leisten können.

Ähnlich funktioniert das inklusive Lernen auf dem schuleigenen Acker: Einige Kinder führen Messreihen durch, andere dokumentieren die Ergebnisse digital, und weitere arbeiten haptisch mit der Schaufel und bereiten das Messfeld vor. Durch diese Aufgabenteilung finden alle Kinder – unabhängig von ihren Lernvoraussetzungen – eine Rolle, in der sie aktiv teilhaben und Verantwortung übernehmen können.

Transformation braucht Haltung

Teilhabe geht über den Unterricht und die Schulentwicklung hinaus: «Sie ist ein zentraler Bestandteil der Demokratiebildung», so Pallesche. Kinder und Jugendliche erfahren, dass sie wirksam handeln, Verantwortung übernehmen und ihr Umfeld aktiv gestalten können. Pallesche findet: «Das soll eine Schule nach aussen ausstrahlen.»

Deswegen setzt die Ernst-Reuter-Schule auf partizipative Formate: In ‹Ideenbüros› können Schüler:innen als Ideengeber:innen die schulische Entwicklung mitgestalten. Im ‹Roten Salon› arbeiten Schüler:innen, Eltern, Lehrpersonen und externe Partner:innen der Gemeinde zusammen, um in gemischten Teams an Zukunftsfragen zu arbeiten. Wichtig ist dabei die Verbindlichkeit, wie Pallesche betont: «Partizipation ist nur dann erfolgreich, wenn sie verbindlich ist. Deswegen wird pro Treffen mindestens eine im ‹Roten Salon› entwickelte Idee umgesetzt.»

Doch wie lassen sich Veränderungen in der Schule etablieren? Für Pallesche ist die Haltung zentral. Lehrkräfte und Eltern bringen Überzeugungen aus ihrer eigenen Schulzeit mit – sogenannte beliefs –, die das Bildungssystem prägen und aufgebrochen werden müssen. Transformation beginne oft mit einer kleineren Gruppe von early adopters, die Neues ausprobieren und sichtbar machen. An der Ernst-Reuter-Schule gelang es, zunächst etwa zehn Prozent der Lehrpersonen für innovative Lernsettings zu gewinnen. Sie sammelten Impulse aus anderen Schulen und entwickelten eigene Konzepte. Durch Freiräume und Wertschätzung entstand Motivation und mit der Zeit schlossen sich weitere Kolleg:innen an. «Eine Schule wird vom Ich-Ort zum Wir-Ort, wenn Menschen erleben, dass ihre Partizipation Wirkung hat», betont Pallesche.

Von der Politik hingegen erwartet Pallesche wenig Impulse. Frage man nach Erlaubnis, bekomme man meist Antworten, die man nicht hören will. Sein Ansatz lautet daher: Spielräume nutzen und Veränderungen im gegebenen Rahmen wagen.

Für die Zukunft wünscht sich Pallesche eine Schule, die sich noch mehr öffnet: im Quartier, in der Stadt, in realen Kontexten. Lernen soll nicht im Klassenzimmer enden, sondern auch Räume der Unbestimmtheit einschliessen. Ziel sei es, Kinder und Jugendliche zu befähigen, mit Unsicherheit und Komplexität umzugehen – getragen von echter Teilhabe und einer starken Gemeinschaft.

Ein Bild, das Menschliches Gesicht, Lächeln, Person, Porträt enthält.

KI-generierte Inhalte können fehlerhaft sein.

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Noëlle Fetzer
Wissenschaftliche Mitarbeiterin

SZH/CSPS

noelle.fetzer@szh.ch

Helena Sallmann
ehem. Praktikantin

SZH/CSPS

Literatur

Puentedura, R. R. (2009). SAMR: A Brief Introduction. Hippasus. https://hippasus.com/rrpweblog/archives/2015/10/SAMR_ABriefIntro.pdf?utm_source=chatgpt.com [Zugriff: 16.09.2025].

Stalder, F. (2016). Kultur der Digitalität. Suhrkamp.