Die digitale Bildung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen fördern
Zusammenfassung
Digitale Medien können die Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen stärken. Gerade diese Menschen haben aber oft keinen Zugang zu digitalen Anwendungen. Gründe dafür sind unter anderem ein fehlender Internetzugang, geringe digitale Kompetenzen in ihrem Umfeld und fehlende medienpädagogische Angebote. Ein partizipatives Forschungsteam entwickelte den Medienbus als inklusiven Lernraum. Als mobiles Medienkompetenzzentrum bringt er digitale Bildung direkt zu Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Drei Schwerpunkte stehen im Fokus: neue Technologien kennenlernen, digital kreativ sein und sich sicher im Netz bewegen.
Résumé
Les médias numériques peuvent renforcer la participation et l’autonomie des personnes ayant une déficience intellectuelle. Or, ces personnes n’ont souvent pas accès aux outils numériques. Les raisons en sont notamment l’absence de connexion Internet, les faibles compétences numériques de leur entourage et le manque d’offres pédagogiques axées sur les médias. Une équipe de recherche participative a créé le concept de bus itinérant dédié aux médias comme espace d’apprentissage inclusif. En tant que centre mobile de compétences médiatiques, il apporte l’éducation numérique directement aux ayants une déficience intellectuelle. Trois axes principaux sont mis en avant : découvrir de nouvelles technologies, être créatifs dans le domaine numérique et naviguer sur Internet en toute sécurité.
Keywords: digitale Transformation, Partizipation, Empowerment, Selbstbestimmung, inklusive Medienpädagogik, digitale Kompetenz, partizipative Forschung / transformation numérique, participation, empowerment, autodétermination, pédagogie des médias inclusive, compétence numérique, recherche participative
DOI: https://doi.org/10.57161/z2025-08-03
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 31, 08/2025
WhatsApp, Wetter- und Dating-Apps oder Instagram, TikTok und Co.: Digitale Medien und smarte Geräte sind heute aus unserem Alltag kaum mehr wegzudenken. Jeden Tag verbringen wir mehrere Stunden im Internet. Über das Smartphone sind wir mit der ganzen Welt verbunden – praktisch überall und jederzeit. Wir können uns informieren, zur Unterhaltung Spiele spielen oder Filme schauen, mit anderen interagieren oder Neues lernen. Das alles ist nur ein Klick entfernt. Längst sind wir nicht nur Konsument:innen, sondern auch Produzent:innen.
Digitale Medien können die gesellschaftliche Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen fördern (Reber & Luginbühl, 2016; Bosse, 2021). Gerade diese Menschen sind jedoch häufig von digitaler Exklusion betroffen (Bosse & Haage, 2022; Kalcher & Kreinbucher-Bekerle, 2021; Bosse et al., 2019). Dies liegt unter anderem an fehlenden medienpädagogischen Angeboten, geringen digitalen Kompetenzen im sozialen und fachlichen Umfeld sowie an Bedenken hinsichtlich der Risiken. Die Behindertenrechtskonvention (BRK; Art. 9, Art. 21) und nationale digitale Strategien fordern einen gleichberechtigten Zugang zu Information und Kommunikation. Dabei und genauso für die digitale Inklusion spielen digitale Medien eine Schlüsselrolle (Hess-Klein & Scheibler, 2022). Der kritische Umgang mit digitalen Medien ist mittlerweile eine Grundkompetenz, die immer wichtiger wird – für alle.
Wichtige Fragen in diesem Zusammenhang sind: Wie nutzen Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen Apps, soziale Medien und das Internet? Wozu nutzen sie diese und welche Geräte verwenden sie? Welche Barrieren erleben sie? Und wie können sie gezielt unterstützt werden? Antworten auf diese Fragen liefert das partizipative Forschungsprojekt «Digit:Alle» der Ostschweizer Fachhochschule (OST) in Zusammenarbeit mit den beiden Praxispartnern infoeasy media und dem Ekkharthof – eine Institution für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen im Kanton Thurgau. Das Ziel des Forschungsprojekts war, ein Angebot zu entwickeln, das die digitalen Kompetenzen von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen fördert. Während des Projekts entstand die Idee, einen Bus als mobiles Medienkompetenzzentrum zu nutzen. Im November 2025 startet der Medienbus zu seiner ersten Tour. Das Thema: Desinformation – vom Gerücht bis zu Fake News.
Von Anfang an war das interdisziplinäre Forschungsteam inklusiv und partizipativ unterwegs, um nicht einfach über Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen zu forschen, sondern mit ihnen gemeinsam (Kalcher & Kreinbucher-Bekerle, 2021; Adler et al., 2023). In einem ersten Schritt wollte das Forschungsteam mehr darüber erfahren, welche Geräte Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen besitzen und nutzen und wofür. Zwölf Frauen und Männer, die im Ekkharthof leben oder arbeiten, nahmen teil an den Fokusgruppeninterviews (Flick, 2021). In Gruppen diskutierten die Teilnehmenden über ihre Mediennutzung und ihre Erfahrungen. Dabei zeigte sich schnell: Die Teilnehmenden interessieren sich sehr für Medien und digitale Anwendungen. Medien nutzen sie im Alltag unterschiedlich und meistens aktiv, indem sie beispielsweise Wetter- und Sprachapps abrufen, Onlinespiele zur Unterhaltung oder Ablenkung spielen, in WhatsApp-Gruppen kommunizieren und Musikvideos auf TikTok posten. Von Mobilität über Information und Bildung bis hin zu Freizeit, Wohnen und Arbeiten: Digitale Medien sind für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen in vielen Lebensbereichen wichtig. Auch nutzen sie eine Vielzahl an Geräten. Die Teilnehmenden nannten neben dem Smartphone den Fernseher, Radio und Laptop/Computer, aber auch Smart Speaker, Bluetooth-Musikboxen, Spielkonsolen, Schlaftracker und Smartwatches. Künstliche Intelligenz ist ebenfalls ein Thema, das sie immer stärker interessiert.
Selbstvertreterin: Zuerst hat mich Copilot[1] überfordert. Als ich ihn aber ein paar Mal etwas gefragt habe, ging es besser. Heute nutze ich ihn oft, damit Copilot mir schwierige Wörter erklärt. Zum Beispiel in der Ausbildung.
Trotz aktiver Mediennutzung gaben die Befragten an, dass sie regelmässig auf Unterstützung durch Bezugspersonen angewiesen sind, etwa um Geräte zu bedienen, Apps zu installieren oder technische Probleme zu lösen. Manche Anwendungen – wie zum Beispiel E-Banking oder KI-gestützte Tools – würden sie gerne nutzen. Es fehlen ihnen aber der Zugang sowie eine entsprechende Einführung und Begleitung. Die Befragten sind sich des Themas Sicherheit sehr bewusst und wissen um mögliche Gefahren im Internet. Sie erzählten von Hass-Kommentaren auf den sozialen Medien oder der Angst vor Abo-Fallen und Phishing-E-Mails. Themen waren auch Fake News und die Herausforderung, nicht zu viel Zeit am Smartphone zu verbringen. Als Barriere nannten sie unter anderem fehlenden oder eingeschränkten Zugang zum Internet. Zudem vermissen sie eine Begleitung bei technischen oder inhaltlichen Fragen – zum Beispiel, um Sicherheitseinstellungen anzupassen oder zu erkennen, ob eine Nachricht wahr ist oder nicht.
In einem zweiten Schritt definierte das Forschungsteam aufgrund der gesammelten Daten vier Personas, welche die genannten Bedürfnisse und Herausforderungen vereinen. In einem Co-Creation-Workshop entwickelte das Team mithilfe der Kreativitätstechnik Lego Serious Play[2] Ideen für medienpädagogische Angebote. Co-Creation wird in diesem Projekt als partizipative Methode eingesetzt, um gemeinsam mit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen medienpädagogische Angebote zu entwickeln, die auf ihre Lebenswelt und Bedürfnisse zugeschnitten sind. Co-Creation ermöglicht im Sinne von Deserti et al. (2022) soziale Innovation durch dialogische Gestaltung und gemeinsames Lernen in realen Kontexten. Eine Idee überzeugte am Ende am meisten: ein Bus, der als mobiles Medienkompetenzzentrum direkt zu den Menschen kommt.
Workshop-Teilnehmer: Die Angebote müssen direkt zu den Menschen. Das ist am besten. So können viel mehr Menschen einfacher dabei sein, als wenn sie irgendwohin gehen müssen. Der Bus kann dann auch in ein Pflegeheim. Auch ältere Menschen brauchen Unterstützung beim Digitalen.
Bisher gibt es erst wenige medienpädagogische Angebote für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Es fehlen mobile, niederschwellige und partizipative Lösungen, die sich direkt in die Lebenswelt dieser Personen integrieren lassen. Hier setzt der Medienbus an. Er bringt digitale Bildung direkt in die Institutionen. Im Fokus stehen drei Schwerpunkte:
Der Medienbus will Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen befähigen, kritisch und kompetent mit digitalen Medien umzugehen sowie den eigenen Medienkonsum zu reflektieren. Medienkompetenz ermöglicht eine selbstbestimmte digitale Teilhabe und mehr Chancengleichheit (Zorn et al., 2019). Der Medienbus setzt auf Empowerment, indem Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen nicht nur die medienpädagogischen Angebote mitentwickeln, sondern auch selbst zu Mediencoachs werden. Sie sollen dank der medienpädagogischen Spuren selbstbestimmt neues Wissen aufbauen. Ziel ist, dass immer etwas zurückbleibt, wenn der Medienbus wieder abgefahren ist. Das kann zum Beispiel ein Video mit Tipps zum Umgang mit sozialen Medien sein.
Letztlich will der Medienbus aber auch Fachpersonen und Angehörige bei der Medienbegleitung unterstützen. Institutionen sind heute mit einer rasanten technologischen Entwicklung konfrontiert. Medienbildung und Medienbegleitung werden immer wichtiger. Der Medienbus bietet medienpädagogische Angebote, die an die Bedürfnisse und den Alltag ihrer Klient:innen angepasst sind.
Stanko Gobac (Ekkharthof, Vorsitzender der Institutionsleitung): Inklusion beginnt mit Zugängen – auch digitalen. Unser Medienbus fährt los, wo andere stehenbleiben. Denn wer Teilhabe will, muss sich auf den Weg machen.
Die erste Fahrt unternimmt der Medienbus im November 2025 zum Thema Desinformation. Absichtlich verbreitete Falschinformationen im Netz nehmen zu, gerade in Zeiten globaler Unsicherheit und politischer Spannungen. Eine Studie des Massachusetts Institute of Technology zeigt, dass sich Fake News auf X (früher Twitter) rund sechs Mal schneller verbreiten als eine wahre Nachricht (Vosoughi et al., 2018). Es ist wichtig zu wissen, welche Strategien dahinterstecken und wie man sie erkennen kann. Der Medienbus will die Teilnehmenden für die verschiedenen Formen von Desinformation sensibilisieren und ihnen zeigen, wie sie Fake News besser erkennen, sie einschätzen und mit ihnen umgehen können.
So funktioniert der Medienbus
Eine Institution bestellt den Medienbus. In einem Kick-off-Gespräch werden die medienpädagogischen Bedürfnisse und Wünsche geklärt. Anschliessend bereitet das Medienbus-Team die Inhalte vor. Ein wichtiger Punkt ist die Ausbildung der Mediencoachs nach dem Peer-Ansatz, weil jeweils Medienexpert:innen in der Institution ausgebildet werden. Je nach Wunsch hält der Medienbus für einen Tag oder länger bei der Institution. Wenn er weiterfährt, bleiben Spuren zurück – zum Beispiel in Form von Tipps und Tricks oder Lernvideos.
Mehr Informationen unter https://medienbus.ch/
Andrea Sterchi St. Gallen | Prof. Dr. Selina Ingold Institut für Innovation, Design und Engineering Ostschweizer Fachhochschule St. Gallen | Corinne Dickenmann Institut für Innovation, Design und Engineering Ostschweizer Fachhochschule St. Gallen |
Adler, J., Wohlgensinger, C., Hanny, U., Ladner, P., Rutishauser, S., Sennhauser, A., Strolz, S. & Zingg, K. (2023). «Die Mischung macht’s!»: Gründe, Herausforderungen und Gelingensbedingungen partizipativer Forschung. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 29 (4), 20–26. https://doi.org/10.57161/z2023-04-04
Bosse, I. (2021). Diskussionsfelder der Medienpädagogik: Medien und Inklusion. In U. Sander, F. von Gross & K.-U. Hugger (Hrsg.), Handbuch Medienpädagogik (S. 723–734). Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-25090-4_86-2
Bosse, I. & Haage, A. (2022). Keine politische Bildung ohne Medien. In J. Jöhnck & S. Baumann (Hrsg.), Politische Bildung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (S. 152–159). Wochenschau.
Bosse, I., Schluchter, J.-R. & Zorn, I. (Hrsg.) (2019). Handbuch Inklusion und Medienbildung. Beltz Juventa.
Deserti, A., Real, M. & Schmittinger, F. (Eds.) (2022). Co‑creation for Responsible Research and Innovation: Experimenting with Design Methods and Tools. Springer.
Flick, U. (2021). Qualitative Sozialforschung: Eine Einführung. Rowohlt Taschenbuch.
Hess-Klein, C. & Scheibler, E. (2022). Aktualisierter Schattenbericht. Bericht der Zivilgesellschaft anlässlich des ersten Staatenberichtsverfahrens vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Editions Weblaw. https://www.inclusion-handicap.ch/admin/data/files/asset/file_de/699/schattenbericht_de_mit-barrierefreiheit-(1).pdf?lm=16462126333
Kalcher, M. & Kreinbucher-Bekerle, C. (2021). Die Nutzung digitaler Medien von Menschen mit Lernschwierigkeiten in der Behindertenhilfe. Ergebnisse eines partizipativen Forschungsprojekts. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, 1–16. https://doi.org/10.21240/mpaed/00/2021.02.09.X
Reber, C. & Luginbühl, M. (2016). Inklusion ohne digitale Medien ist nicht mehr denkbar. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 22 (4), 13–18.
Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention, BRK) vom 13. Dezember 2006, durch die Schweiz ratifiziert am 15. April 2014, in Kraft seit dem 15. Mai 2014, SR 0.109.
Vosoughi, S., Roy, D. & Aral, S. (2018). The spread of true and false news online. Science, 359 (6380), 1146–1151. https://www.science.org/doi/10.1126/science.aap9559
Zorn, I., Schluchter, J.-R. & Bosse, I. (2019). Theoretische Grundlagen inklusiver Medienbildung. In I. Bosse, J.-R. Schluchter & I. Zorn (Hrsg.), Handbuch Inklusion und Medienbildung (S. 16–33). Beltz Juventa.
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