Der innere sichere Ort: eine Ressource für Kinder und Jugendliche in herausfordernden Situationen

Eine partizipative Umsetzung wissenschaftlicher Ergebnisse

Dilan Aksoy, Céline A. Favre und Wassilis Kassis

Zusammenfassung
Viele Kinder und Jugendliche in der Schweiz erleben Formen von Gewalt zu Hause und in der Schule. Der vorliegende Artikel stellt die Erkenntnisse eines AGORA-Projekts des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) vor. Dieses verfolgte das Ziel, Jugendliche aktiv in den Sensibilisierungsprozess für Gewalterfahrungen einzubeziehen. Im Mittelpunkt des Projektes stehen ein partizipativ entwickeltes Video über den «inneren sicheren Ort» sowie eine Fantasiereise. Mit dem «inneren sicheren Ort» handelt es sich um einen mentalen Rückzugsort zur Emotionsregulation und Resilienzförderung. Die achtsamkeitsbasierte Intervention bietet Kindern und Jugendlichen einen niedrigschwelligen Rückzugsort und ermöglicht emotionale Sicherheit, Zugehörigkeit und Selbstregulation.

Résumé
En Suisse, de nombreux enfants et jeunes sont confrontés à des manifestations de violence à la maison et à l’école. Cet article présente les résultats d’un projet AGORA du Fonds national suisse (FNS). Ce projet avait pour objectif d’impliquer activement les jeunes dans le processus de sensibilisation aux expériences de la violence. Le projet est articulé autour d’une vidéo développée de manière participative sur le « lieu sûr intérieur » et d’un voyage imaginaire. Le « lieu sûr intérieur » est un lieu de repli mental pour la régulation des émotions et la consolidation de la résilience. L’intervention basée sur la pleine conscience offre aux enfants et aux jeunes un lieu de refuge à portée de main et permet la stabilité émotionnelle, le sentiment d’appartenance et l’autorégulation.

Keywords: Achtsamkeit, zwischenmenschliche Beziehung, sozial-emotionale Entwicklung, Resilienz, Intervention, Video / pleine conscience, relation interpersonnelle, développement socio-émotionnel, résilience, intervention, vidéo

DOI: https://doi.org/10.57161/z2025-06-02

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 31, 06/2025

Creative Common BY

Einleitung

Die Familie gilt allgemein als sicherer Ort. Studien zeigen aber, dass 19 bis 25 Prozent der Jugendlichen in der Schweiz schwere körperliche Misshandlungen durch die Eltern erfahren und mehr als die Hälfte aller Jugendlichen psychische Gewalt erlebt (Enzmann et al., 2018; Aksoy et al., 2023). Diese Erfahrungen beeinträchtigen nachweislich die emotionale, soziale und schulische Entwicklung von Jugendlichen und können zu Aggressionen, Depressionen, Angstzuständen oder Dissoziation führen (Cicchetti & Toth, 2015; Moylan et al., 2010; Kitzmann et al., 2003).

In der Schule können weitere Belastungsfaktoren dazukommen wie Mobbing, Leistungsdruck, Ausgrenzung und Diskriminierung. Wirken diese Faktoren neben den Gewalterfahrungen noch zusätzlich auf die Schüler:innen, liegt es auf der Hand, dass viele Kinder und Jugendliche in der Schule ein auffälliges Verhalten zeigen. Plötzlich erscheint es als grosse Zumutung, von diesen Jugendlichen zu erwarten, dass sie trotz ihrer massiven Gewalterfahrungen pünktlich in der Schule erscheinen, sich konzentrieren, gute Leistungen erbringen, kooperieren, sich sozial regulieren und Konflikte friedlich lösen sollen.

Die Schule ist eine der stabilen Institutionen im Leben von Kindern und Jugendlichen mit belastenden Erfahrungen – und damit ein Ort, der Resilienz, Beziehungssicherheit und Neuorientierung fördern kann (Listosella et al., 2024). Es ist unsere Aufgabe als Lehr- und Fachpersonen sowie als Vertretende der Bildungswissenschaft und -politik, Schüler:innen dabei zu unterstützen, ihre sozialen und emotionalen Kompetenzen zu entwickeln (Durlak et al., 2011). Dies ist jedoch nur möglich, wenn der Fokus nicht allein darauf liegt, dass Kinder und Jugendliche eine gewisse Leistung erbringen müssen. Vielmehr sollen sie lernen, Beziehungen zu gestalten und Emotionen auszudrücken. Lehr- und Fachpersonen müssen emotional verfügbar und ansprechbar sein, damit Jugendliche wichtige korrektive Erfahrungen machen können – also positive Erlebnisse, die sich von früheren, meist belastenden Beziehungserfahrungen unterscheiden (Wilson-Ching & Berger, 2024). Das System Schule und alle sich darin befindenden Akteur:innen sollten eine achtsame Haltung gegenüber den biografischen Belastungen der Jugendlichen einnehmen, ohne sie zu stigmatisieren, pathologisieren oder gar zu retraumatisieren (Koslouki & Chafouleas, 2022).

Die Schule kann Kindern und Jugendlichen als äusserer sicherer Ort Ressourcen und Orientierung bieten (Favre et al., 2024). Zusätzlich brauchen sie eigene Ressourcen, um mit Belastungen umzugehen und emotionale Stabilität zu entwickeln (Baierl & Frey, 2014). Studien zeigen (vgl. Übersichtsarbeit Hölzel, 2022), dass regelmässige achtsamkeitsbasierte Interventionen in der Schule die Emotionsregulation von Kindern und Jugendlichen signifikant verbessern, ihren Stress reduzieren und sich positiv auf ihr Sozialverhalten und ihre kognitive Leistungsfähigkeit auswirken. Ein anerkanntes und validiertes traumasensibles Konzept, um die Ressourcen von Schüler:innen zu stärken, ist der innere sichere Ort – ein mentaler Rückzugsort zur Emotionsregulation (Reddemann, 2016; Valtl, 2021).

Projekt

Unser AGORA-Projekt Co-Creating Awareness and Fostering Action on Violence-Resilience basiert auf dem Konzept des inneren sicheren Ortes. Jugendliche mit Gewalterfahrungen sollen sich einen sicheren Raum schaffen, in den sie sich im Schulalltag und zu Hause zurückziehen können. Diesem Vorhaben lag die folgende Fragestellung zugrunde: Wie können pädagogische Fachkräfte den inneren sicheren Ort als Ressource nutzen, um die Resilienz und Selbstregulation von Kindern und Jugendlichen in herausfordernden Situationen zu stärken?

In einem ersten Schritt wurden Forschungsergebnisse zum Thema Elterngewalt und Resilienz integriert in Workshops des National Coalition Building Institute (NCBI)[1]: Keine Daheimnisse. Die Workshops richten sich an Jugendliche aus verschiedenen Bildungs- und Betreuungskontexten sowie an Eltern, Fachkräfte und Sozialarbeitende. Gemeinsam mit den Jugendlichen wurden wissenschaftliche Erkenntnisse umgesetzt, das Bewusstsein für Resilienz gestärkt und der Zugang zu Unterstützungsangeboten erleichtert.

In einem zweiten Schritt vor Ort arbeiteten Jugendliche zusammen mit Illustratorinnen und Sozialarbeitenden an jugendgerechten Videoformaten zum Thema Elterngewalt und Resilienz. Die Illustratorinnen führten Interviews, in denen die Jugendlichen von ihrem inneren sicheren Ort berichten, den sie während einer geführten Reise im Workshop entdeckt hatten. Die Inhalte der Interviews wurden anschliessend in den Videos kreativ umgesetzt. Es wurden insgesamt drei Videos erstellt: zwei aufeinander aufbauende Videos, die resilienzfördernde Faktoren im Gaming-Format darstellen, sowie ein Video zum inneren sicheren Ort. Letzteres wird in diesem Artikel vorgestellt.

Das Video beginnt mit einer Frage an die Jugendlichen: «Welches Fantasietier möchtest du für einen Tag sein?» Die Frage dient dazu, die Jugendlichen im Video zu anonymisieren, denn sie werden als ihr gewähltes Fantasietier dargestellt. Im ersten Teil des Videos schildern die Jugendlichen, wie ihre inneren sicheren Orte aussehen. Anschliessend werden diese verschiedenen sicheren Orte der Jugendlichen animiert gezeigt, um zu verdeutlichen, wie vielfältig und individuell die inneren Schutzräume sein können. Zum Schluss des Videos reflektieren die Jugendlichen ihre Emotionen, die mit dem eigenen inneren sicheren Ort verbunden sind.

Eingebettetes eigenes YouTube Video: Mein innerer sicherer Ort

Um die Ergebnisse aus den Workshops nachhaltig zu nutzen, entwickelte das Forschungsteam eine Fantasiereise zum inneren sicheren Ort (angelehnt an Reddemann, 2016 & Opferhilfe Berlin, o. J.). Diese Fantasiereise greift die im Video dargestellten Erfahrungen und Ressourcen der Jugendlichen auf und ermöglicht es, das Konzept des inneren sicheren Ortes als niedrigschwelliges Ritual in den Schulalltag oder in pädagogische Settings zu integrieren. Nachfolgend wird gezeigt, wie die Fantasiereise und das Video in einer Klasse verwendet werden können.

Achtsamkeitsbasierte Intervention: eine Fantasiereise zum inneren sicheren Ort

Zu Beginn wird die Fantasiereise in der Klasse eingeführt und regelmässig wiederholt, um die Selbstregulation der Kinder und Jugendlichen zu fördern. Mit der Zeit kann sie als festes Ritual etabliert werden, das die Schüler:innen selbst initiieren und an ihre Bedürfnisse anpassen. Die Fantasiereise eignet sich besonders für Jugendliche im Zyklus 3 und kann in drei Kontexte eingebettet werden:

Vor der ersten Durchführung erklärt die Lehrperson, dass der innere sichere Ort ein mentaler Rückzugsort ist, der den Schüler:innen Ruhe und Schutz bietet. Anschliessend liest sie den Text der Fantasiereise langsam vor, idealerweise mit ruhiger und entspannender Musik im Hintergrund. Die Fantasiereise beschreibt eine mentale Reise auf einer Wolke an einen inneren sicheren Ort. Im Anschluss an die Fantasiereise kann die Lehrperson das oben erwähnte Video zeigen, welches das Gemeinschaftsgefühl der Klasse stärken soll. Es vermittelt den Jugendlichen, dass sie mit ihren Erfahrungen nicht allein sind, was ihnen ein Gefühl der Zugehörigkeit und emotionalen Sicherheit geben soll.

Anschliessend an die Fantasiereise und das Video kann die Lehrperson den Jugendlichen optional die folgenden Diskussionsfragen stellen:

Die Fragen sollen den Austausch unter den Jugendlichen fördern sowie für das Thema sensibilisieren. Darüber hinaus sollen die Jugendlichen erkennen, wann und wie sie die Fantasiereise in der Schule bewusst als Werkzeug zur emotionalen Stabilisierung nutzen können. Zudem reflektieren die Schüler:innen über unterstützende innere Helfer:innen (Görges & Hantke, 2012). Diese werden im therapeutischen Kontext eingesetzt: Sie sind verkörperte, unterstützende Teile des Selbst, die als weise Ratgeber, Heldinnen, Tiere oder Fantasiegestalten erscheinen können, um die Selbstfürsorge zu fördern (ebd.).

Diskussion und Ausblick

Das Projekt zeigt, auf welche Weise achtsamkeitsbasierte Interventionen wie die Fantasiereise zum inneren sicheren Ort im schulischen Alltag umgesetzt werden können, um die Resilienz und emotionale Sicherheit von Jugendlichen zu stärken. Die partizipative Entwicklung und die aktive Einbindung der Jugendlichen erweisen sich als zentrale Faktoren dafür, dass die Intervention von den Schüler:innen akzeptiert wird und wirksam ist. Chancen bestehen darin, dass die Intervention flexibel an unterschiedliche Altersgruppen und schulische Kontexte angepasst werden kann. Herausfordernd bleibt jedoch die nachhaltige Verankerung im Schulalltag, da der Erfolg der Intervention von den zeitlichen Ressourcen und der Haltung der Lehrpersonen abhängt.

Die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen, dass Interventionen wie die Reise zum inneren sicheren Ort regelmässig wiederholt und sensibel begleitet werden müssen, um langfristige Effekte zu erzielen. Weiterer Handlungsbedarf besteht darin, die Resilienzförderung strukturell in den Schulen zu verankern und Lehr- und Fachpersonen kontinuierlich dafür zu qualifizieren. Schulen sollten daher Rahmenbedingungen schaffen, die Beziehungsarbeit und Achtsamkeit ermöglichen, um die emotionale Entwicklung von Jugendlichen nachhaltig zu unterstützen. Dies ist auch die Aufgabe Pädagogischer Hochschulen, die ihre angehenden Lehrpersonen entsprechend ausbilden müssen.

Dr. phil. Dilan Aksoy
Postdoktorandin

Institut Forschung und Entwicklung

PH FHNW

dilan.aksoy@fhnw.ch

Prof. Dr. Céline Anne Favre
Professur für Entwicklung und Befähigung

Institut Spezielle Pädagogik und Psychologie

PH FHNW / HfH, Zürich

celineanne.favre@fhnw.ch

Prof. Dr. Wassilis Kassis
Leitung Institut Forschung und Entwicklung

PH FHNW

wassilis.kassis@fhnw.ch

Literatur

Aksoy, D. (2023). Non-dichotomous violence resilience as a dynamic, adversity- and context-dependent construct: Person-centered conceptualizations for identifying vulnerable subgroups and developing targeted interventions. Doctoral dissertation, Faculty of Arts and Social Sciences of the University of Zürich.

Baierl, M. & Frey, K. (2014). Praxishandbuch Traumapädagogik – Lebensfreude, Sicherheit und Geborgenheit für Kinder und Jugendliche. Vandenhoeck und Ruprecht.

Cicchetti, D. & Toth, S. L. (2005). Child maltreatment. Annual Review of Clinical Psychology, 1, 409–438. https://doi.org/10.1146/annurev.clinpsy.1.102803.144029

Durlak, J. A., Weissberg, R. P., Dymnicki, A. B., Taylor, R. D. & Schellinger, K. B. (2011). The impact of enhancing students’ social and emotional learning: A meta-analysis of school-based universal interventions. Child Development, 82 (1), 405–432.

Enzmann, D., Kivivuori, J., Marshall, I. H., Steketee, M., Hough, M. & Killias, M. (2018). A global perspective on young people as offenders and victims: First results from the ISRD3 study. Springer International Publishing. https://doi.org/10.1007/978-3-319-63233-9

Favre, C. A., Kassis, W., Arnold, J. & Aksoy, D. (2024). The cycle of violence: Effects of violence experience, behavior, and peer rejection on resilience pathways of adolescents with parental physical abuse. Frontiers in Education, 9, Article 1359558. https://doi.org/10.3389/feduc.2024.1359558

Görges, H. J. & Hantke, L. (2012). Handbuch Traumakompetenz: Basiswissen für Therapie, Beratung und Pädagogik. Junfermann.

Hölzel, B. (2022). Achtsamkeit in der Bildung: Empirische Befunde und neuronale Wirkmechanismen. In D. P. Bogner & M. Harant (Hrsg.), Bildung und Achtsamkeit (S. 75–93). Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-37473-0_5

Kitzmann, K. M., Gaylord, N. K., Holt, A. R. & Kenny, E. D. (2003). Child witnesses to domestic violence: a meta-analytic review. Journal of consulting and clinical psychology, 71 (2), 339.

Koslouski, J. B. & Chafouleas, S. M. (2022). Key considerations in delivering trauma-informed professional learning for educators. Frontiers in Education, 7, Article 853020. https://doi.org/10.3389/feduc.2022.853020

Moylan, C. A., Herrenkohl, T. I., Sousa, C., Tajima, E. A., Herrenkohl, R. C. & Russo, M. J. (2010). The effects of child abuse and exposure to domestic violence on adolescent internalizing and externalizing behavior problems. Journal of family Violence, 25, 53–63. https://doi.org/10.1007/s10896-009-9269-9

Opferhilfe Berlin (o. J.). Der sichere innere Ort. https://www.opferhilfe-berlin.de/wp-content/uploads/2021/02/der_sichere_innere_ort.pdf [Zugriff: 08.07.2025].

Reddemann, L. (2016). Imagination als heilsame Kraft. Ressourcen und Mitgefühl in der Behandlung von Traumafolgen. Klett-Cotta.

Valtl, K. (2021). Achtsamkeit und sozial-emotionales Lernen. Verbindungslinien in Forschung, Schule und LehrerInnenbildung. In T. Iwers & C. Roloff (Hrsg.), Achtsamkeit in Bildungsprozessen. Professionalisierung und Praxis (S. 31–48). Springer.

Wilson-Ching, M. & Berger, E. (2024). Relationship building strategies within trauma informed frameworks in educational settings: a systematic literature review. Current Psychology, 43 (4), 3464–3485.

  1. Wir bedanken uns an dieser Stelle herzlich beim NCBI-Team, den Illustratorinnen sowie allen teilnehmenden Jugendlichen der «Keine Daheimnisse»-Workshops. Euer Engagement, eure Offenheit und eure Kreativität haben das Projekt erst möglich gemacht und einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, Kinder und Jugendliche für den Umgang mit Gewalt zu sensibilisieren und zu stärken.